„und in unserer Generation entstand die
sozialpädagogische Bewegung, vor allem nach dem Krieg, mit ihrer
Bemühung um alle, die im Staube leben, die wirtschaftlich wie
geistig Schwachen“
. [Klaus-Peter Horn]
Editorial Note
Siehe
Jugendwohlfahrtsgesetz, § 3 (1)
[Klaus-Peter Horn]
Editorial Note
Schleiermacher, 1826/1957, S.
31 [Klaus-Peter Horn]
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[033:1] Das Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg war nicht nur durch die
Versuche, allgemeine Erziehungstheorien zu konzipieren, ausgezeichnet, nicht nur
durch Schulreform, Schulpolitik, und deren reflektierte Verarbeitung in der
Theorie, sondern auch dadurch, daß dem Erziehungssystem ein neuer Bereich
hinzugewonnen wurde: die Jugendhilfe oder – mit dem alten Ausdruck – die
Jugendwohlfahrt. Der Begriff der pädagogischen Reformbewegung und die an sie
sich anschließende pädagogische Theorie Herman Nohls kennen diesen Komplex pädagogischer Praxis
deshalb auch nicht nur als ein am Rande hinzugefügtes, sondern als ein
konstitutives Element dessen, was als Erziehungswirklichkeit in dem
pragmatischen Sinne dieses Ausdrucks bezeichnet wurde. Erich Wenigers Versuche einer theoretischen
Durchdringung dieses Bereichs erwachsen ganz aus dieser geschichtlichen
Konstellation.
[033:2] Bei der Einführung des Ausdrucks
„Sozialpädagogik“
in die erziehungswissenschaftliche Debatte waren verschiedene Interessen
wirksam. Der Anlaß für Erich
Weniger, diesen Ausdruck und eine an ihn sich anschließende Theorie
in den Umkreis seiner erziehungswissenschaftlichen Reflexionen mit
einzubeziehen, lag weder in den Philosophemen Paul Natorps noch in den Bedeutungsanalysen des Wortes
„sozial“
, die im Zusammenhang der sozialen Frage
aufgetaucht und im Hinblick auf die Pädagogik expliziert worden waren. Er lag
vielmehr in dem Auftauchen eines Komplexes neuer pädagogischer Tatbestände,
deren institutionellen Niederschlag das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz
darstellte.
[033:3] Theorie nun – so meint Weniger – habe zunächst zu ermitteln, ob es sich hier nur um eine
rechtliche Zusammenfügung pädagogischer Einrichtungen und Maßnahmen handelt oder
ob dieser Zusammenschluß in einem Rechtsinstitut nicht auch pädagogisch zu
legitimieren wäre. Eine solche Legitimation aber könne nur dann gelingen, wenn
der in Rede stehende Praxisbereich als pädagogische Antwort auf ein bestimmtes,
durch die gesellschaftliche Entwicklung hervorgetretenes Problem zu verstehen
sei, wenn ihm eine identische Aufgabe bzw. ein identisches Aufgabenbewußtsein
zugrunde liege. Die geschichtliche und sachliche Heterogenität der verschiedenen
im Jugendwohlfahrtsgesetz zusammengeschlossenen Erziehungsfelder
bereitet indessen solchem Bemühen einige Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten
erhöhten sich angesichts der Tatsache, daß es eben keinen einheitlichen Gebrauch
des Ausdrucks
„Sozialpädagogik“
gab, ein Umstand, der auch
heute noch die Sachdiskussionen erschwert. So be|a 224|zeichnete z. B. Natorp seine pädagogisch-kritizistische allgemeine Erziehungstheorie als Sozialpädagogik; desgleichen
nahmen Theorien, die die sozialen Aspekte des Erziehungsprozesses betonen
wollten, diesen Ausdruck für sich in Anspruch; darin folgten ihnen
gruppenpädagogische Ansätze im Bereich der Schultheorie, die
Einheitsschulbewegung, die Jugendpflege, die Jugendfürsorge, schließlich auch
bestimmte Aspekte des Berufsbildungswesens. Der damals wie heute immer wieder
unternommene Versuch, die Gleichheit des Namens auf sachliche Identität dadurch
zurückzuführen, daß man als Gegenstand der Sozialpädagogik das Soziale im
Erziehungsprozeß bestimmte, konnte und kann nicht befriedigen. Dies gilt zumal,
wenn die entscheidenden Formeln, in denen jene Versuche gipfeln –
„Erziehung für und zur Gesellschaft, durch die
Gesellschaft und in ihr, Erziehung ... der Gesellschaft selbst“
1
1Aloys
Fischer, Das Verhältnis der Jugend zu den sozialen Bewegungen und
der Begriff der Sozialpädagogik, in: Leben und Werk, hrsg. von K.
