Sozialpädagogik [Textfassung a]
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Sozialpädagogik

[033:1] Das Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg war nicht nur durch die Versuche, allgemeine Erziehungstheorien zu konzipieren, ausgezeichnet, nicht nur durch Schulreform, Schulpolitik, und deren reflektierte Verarbeitung in der Theorie, sondern auch dadurch, daß dem Erziehungssystem ein neuer Bereich hinzugewonnen wurde: die Jugendhilfe oder – mit dem alten Ausdruck – die Jugendwohlfahrt. Der Begriff der pädagogischen Reformbewegung und die an sie sich anschließende pädagogische Theorie Herman Nohls kennen diesen Komplex pädagogischer Praxis deshalb auch nicht nur als ein am Rande hinzugefügtes, sondern als ein konstitutives Element dessen, was als Erziehungswirklichkeit in dem pragmatischen Sinne dieses Ausdrucks bezeichnet wurde. Erich Wenigers Versuche einer theoretischen Durchdringung dieses Bereichs erwachsen ganz aus dieser geschichtlichen Konstellation.
[033:2] Bei der Einführung des Ausdrucks
Sozialpädagogik
in die erziehungswissenschaftliche Debatte waren verschiedene Interessen wirksam. Der Anlaß für Erich Weniger, diesen Ausdruck und eine an ihn sich anschließende Theorie in den Umkreis seiner erziehungswissenschaftlichen Reflexionen mit einzubeziehen, lag weder in den Philosophemen Paul Natorps noch in den Bedeutungsanalysen des Wortes
sozial
, die im Zusammenhang der sozialen Frage aufgetaucht und im Hinblick auf die Pädagogik expliziert worden waren. Er lag vielmehr in dem Auftauchen eines Komplexes neuer pädagogischer Tatbestände, deren institutionellen Niederschlag das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz darstellte.
[033:3] Theorie nun – so meint Weniger – habe zunächst zu ermitteln, ob es sich hier nur um eine rechtliche Zusammenfügung pädagogischer Einrichtungen und Maßnahmen handelt oder ob dieser Zusammenschluß in einem Rechtsinstitut nicht auch pädagogisch zu legitimieren wäre. Eine solche Legitimation aber könne nur dann gelingen, wenn der in Rede stehende Praxisbereich als pädagogische Antwort auf ein bestimmtes, durch die gesellschaftliche Entwicklung hervorgetretenes Problem zu verstehen sei, wenn ihm eine identische Aufgabe bzw. ein identisches Aufgabenbewußtsein zugrunde liege. Die geschichtliche und sachliche Heterogenität der verschiedenen im Jugendwohlfahrtsgesetz zusammengeschlossenen Erziehungsfelder bereitet indessen solchem Bemühen einige Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten erhöhten sich angesichts der Tatsache, daß es eben keinen einheitlichen Gebrauch des Ausdrucks
Sozialpädagogik
gab, ein Umstand, der auch heute noch die Sachdiskussionen erschwert. So be|a 224|zeichnete z. B. Natorp seine pädagogisch-kritizistische allgemeine Erziehungstheorie als Sozialpädagogik; desgleichen nahmen Theorien, die die sozialen Aspekte des Erziehungsprozesses betonen wollten, diesen Ausdruck für sich in Anspruch; darin folgten ihnen gruppenpädagogische Ansätze im Bereich der Schultheorie, die Einheitsschulbewegung, die Jugendpflege, die Jugendfürsorge, schließlich auch bestimmte Aspekte des Berufsbildungswesens. Der damals wie heute immer wieder unternommene Versuch, die Gleichheit des Namens auf sachliche Identität dadurch zurückzuführen, daß man als Gegenstand der Sozialpädagogik das Soziale im Erziehungsprozeß bestimmte, konnte und kann nicht befriedigen. Dies gilt zumal, wenn die entscheidenden Formeln, in denen jene Versuche gipfeln –
Erziehung für und zur Gesellschaft, durch die Gesellschaft und in ihr, Erziehung ... der Gesellschaft selbst
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1Aloys Fischer, Das Verhältnis der Jugend zu den sozialen Bewegungen und der Begriff der Sozialpädagogik, in: Leben und Werk, hrsg. von K. Kreitmair, Bd. III/IV, München o. J., S. 206.
– keine Möglichkeit genauerer Distinktion mehr lassen; denn welche pädagogischen Prozesse ließen sich nicht in dieser Formel unterbringen?