Kreitmair, Bd. III/IV, München o. J., S. 206.
– keine Möglichkeit genauerer Distinktion mehr lassen; denn welche
pädagogischen Prozesse ließen sich nicht in dieser Formel unterbringen?
[033:4] Weniger hat sich daher
von vornherein entschieden von solchen Versuchen zu distanzieren gesucht und –
vor allem in Weiterführung der theoretischen Arbeiten Nohls zur Jugendwohlfahrt – einen anderen Weg
eingeschlagen, bei dem es ihm weniger um das Etablieren eines systematischen
Terminus als vielmehr um die Aufhellung eines pädagogisch-geschichtlichen
Phänomens ging. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist daher die Tatsache, daß in
dem auf den Ersten Weltkrieg folgenden Jahrzehnt zunehmend derjenige Bereich
pädagogischer Praxis sich selbst als
„Sozialpädagogik“
bezeichnete, der – wenn auch in sich keineswegs homogen – um den Begriff der
Jugendwohlfahrt sich gruppierte. Die im Bereich dieser Praxis auftauchende
emphatische Bezeichnung
„Sozialpädagogische Bewegung“
ließ überdies vermuten, daß es sich nicht um eine zufällige Wortwahl handelte, sondern in ihr eine Gemeinsamkeit mindestens der praktischen Intentionen sich ausdrückte.
[033:5] Theorie der Sozialpädagogik heißt deshalb zunächst: historische Analyse
dieser
„Bewegung“
. Dabei zeigt sich, daß die Sozialpädagogik
ein besonders interessanter Gegenstand erziehungsgeschichtlicher Betrachtung
ist, und zwar deshalb, weil sie als Bereich der Erziehungspraxis sich nicht in
die historische Kontinuität der geschichtlichen Veränderung einer pädagogischen
Institution einfügen läßt – wie etwa die neueren Entwicklungen des Schulwesens
in innerer und äußerer Schulreform –, sondern weil es sich hier um ein neues
Motiv der Erziehungsgeschichte handelt, dessen institutionelle Konkretionen
nicht aus pädagogischer Überlieferung, sondern nur aus aktuellen sozialen
Umwälzungen zu verstehen sind. Seine sozialpädagogischen Erörterungen nimmt
Weniger daher von Anfang an
im Lichte einer Deutung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung vor.
[033:6] Für ein Denken, das an die Terminologie moderner Sozialwissenschaft
gewöhnt ist, überraschen die Begriffe, mit deren Hilfe Weniger versucht, diesen soziologischen Aspekt
der pädagogischen Problematik zu erfassen: die Begriffe
„Volks|a 225|zerstörung“
und
„erneuerte Volksordnung“
. Obwohl
der normative Anspruch, der diesen Begriffen innewohnt, kaum zu übersehen ist,
und obwohl überdies ihre ideologisch-faschistische Belastung die Interpretation
erschwert, wäre es falsch, sie so zu verstehen, als seien sie der unkritische
Ausdruck eines romantisch-irrationalistischen Gesellschaftsbildes. Vielmehr
präzisieren beide sich erst unter zwei anderen leitenden Gesichtspunkten, die
sich aus dem geschichtlichen Prozeß des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts für
Weniger ergeben: das
Pluralistisch-Werden der Gesellschaft und der Selbstanspruch eines demokratisch
verfaßten Staates.
„Volkszerstörung“
erscheint so als der emphatische Ausdruck für die
Tatsache, daß die mit den großen gesellschaftlichen Veränderungsvorgängen
aufgegebenen Probleme einer sozialen Um- und Neuordnung nicht gelöst, vielmehr
immer wieder verfehlt wurden. Die Ordnungen der ständischen Überlieferung hätten
ihre volkserzieherische Kraft verloren oder sich vollends aufgelöst, eine neue
Ordnung sei noch nicht erreicht, die Aufgabe des gesellschaftlichen Umbaues noch
unbewältigt.
[033:7] Dieser
„universale Zusammenhang der
Volkszerstörung und der noch fehlenden Volksordnung“
2
2Erich
Weniger, Jugendpflege und Jugendführung als sozialpädagogische
Aufgaben, in: Die Erziehung, 3. Jg. 1927/28, S. 146.
zeigte seine gesamtgesellschaftliche Relevanz nicht nur auf dieser
politischen Ebene, sondern reichte bis in die einzelnen sozialen Bedingungen des
Heranwachsens hinein. Er wurde damit unmittelbar zu einem pädagogischen Problem.
„Jede Form von Sozialpädagogik erweist
sich als hervorgerufen durch einen allgemeinen, über das Zufällige und
Individuelle hinausreichenden Mangel, durch eine Not, die in allen ihren
einzelnen Formen ihrerseits wieder eine letzte Ursache hat, in der sie
alle zusammenhängen, die Volkszerstörung, die Auflösung der
Volksordnung. Die sozialpädagogische Arbeit, wo sie auch immer steht,
bemüht sich um die Überwindung der aus der Tatsache der Volkszerstörung
und der Auflösung der Volksordnung entstandenen Lebensnot und Volksnot
und sucht die Volksordnung durch erzieherische Einwirkung
wiederherzustellen. In allen einzelnen Lebensnöten ist die Volksnot und
Volkszerstörung enthalten, drückt sich in ihnen aus, in jeder Einzelnot
ist zugleich die universale Not konkret gegeben. Alle Einzelnöte hängen
derart zusammen, daß man, wenn man von irgendeiner Not und ihrer
individuellen Verursachung ausgeht, schließlich zu dem ganzen Kreis von
Nöten, die die Volkszerstörung ausmachen, geführt wird“
3
3Erich
Weniger, Sozialpädagogik, in: Enzyklopädisches Handbuch des
Kinderschutzes und der Jugendfürsorge, hrsg. von L. Clostermann/Th.
Heller/P. Stephani, 2 A., Leipzig 1930.
. Sozialpädagogische Hilfe darf daher ihrem Begriffe nach nicht als eine
isolierte, einzelne Erziehungsmaßnahme verstanden werden, denn sie konstituiert
sich erst in der Verbindung des einzelnen Erziehungsaktes mit dem
gesamtgesellschaftlich-politischen Problem, dessen Ausdruck und individueller
Niederschlag sie ist. Da nun aber die sozialpädagogischen Probleme sich erst
ergeben, wenn die gegenwärtige Situation unter dem Gesichtspunkt einer
politischen Ordnungsaufgabe, der
„noch
fehlenden Volksordnung“
, d. h. einer durchgehend demokratischen
Verfaßtheit der Gesellschaft, gesehen wird, erscheinen die Phänomene, angesichts
derer die Hilfe nötig wird, gemessen an diesem Bilde, als defiziente Modi des
individuellen und |a 226|sozialen Daseins:
„Not“
und
„Verwahrlosung“
werden für Weniger die auswechselbaren
Bezeichnungen für diese sozialpädagogische Problematik als der
„subjektiven Entsprechung zu dem Sachverhalt
Volkszerstörung“
4
4Ebd.
; sie vermitteln zwischen dem politischen und dem pädagogischen Problem.
Die Phänomene, mit denen die Sozialpädagogik es zu tun hat, so z. B. die
Verwahrlosung der Jugend, werden interpretiert als
„Zeichen für die Diskrepanz zwischen der Idee des
Staates und der tatsächlichen wirtschaftlich-sozialen Lage“
5
5Erich
Weniger, Die Gegensätze in der modernen Fürsorgeerziehung, in: Die
Erziehung, 2. Jg. 1926/27, S. 271.