[033:4] Weniger hat sich daher von vornherein entschieden von solchen Versuchen zu distanzieren gesucht und – vor allem in Weiterführung der theoretischen Arbeiten Nohls zur Jugendwohlfahrt – einen anderen Weg eingeschlagen, bei dem es ihm weniger um das Etablieren eines systematischen Terminus als vielmehr um die Aufhellung eines pädagogisch-geschichtlichen Phänomens ging. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist daher die Tatsache, daß in dem auf den Ersten Weltkrieg folgenden Jahrzehnt zunehmend derjenige Bereich pädagogischer Praxis sich selbst als
Sozialpädagogik
bezeichnete, der – wenn auch in sich keineswegs homogen – um den Begriff der Jugendwohlfahrt sich gruppierte. Die im Bereich dieser Praxis auftauchende emphatische Bezeichnung
Sozialpädagogische Bewegung
ließ überdies vermuten, daß es sich nicht um eine zufällige Wortwahl handelte, sondern in ihr eine Gemeinsamkeit mindestens der praktischen Intentionen sich ausdrückte.
[033:5] Theorie der Sozialpädagogik heißt deshalb zunächst: historische Analyse dieser
Bewegung
. Dabei zeigt sich, daß die Sozialpädagogik ein besonders interessanter Gegenstand erziehungsgeschichtlicher Betrachtung ist, und zwar deshalb, weil sie als Bereich der Erziehungspraxis sich nicht in die historische Kontinuität der geschichtlichen Veränderung einer pädagogischen Institution einfügen läßt – wie etwa die neueren Entwicklungen des Schulwesens in innerer und äußerer Schulreform –, sondern weil es sich hier um ein neues Motiv der Erziehungsgeschichte handelt, dessen institutionelle Konkretionen nicht aus pädagogischer Überlieferung, sondern nur aus aktuellen sozialen Umwälzungen zu verstehen sind. Seine sozialpädagogischen Erörterungen nimmt Weniger daher von Anfang an im Lichte einer Deutung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung vor.
[033:6] Für ein Denken, das an die Terminologie moderner Sozialwissenschaft gewöhnt ist, überraschen die Begriffe, mit deren Hilfe Weniger versucht, diesen soziologischen Aspekt der pädagogischen Problematik zu erfassen: die Begriffe
Volks|a 225|zerstörung
und
erneuerte Volksordnung
. Obwohl der normative Anspruch, der diesen Begriffen innewohnt, kaum zu übersehen ist, und obwohl überdies ihre ideologisch-faschistische Belastung die Interpretation erschwert, wäre es falsch, sie so zu verstehen, als seien sie der unkritische Ausdruck eines romantisch-irrationalistischen Gesellschaftsbildes. Vielmehr präzisieren beide sich erst unter zwei anderen leitenden Gesichtspunkten, die sich aus dem geschichtlichen Prozeß des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts für Weniger ergeben: das Pluralistisch-Werden der Gesellschaft und der Selbstanspruch eines demokratisch verfaßten Staates.
Volkszerstörung
erscheint so als der emphatische Ausdruck für die Tatsache, daß die mit den großen gesellschaftlichen Veränderungsvorgängen aufgegebenen Probleme einer sozialen Um- und Neuordnung nicht gelöst, vielmehr immer wieder verfehlt wurden. Die Ordnungen der ständischen Überlieferung hätten ihre volkserzieherische Kraft verloren oder sich vollends aufgelöst, eine neue Ordnung sei noch nicht erreicht, die Aufgabe des gesellschaftlichen Umbaues noch unbewältigt.
[033:7] Dieser
universale Zusammenhang der Volkszerstörung und der noch fehlenden Volksordnung
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2Erich Weniger, Jugendpflege und Jugendführung als sozialpädagogische Aufgaben, in: Die Erziehung, 3. Jg. 1927/28, S. 146.
zeigte seine gesamtgesellschaftliche Relevanz nicht nur auf dieser politischen Ebene, sondern reichte bis in die einzelnen sozialen Bedingungen des Heranwachsens hinein. Er wurde damit unmittelbar zu einem pädagogischen Problem.