[033:8] Verfolgt man die Geschichte der sozialpädagogischen Institutionen,
insbesondere die Fürsorgeerziehung, die Jugendpflege, den Jugendstrafvollzug,
dann zeigt sich, daß der Zusammenhang erzieherischer und politischer,
individueller und gesamtgesellschaftlicher Probleme nicht von vornherein
konstitutiv für das Bewußtsein der Praxis war. Vielmehr stellte die individuelle
Not den ersten und zunächst beherrschenden Ausgangspunkt dar. Für die Geschichte
der Sozialpädagogik, insbesondere für die Differenzierung der Praxis in ihren
einzelnen Institutionen folgenreich war die Tatsache, daß die individuelle Not
immer schon im Zusammenhang eines Motivkomplexes interpretiert wurde, der für
das pädagogische Eingreifen den entscheidenden Impuls lieferte. Angesichts der
besonderen, in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts heftig diskutierten
weltanschaulichen Differenzen und ihrer Bedeutung für die sozialpädagogische
Praxis hat Weniger an einem Spezialfall, den Gegensätzen der Fürsorgeerziehung6
6A.a.O.
, diese
Motiv-Problematik aufzuklären versucht. Diese Problematik stellt sich in der
Sozialpädagogik dringlicher als in anderen pädagogischen Bereichen, weil hier
die politische Struktur des pädagogischen Feldes vom Anfang der Entwicklung an
dadurch bestimmt war, daß private Träger, vornehmlich eben die sogenannten
Wohlfahrtsverbände, die Erziehungsaufgaben wahrnahmen. Weniger versucht nun zu zeigen, wie die
sachlichen Kontroversen, z. B. zum Problem der Reform der Anstaltserziehung, mit
den Motiven unlösbar verknüpft sind, die die Erziehungsarbeit der Träger
fundieren und ihre Gestaltung formieren. Solche Korrespondenz von Motiv und
Gestaltung scheint zwingend zu sein, da jeweils die Motive schon Grundannahmen
enthalten über die wirksamsten Mittel, die zur Behebung der Not angewandt werden
müssen: die konfessionelle Motivgruppe vertraue auf das Medium des
„christlichen Hauses“
mit der konstitutiven Funktion des
Wortes Gottes; die proletarisch-sozialistische Motivgruppe, repräsentiert in der
Arbeiterwohlfahrt, vertraue auf die Wirksamkeit von
„Solidarität
und Kameradschaft“
als den
„Hauptmitteln“
; die
staatliche Motivgruppe, d. h. die kommunalen Träger der Fürsorgeerziehung, vertrauen – des politischen Ordnungsinteresses wegen – auf die Mittel der
„Gemeinschaftserziehung“
, d. h. auf diejenigen Formen
pädagogischen Umgangs,
„in denen staatsbürgerliche Gesinnung und Haltung
entstehen“
7
7A.a.O.,
S.
270.
. Einer solchen Motivation und Mittelwahl entspricht auch, was jeweils als
Ursache der zu behebenden Not angesehen wird: Glaubenslosigkeit,
Klassengesellschaft und fehlende öffentliche Sitte bzw. Sittlichkeit.