Jede Form von Sozialpädagogik erweist sich als hervorgerufen durch einen allgemeinen, über das Zufällige und Individuelle hinausreichenden Mangel, durch eine Not, die in allen ihren einzelnen Formen ihrerseits wieder eine letzte Ursache hat, in der sie alle zusammenhängen, die Volkszerstörung, die Auflösung der Volksordnung. Die sozialpädagogische Arbeit, wo sie auch immer steht, bemüht sich um die Überwindung der aus der Tatsache der Volkszerstörung und der Auflösung der Volksordnung entstandenen Lebensnot und Volksnot und sucht die Volksordnung durch erzieherische Einwirkung wiederherzustellen. In allen einzelnen Lebensnöten ist die Volksnot und Volkszerstörung enthalten, drückt sich in ihnen aus, in jeder Einzelnot ist zugleich die universale Not konkret gegeben. Alle Einzelnöte hängen derart zusammen, daß man, wenn man von irgendeiner Not und ihrer individuellen Verursachung ausgeht, schließlich zu dem ganzen Kreis von Nöten, die die Volkszerstörung ausmachen, geführt wird
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3Erich Weniger, Sozialpädagogik, in: Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge, hrsg. von L. Clostermann/Th. Heller/P. Stephani, 2 A., Leipzig 1930.
. Sozialpädagogische Hilfe darf daher ihrem Begriffe nach nicht als eine isolierte, einzelne Erziehungsmaßnahme verstanden werden, denn sie konstituiert sich erst in der Verbindung des einzelnen Erziehungsaktes mit dem gesamtgesellschaftlich-politischen Problem, dessen Ausdruck und individueller Niederschlag sie ist. Da nun aber die sozialpädagogischen Probleme sich erst ergeben, wenn die gegenwärtige Situation unter dem Gesichtspunkt einer politischen Ordnungsaufgabe, der
noch fehlenden Volksordnung
, d. h. einer durchgehend demokratischen Verfaßtheit der Gesellschaft, gesehen wird, erscheinen die Phänomene, angesichts derer die Hilfe nötig wird, gemessen an diesem Bilde, als defiziente Modi des individuellen und |a 226|sozialen Daseins:
Not
und
Verwahrlosung
werden für Weniger die auswechselbaren Bezeichnungen für diese sozialpädagogische Problematik als der
subjektiven Entsprechung zu dem Sachverhalt Volkszerstörung
4
4Ebd.
; sie vermitteln zwischen dem politischen und dem pädagogischen Problem. Die Phänomene, mit denen die Sozialpädagogik es zu tun hat, so z. B. die Verwahrlosung der Jugend, werden interpretiert als
Zeichen für die Diskrepanz zwischen der Idee des Staates und der tatsächlichen wirtschaftlich-sozialen Lage
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5Erich Weniger, Die Gegensätze in der modernen Fürsorgeerziehung, in: Die Erziehung, 2. Jg. 1926/27, S. 271.
[033:8] Verfolgt man die Geschichte der sozialpädagogischen Institutionen, insbesondere die Fürsorgeerziehung, die Jugendpflege, den Jugendstrafvollzug, dann zeigt sich, daß der Zusammenhang erzieherischer und politischer, individueller und gesamtgesellschaftlicher Probleme nicht von vornherein konstitutiv für das Bewußtsein der Praxis war. Vielmehr stellte die individuelle Not den ersten und zunächst beherrschenden Ausgangspunkt dar. Für die Geschichte der Sozialpädagogik, insbesondere für die Differenzierung der Praxis in ihren einzelnen Institutionen folgenreich war die Tatsache, daß die individuelle Not immer schon im Zusammenhang eines Motivkomplexes interpretiert wurde, der für das pädagogische Eingreifen den entscheidenden Impuls lieferte. Angesichts der besonderen, in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts heftig diskutierten weltanschaulichen Differenzen und ihrer Bedeutung für die sozialpädagogische Praxis hat Weniger an einem Spezialfall, den Gegensätzen der Fürsorgeerziehung6
6A.a.O.
, diese Motiv-Problematik aufzuklären versucht. Diese Problematik stellt sich in der Sozialpädagogik dringlicher als in anderen pädagogischen Bereichen, weil hier die politische Struktur des pädagogischen Feldes vom Anfang der Entwicklung an dadurch bestimmt war, daß private Träger, vornehmlich eben die sogenannten Wohlfahrtsverbände, die Erziehungsaufgaben wahrnahmen. Weniger versucht nun zu zeigen, wie die sachlichen Kontroversen, z. B. zum Problem der Reform der Anstaltserziehung, mit den Motiven unlösbar verknüpft sind, die die Erziehungsarbeit der Träger fundieren und ihre Gestaltung formieren. Solche Korrespondenz von Motiv und Gestaltung scheint zwingend zu sein, da jeweils die Motive schon Grundannahmen enthalten über die wirksamsten Mittel, die zur Behebung der Not angewandt werden müssen: die konfessionelle Motivgruppe vertraue auf das Medium des
christlichen Hauses
mit der konstitutiven Funktion des Wortes Gottes; die proletarisch-sozialistische Motivgruppe, repräsentiert in der Arbeiterwohlfahrt, vertraue auf die Wirksamkeit von
Solidarität und Kameradschaft
als den
Hauptmitteln
; die staatliche Motivgruppe, d. h. die kommunalen Träger der Fürsorgeerziehung, vertrauen – des politischen Ordnungsinteresses wegen – auf die Mittel der
Gemeinschaftserziehung
, d. h. auf diejenigen Formen pädagogischen Umgangs,
in denen staatsbürgerliche Gesinnung und Haltung entstehen
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7A.a.O., S. 270.