|a 227|
[033:9] Die so von Weniger
exemplarisch am Beispiel der Fürsorgeerziehung vorgenommene Analyse gilt für die
Sozialpädagogik im ganzen. Sie läßt als nächsten Schritt eine kritische
Konfrontation der ermittelten Motive, Mittel und aspektgebundenen Theorien über
die Ursachen der Not auf der einen mit einer soziologischen Analyse der
wirklichen Lage der Gesamtgesellschaft auf der anderen Seite vermuten. Diesen
Schritt aber tut Weniger nicht,
er läßt es vielmehr bei dem summarischen Hinweis auf den Tatbestand der
„Volkszerstörung“
bewenden, der lediglich durch einige Andeutungen schwach konkretisiert wird: Klassenteilung, materielle Not, nicht bewältigte wachsende Freizeit, Erziehungsschwäche der Familie, Arbeits- und Berufsnot8
8Eine summarische
Aufzählung der pädagogisch relevanten Aspekte der
„Volkszerstörung“
findet sich in folgender Aussage:
„Die allgemeinen Tatsachen sind ja bekannt:
‚Die naturgegebenen Bindungen‘
zerstört, die
Lebensformen, die den jungen Menschen umfingen, ihn
selbstverständlich von Stufe zu Stufe in der Ordnung des Lebens
führten, zerbrochen. Die Industrialisierung bemächtigt sich auch der
Jugend, die Mechanisierung durch die Arbeitsteilung, die Entleerung
der Arbeit von jedem Sinngehalt, dazu das Vordringen der ungelernten
Arbeit, die Freizügigkeit auch der Jugend infolge ihrer Abhängigkeit
vom Arbeitsmarkt, damit Trennung von der Familie und ihren
erzieherischen Kräften, während andererseits das Lehrverhältnis sich
auf den Arbeitsvorgang beschränkt, im übrigen das Leben freiläßt,
ganz abgesehen davon, daß auch der Arbeitsvorgang selbst immer ärmer
an erzieherischen Gehalten wird. Auch wo äußerlich die Familie noch
besteht, ist sie häufig eine bloße Erwerbsgemeinschaft geworden, in
der jeder gilt nach dem Einsatz, den er hinzubringt. Im
Produktionsprozeß ist jeder nur eine Nummer, in der Massenanhäufung
der Großstadt führt der junge Mensch eine völlig anonyme Existenz,
unbekannt ist sein Leben oft seiner eigenen Familie, fast immer
seinem Arbeitgeber, sicher der Kirche und der Schule, die ja auch in
der Fortbildungs- und Berufsschule nur Teile seines Daseins
ergreift.“
(Erich Weniger, Jugendpflege und
Jugendführung als sozialpädagogische Aufgaben, in: Die Erziehung, 3.
Jg. 1927/28, S.
148.)
Vgl. auch: Die Erziehung im
Zusammenbruch unserer Lebensordnungen, in: Eigenständigkeit, S. 360
ff.; und: Jugendarbeit und
Schule, a.a.O., S. 421 ff.
. Der Anlaß, sich mit Fragen der
Sozialpädagogik zu befassen, war ja aktueller Natur: die Neuartigkeit der
pädagogischen Probleme, die Uneinigkeit der beteiligten gesellschaftlichen
Gruppen und die Frage nach der Erziehungsfunktion des Staates. Besonders dieses
letzte Problem hat Weniger
nachdrücklich interessiert. Die Geschichte der Sozialpädagogik als Geschichte
der Erziehungstätigkeit vorwiegend konfessioneller Gruppen konnte nämlich den
Eindruck erwecken, als falle dem Staat lediglich eine formal-subsidiäre Funktion
zu. Die Kompromiß-Formel des § 1 des
Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, in welchem jedem deutschen Kind ein
Rechtsanspruch auf
„Erziehung zur leiblichen, seelischen und
gesellschaftlichen Tüchtigkeit“
eingeräumt wurde, unterstreicht diesen formalen Charakter gerade durch
den Verzicht auf jede inhaltliche Präzisierung, eine Tendenz, die in der Fassung
der Novelle aus
dem Jahre 1961 ihre Fortsetzung dadurch findet, daß die Bestimmung der
„Grundrichtung“
der Erziehung ausschließlich den Eltern, damit faktisch aber den erziehenden Gruppen und Verbänden vorbehalten bleibt. Die in diesem Zusammenhang nach dem Zweiten Weltkrieg wieder
aufgelebten Auseinandersetzungen geben Weniger nachträglich recht in seinem Bemühen, diesen Zusammenhang
von Staat und Erziehung im Bereich der Sozialpädagogik präziser zu
bestimmen.
[033:10] Jedenfalls – das ist der erste Schritt in Wenigers Gedankengang – kann das Auftreten des
Staates als Erziehungsträger, besonders im Bereich der Fürsorgeerziehung und der
Jugendpflege, nicht
„lediglich als eine Kompetenzüberschreitung“
angesehen werden, da in seiner Intention Motive sich zeigten, die von den anderen Trägern, den konfessionellen zumal, nicht oder nur unzureichend vertreten wurden9
9
Erich Weniger, Die Gegensätze in der
modernen Fürsorgeerziehung, a.a.O., S. 269.