. Einer solchen Motivation und Mittelwahl entspricht auch, was jeweils als Ursache der zu behebenden Not angesehen wird: Glaubenslosigkeit, Klassengesellschaft und fehlende öffentliche Sitte bzw. Sittlichkeit.
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[033:9] Die so von Weniger exemplarisch am Beispiel der Fürsorgeerziehung vorgenommene Analyse gilt für die Sozialpädagogik im ganzen. Sie läßt als nächsten Schritt eine kritische Konfrontation der ermittelten Motive, Mittel und aspektgebundenen Theorien über die Ursachen der Not auf der einen mit einer soziologischen Analyse der wirklichen Lage der Gesamtgesellschaft auf der anderen Seite vermuten. Diesen Schritt aber tut Weniger nicht, er läßt es vielmehr bei dem summarischen Hinweis auf den Tatbestand der
Volkszerstörung
bewenden, der lediglich durch einige Andeutungen schwach konkretisiert wird: Klassenteilung, materielle Not, nicht bewältigte wachsende Freizeit, Erziehungsschwäche der Familie, Arbeits- und Berufsnot8
8Eine summarische Aufzählung der pädagogisch relevanten Aspekte der
Volkszerstörung
findet sich in folgender Aussage:
Die allgemeinen Tatsachen sind ja bekannt:
Die naturgegebenen Bindungen
zerstört, die Lebensformen, die den jungen Menschen umfingen, ihn selbstverständlich von Stufe zu Stufe in der Ordnung des Lebens führten, zerbrochen. Die Industrialisierung bemächtigt sich auch der Jugend, die Mechanisierung durch die Arbeitsteilung, die Entleerung der Arbeit von jedem Sinngehalt, dazu das Vordringen der ungelernten Arbeit, die Freizügigkeit auch der Jugend infolge ihrer Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt, damit Trennung von der Familie und ihren erzieherischen Kräften, während andererseits das Lehrverhältnis sich auf den Arbeitsvorgang beschränkt, im übrigen das Leben freiläßt, ganz abgesehen davon, daß auch der Arbeitsvorgang selbst immer ärmer an erzieherischen Gehalten wird. Auch wo äußerlich die Familie noch besteht, ist sie häufig eine bloße Erwerbsgemeinschaft geworden, in der jeder gilt nach dem Einsatz, den er hinzubringt. Im Produktionsprozeß ist jeder nur eine Nummer, in der Massenanhäufung der Großstadt führt der junge Mensch eine völlig anonyme Existenz, unbekannt ist sein Leben oft seiner eigenen Familie, fast immer seinem Arbeitgeber, sicher der Kirche und der Schule, die ja auch in der Fortbildungs- und Berufsschule nur Teile seines Daseins ergreift.
(Erich Weniger, Jugendpflege und Jugendführung als sozialpädagogische Aufgaben, in: Die Erziehung, 3. Jg. 1927/28, S. 148.)
Vgl. auch: Die Erziehung im Zusammenbruch unserer Lebensordnungen, in: Eigenständigkeit, S. 360 ff.; und: Jugendarbeit und Schule, a.a.O., S. 421 ff.
. Der Anlaß, sich mit Fragen der Sozialpädagogik zu befassen, war ja aktueller Natur: die Neuartigkeit der pädagogischen Probleme, die Uneinigkeit der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen und die Frage nach der Erziehungsfunktion des Staates. Besonders dieses letzte Problem hat Weniger nachdrücklich interessiert. Die Geschichte der Sozialpädagogik als Geschichte der Erziehungstätigkeit vorwiegend konfessioneller Gruppen konnte nämlich den Eindruck erwecken, als falle dem Staat lediglich eine formal-subsidiäre Funktion zu. Die Kompromiß-Formel des § 1 des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, in welchem jedem deutschen Kind ein Rechtsanspruch auf
Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit
eingeräumt wurde, unterstreicht diesen formalen Charakter gerade durch den Verzicht auf jede inhaltliche Präzisierung, eine Tendenz, die in der Fassung der Novelle aus dem Jahre 1961 ihre Fortsetzung dadurch findet, daß die Bestimmung der
Grundrichtung
der Erziehung ausschließlich den Eltern, damit faktisch aber den erziehenden Gruppen und Verbänden vorbehalten bleibt. Die in diesem Zusammenhang nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgelebten Auseinandersetzungen geben Weniger nachträglich recht in seinem Bemühen, diesen Zusammenhang von Staat und Erziehung im Bereich der Sozialpädagogik präziser zu bestimmen.
[033:10] Jedenfalls – das ist der erste Schritt in Wenigers Gedankengang – kann das Auftreten des Staates als Erziehungsträger, besonders im Bereich der Fürsorgeerziehung und der Jugendpflege, nicht
lediglich als eine Kompetenzüberschreitung
angesehen werden, da in seiner Intention Motive sich zeigten, die von den anderen Trägern, den konfessionellen zumal, nicht oder nur unzureichend vertreten wurden9
9
Erich Weniger, Die Gegensätze in der modernen Fürsorgeerziehung, a.a.O., S. 269.
. Die Legitimation der staatlichen Motive ergibt sich – das ist der zweite Schritt des Gedankenganges – aus den
Voraussetzungen dieses Staates als eines demokratischen Wohlfahrtsstaates
10
10A.a.O., S. 268.
, dessen Interesse an politisch mündigen Bürgern über die Grenzen der Schule hinaus ein Recht auf Vertretung beanspruchen kann, eben insofern er ein demokratischer Staat ist. Allerdings besteht nun – das ist der dritte Schritt – trotz aller Entschiedenheit im Interesse an der Bildung der künftigen Bürger die pädagogische Tugend des Staates in einer eigentümlichen Zurückhaltung. Dadurch, daß er das politische Motiv in die Jugendwohlfahrtsarbeit bzw. Jugendhilfe einbringt und zu |a 228|sichern versucht, ist er zugleich verantwortlich dafür, daß alle anderen am Erziehungsprozeß interessierten und beteiligten gesellschaftlichen Gruppen zur Geltung kommen können; politisch gesprochen: er ist verantwortlich für eine artikulierte Darstellung und pädagogische Vertretung der pluralistischen Interessen bzw. Interessendifferenzen und -gegensätze. Seinen pädagogisch wichtigsten Gehalt hat er darin, daß der Interessenkampf stattfindet und daß er fair geführt wird. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde damit der Staat
lediglich zum öffentlichen Sprachrohr des pädagogischen Verantwortungsgefühls aller am öffentlichen Leben beteiligten Faktoren
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11Erich Weniger, Jugendpflege und Jugendführung, a.a.O., S. 154.
. Den anschaulich-symbolischen Ausdruck fand diese neue Einstellung des Staates im Bereich der Jugendpflege im Jugendheim, das allen Gruppen und Verbänden, die jeweils partikulare Interessen vertraten, eine pädagogisch verantwortete Möglichkeit gemeinsamen sozialen Lebens eröffnete.
In diesem Burgfrieden des Jugendheims ist schon an einer entscheidenden Stelle neue Volksordnung da, die doch für unsere Zeiten immer nur Miteinanderlebenkönnen und Miteinanderfühlenkönnen trotz der Gegensätze und Parteiungen heißen kann, die also die Gegensätze als begründend für die Ordnungen des Lebens begreifen muß
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12A.a.O., S. 163.
. Merkwürdig ist allerdings, daß Weniger die preußischen Jugendpflege-Erlasse von 1911 und 1918 als Zeugnisse für diese neue Einstellung des Staates in Anspruch nimmt, wo doch kaum zu übersehen ist, daß jedenfalls der Erlaß von 1911 in Wortlaut und Ausführungsbestimmungen kaum demokratischen Staatsvorstellungen entsprach.