. Die Legitimation der staatlichen Motive ergibt sich – das ist
der zweite Schritt des Gedankenganges – aus den
„Voraussetzungen dieses Staates als eines demokratischen
Wohlfahrtsstaates“
10
10A.a.O.,
S.
268.
, dessen Interesse an politisch mündigen Bürgern über die Grenzen der
Schule hinaus ein Recht auf Vertretung beanspruchen kann, eben insofern er ein
demokratischer Staat ist. Allerdings besteht nun – das ist der dritte Schritt –
trotz aller Entschiedenheit im Interesse an der Bildung der künftigen Bürger die
pädagogische Tugend des Staates in einer eigentümlichen Zurückhaltung. Dadurch,
daß er das politische Motiv in die Jugendwohlfahrtsarbeit bzw. Jugendhilfe
einbringt und zu |a 228|sichern versucht, ist er zugleich
verantwortlich dafür, daß alle anderen am Erziehungsprozeß interessierten und
beteiligten gesellschaftlichen Gruppen zur Geltung kommen können; politisch
gesprochen: er ist verantwortlich für eine artikulierte Darstellung und
pädagogische Vertretung der pluralistischen Interessen bzw.
Interessendifferenzen und -gegensätze. Seinen pädagogisch wichtigsten Gehalt hat
er darin, daß der Interessenkampf stattfindet und daß er fair geführt wird. Zum
ersten Mal in seiner Geschichte wurde damit der Staat
„lediglich zum öffentlichen Sprachrohr des pädagogischen
Verantwortungsgefühls aller am öffentlichen Leben beteiligten
Faktoren“
11
11Erich
Weniger, Jugendpflege und Jugendführung, a.a.O., S.
154.
. Den anschaulich-symbolischen Ausdruck fand diese neue Einstellung des
Staates im Bereich der Jugendpflege im Jugendheim, das allen Gruppen und
Verbänden, die jeweils partikulare Interessen vertraten, eine pädagogisch
verantwortete Möglichkeit gemeinsamen sozialen Lebens eröffnete.
„In diesem Burgfrieden des Jugendheims ist schon an
einer entscheidenden Stelle neue Volksordnung da, die doch für unsere
Zeiten immer nur Miteinanderlebenkönnen und Miteinanderfühlenkönnen
trotz der Gegensätze und Parteiungen heißen kann, die also die
Gegensätze als begründend für die Ordnungen des Lebens begreifen
muß“
12
12A.a.O.,
S.
163.
. Merkwürdig ist allerdings, daß Weniger die preußischen Jugendpflege-Erlasse von 1911 und 1918 als Zeugnisse für diese
neue Einstellung des Staates in Anspruch nimmt, wo doch kaum zu übersehen ist,
daß jedenfalls der Erlaß
von 1911 in Wortlaut und Ausführungsbestimmungen kaum demokratischen
Staatsvorstellungen entsprach.
[033:11] Die Analyse des durch Interessengegensätze strukturierten
sozialpädagogischen Feldes, die, ausgehend von einer gesamtgesellschaftlichen
Deutung des geschichtlichen Prozesses als Weg aus der
„Volkszerstörung“
heraus, über eine Kritik der Motive
und Mittel der Träger sozialpädagogischer Einrichtungen zur Bestimmung der
pädagogischen Verantwortung des Staates führte, war von Weniger begonnen worden in der Absicht, hinter
der Verschiedenartigkeit der Deutung dessen, was Sozialpädagogik sei, und hinter
der Heterogenität der in ihren Einrichtungen wirkenden Interessen und Motive
eine Zusammengehörigkeit oder gar Einheit der Jugendwohlfahrt bzw. Jugendhilfe
zu ermitteln. Drei Sachverhalte – so glaubte er – gäben ihm recht in der
Meinung, daß in der Praxis eine
„Gemeinsamkeit der sozialpädagogischen Arbeit und der
konkrete Zusammenhang aller der verschiedenen Bemühungen sichtbar wird,
der unabhängig von allen Begriffen auch bei allen möglichen
Verschiedenheiten der Mittel, Ziele und Träger der Sozialpädagogik
besteht“
13
13Erich
Weniger, Sozialpädagogik, a.a.O.