[033:11] Die Analyse des durch Interessengegensätze strukturierten sozialpädagogischen Feldes, die, ausgehend von einer gesamtgesellschaftlichen Deutung des geschichtlichen Prozesses als Weg aus der
Volkszerstörung
heraus, über eine Kritik der Motive und Mittel der Träger sozialpädagogischer Einrichtungen zur Bestimmung der pädagogischen Verantwortung des Staates führte, war von Weniger begonnen worden in der Absicht, hinter der Verschiedenartigkeit der Deutung dessen, was Sozialpädagogik sei, und hinter der Heterogenität der in ihren Einrichtungen wirkenden Interessen und Motive eine Zusammengehörigkeit oder gar Einheit der Jugendwohlfahrt bzw. Jugendhilfe zu ermitteln. Drei Sachverhalte – so glaubte er – gäben ihm recht in der Meinung, daß in der Praxis eine
Gemeinsamkeit der sozialpädagogischen Arbeit und der konkrete Zusammenhang aller der verschiedenen Bemühungen sichtbar wird, der unabhängig von allen Begriffen auch bei allen möglichen Verschiedenheiten der Mittel, Ziele und Träger der Sozialpädagogik besteht
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13Erich Weniger, Sozialpädagogik, a.a.O.
: ein neues Generationenverhältnis, der pädagogische Ertrag der Jugendbewegung und die Rückbesinnung auf Pestalozzi.
[033:12] Der innere Zusammenhang aller sozialpädagogischen Maßnahmen in der
Tatsache der Volkszerstörung
barg eine einzigartige pädagogische Chance, in der es scheinen konnte, als sei zum ersten Mal das von Schleiermacher formulierte Generationenverhältnis – die heranwachsende Generation auf die Mitwirkung |a 229|an sozialer Reform vorzubereiten – real möglich. War nämlich
Verwahrlosung
nur die subjektive Entsprechung eines objektiven gesellschaftlichen Sachverhaltes, der alle betraf, dann bestand zwischen Erzieher und Zögling wenigstens in dieser Hinsicht kein prinzipieller Unterschied: beide waren von der sozialen Not betroffen und standen damit auch vor der gleichen Aufgabe, neue soziale Ordnungen vorwegnehmend zu erproben. Diese Solidarität zwischen den beiden Generationen – so hat es Weniger gesehen – galt nicht nur für diejenigen Erzieher, die aus der bürgerlichen Jugendbewegung kamen, sondern auch, und zwar in besonderem Maße, für die proletarischen Träger sozialpädagogischer Maßnahmen: die gleiche Klassenlage von Erzieher und Zögling und die gemeinsame Kritik an einer Gesellschaft, der es nicht gelang, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit für alle zu realisieren, brachte ein pädagogisches Verhältnis hervor, das den pädagogischen Postulaten der Theorie seit Rousseau entsprach und darüber hinaus eine Gemeinsamkeit der pädagogischen Haltung auch mit den bürgerlichen Erziehern begründete. Der zweite Sachverhalt, die Jugendbewegung, bewirkte eine Gemeinsamkeit aller erziehend Beteiligten dadurch, daß sie eine Fülle von Mitteln zur Darstellung jugendlich-sozialen Lebens entwickelt hatte, die nun in die tägliche Praxis von Jugendpflege und Jugendfürsorge Eingang fanden und, aller Gegensätzlichkeit der Motive zum Trotz, im pädagogisch-praktischen Vollzug eine vorkonfessionelle und vorweltanschauliche Einheit des Umgangs mit der jungen Generation konstituierten. Die allen pädagogischen Richtungen und Institutionen gemeinsame Rückbesinnung auf Pestalozzi aber schien für Weniger am nachdrücklichsten zu dokumentieren, daß die behauptete Einheit keine theoretische Konstruktion war, sondern auch dem Selbstverständnis dieser sozialpädagogischen Bewegung entsprach.
Vielleicht hat erst das Pestalozzi-Jahr 1927 im Rückgang auf die sozialpädagogischen Anschauungen des Meisters es möglich gemacht, den geistigen Zusammenhang aller dieser sozialpädagogischen Bemühungen in gemeinsamer Verursachung, gemeinsamer Zielsetzung, gemeinsamer Verantwortung und gemeinsamer Haltung zu erkennen
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14Ebd.
. So konnte, besonders auch unter dem Eindruck der Ergebnisse von Psychiatrie und Heilpädagogik, eine Versachlichung eingeleitet werden, die die Sozialpädagogik als legitimen und unbestrittenen Bestandteil unserem Erziehungssystem einreihte, als einen Bestandteil überdies, in dem die politische Aufgabe einer wahrhaft humanen sozialen Ordnung radikaler gesehen werden konnte als in anderen pädagogischen Bereichen, weil sie der inhumanen Seiten unserer Gesellschaft im Schicksal der vielen Einzelnen nachdrücklicher ansichtig wurde.