: ein neues Generationenverhältnis, der pädagogische Ertrag der
Jugendbewegung und die Rückbesinnung auf Pestalozzi.
[033:12] Der innere Zusammenhang aller sozialpädagogischen Maßnahmen in der
„Tatsache der
Volkszerstörung“
barg eine einzigartige pädagogische Chance, in der
es scheinen konnte, als sei zum ersten Mal das von Schleiermacher formulierte
Generationenverhältnis – die heranwachsende Generation auf die Mitwirkung |a 229|an sozialer Reform vorzubereiten – real möglich. War nämlich
„Verwahrlosung“
nur die subjektive Entsprechung eines
objektiven gesellschaftlichen Sachverhaltes, der alle betraf, dann bestand
zwischen Erzieher und Zögling wenigstens in dieser Hinsicht kein prinzipieller
Unterschied: beide waren von der sozialen Not betroffen und standen damit auch
vor der gleichen Aufgabe, neue soziale Ordnungen vorwegnehmend zu erproben.
Diese Solidarität zwischen den beiden Generationen – so hat es Weniger gesehen – galt nicht nur
für diejenigen Erzieher, die aus der bürgerlichen Jugendbewegung kamen, sondern
auch, und zwar in besonderem Maße, für die proletarischen Träger
sozialpädagogischer Maßnahmen: die gleiche Klassenlage von Erzieher und Zögling
und die gemeinsame Kritik an einer Gesellschaft, der es nicht gelang,
Gerechtigkeit und soziale Sicherheit für alle zu realisieren, brachte ein
pädagogisches Verhältnis hervor, das den pädagogischen Postulaten der Theorie
seit Rousseau
entsprach und darüber hinaus eine Gemeinsamkeit der pädagogischen Haltung auch
mit den bürgerlichen Erziehern begründete. Der zweite Sachverhalt, die
Jugendbewegung, bewirkte eine Gemeinsamkeit aller erziehend Beteiligten dadurch,
daß sie eine Fülle von Mitteln zur Darstellung jugendlich-sozialen Lebens
entwickelt hatte, die nun in die tägliche Praxis von Jugendpflege und
Jugendfürsorge Eingang fanden und, aller Gegensätzlichkeit der Motive zum Trotz,
im pädagogisch-praktischen Vollzug eine vorkonfessionelle und
vorweltanschauliche Einheit des Umgangs mit der jungen Generation
konstituierten. Die allen pädagogischen Richtungen und Institutionen gemeinsame
Rückbesinnung auf Pestalozzi aber
schien für Weniger am
nachdrücklichsten zu dokumentieren, daß die behauptete Einheit keine
theoretische Konstruktion war, sondern auch dem Selbstverständnis dieser
sozialpädagogischen Bewegung entsprach.
„Vielleicht hat erst das Pestalozzi-Jahr 1927 im Rückgang auf die
sozialpädagogischen Anschauungen des Meisters es möglich gemacht, den
geistigen Zusammenhang aller dieser sozialpädagogischen Bemühungen in
gemeinsamer Verursachung, gemeinsamer Zielsetzung, gemeinsamer
Verantwortung und gemeinsamer Haltung zu erkennen“
14
14Ebd.
. So konnte, besonders auch unter dem Eindruck der Ergebnisse von
Psychiatrie und Heilpädagogik, eine Versachlichung eingeleitet werden, die die
Sozialpädagogik als legitimen und unbestrittenen Bestandteil unserem
Erziehungssystem einreihte, als einen Bestandteil überdies, in dem die
politische Aufgabe einer wahrhaft humanen sozialen Ordnung radikaler gesehen
werden konnte als in anderen pädagogischen Bereichen, weil sie der inhumanen
Seiten unserer Gesellschaft im Schicksal der vielen Einzelnen nachdrücklicher
ansichtig wurde.