Zum Problem der Hochschuldidaktik – Thesen zu ihrer Theorie1
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1.[039:1] Das Problem der Hochschuldidaktik, also die Frage nach akademischem Lehren und Lernen, schließt die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis ein. Das gilt nicht nur für die Erziehungswissenschaft, sondern für Wissenschaft überhaupt, sofern man bereit ist, sie als institutionalisierte Aufklärung zu begreifen.
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2.[039:2] Das Bewußtsein von diesem Zusammenhang zwischen Bildung, Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis ist nicht erst neuerdings entstanden. Es ist in den Gründungstexten der Deutschen Universität ausdrückliches Thema. Es kommt prägnant zum Ausdruck in der These , daß die kritische Funktion der Wissenschaft sich daraus ergebe, daß die bürgerliche Gesellschaft„eine entschiedene Disharmonie der Idee und der Wirklichkeit“
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3.[039:3] Damit ist zwischen gesellschaftlicher Praxis und Wissenschaft eine Distanz gesetzt, die deren kritische Funktion ermöglicht und die Bedingung dafür darstellt, daß Wissenschaft gesellschaftliche Praxis zu ändern vermag. Die Institutionalisierung von Wissenschaft und die damit vollzogene Trennung von der Praxis sollte letzten Endes nicht zweckfreies selbstgenügsames Erkennen zum Ziel haben, sondern die Änderung der gesellschaftlichen Praxis.
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4.[039:4] Das Erreichen dieses Zieles ist von der praktischen Funktion, die Wissenschaft im gesellschaftlichen Leben hat, ebenso abhängig, wie von der inneren Organisation dessen, was sich Hochschule nennt. Damit aber wird die Frage nach den akademischen Lehr- und Lernprozessen und deren Bedingungen zu einer Frage nach der didaktischen Organisation von Wissenschaft und ihrer Vermittlung, wie auch zu einer Frage nach der Funktion der Wissenschaft in den Zusammenhängen gesellschaftlicher Praxis.
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5.[039:5]Das didaktische Problem der akademischen Lehre hat sich seit der Zeit der Gründungsschriften (, , , ) unter anderem in drei Hinsichten verändert:
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a)Was in den„Gründungsschriften“der Deutschen Universität Wissenschaft hieß, entspricht nicht mehr dem, was heute unter diesem Namen in der Regel betrieben wird. Die empirischen Einzelwissenschaften haben zunehmend jene für den Idealismus selbstverständliche praktisch-philosophische Dimension aus ihrem Wissenschaftsbegriff ausgeschieden.
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b)Der zunehmend wissenschaftliche Charakter der Berufstätigkeiten, im Sinne einer Verwendung wissenschaftlicher Resultate, hat heute in der Ausbildung durch die Hochschule seine Entsprechung in der Aufmerksamkeit für verwert- und verwendbare Resultate der„Forschung“einerseits und der Forschungsmethoden andererseits. Das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis betrifft also nicht mehr die Handlungsorientierungen, sondern nur noch zweckmäßige Mittelwahl. Die Ausbildung für das gesellschaftliche Handeln ist konzentriert auf die technologische Dimension der Berufstätigkeit.
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c)Diesen Veränderungen entspricht es, wenn sich zunehmend eine Tendenz zur Verschiebung des Ausbildungszweckes vom„Erkennen“auf das„Lernen“zeigt, von der Ausbildung zum Wissenschaftler dazu, die Studenten„auf wissenschaftlicher Grundlage mit den für ihren Beruf nötigen Kenntnissen zu versehen“(Wissenschaftsrat)
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6.[039:6]Das Problem des Betreibens und Lehrens von Wissenschaft ließe sich deshalb konzentrieren auf die Frage nach den wissenschaftlichen Verfahren und ihrer Vermittlung. Danach liegt die bildende Wirkung und also auch die didaktische Problematik einzig in den Regeln, die das wissenschaftliche Verfahren definieren. Der Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis ist damit nicht durchschnitten, sondern womöglich nur präziser formuliert. Das gilt jedenfalls, sofern man Meinung folgt, nach der eine Parallelität von wissenschaftlichem und demokratisch-praktischem Regelsystem beobachtet werden kann. Diese Parallelität zeige sich vornehmlich in drei Momenten:
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a)Die Disziplin des hypothetischen Denkens, d. h. das Mißtrauen den eigenen Sätzen gegenüber, aus denen erst die Offenheit der Kommunikation folgt.
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b)Die Abneigung gegen dogmatische Systeme.
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c)Die Bereitschaft, auch bei nichtbestehender Einigkeit in den Regeln rationaler Kommunikation verbunden zu bleiben.
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7.[039:7] Die Behauptung solcher Parallelität läßt jedoch die Frage offen, ob das Einüben in die Regeln wissenschaftlichen Verfahrens auch außerhalb der theoretischen Provinz praktische Folgen zeitigt. Es bleibt offen, ob allein durch das Befolgen solcher Regeln schon hinreichend gesichert ist, daß die Wissenschaft praktisch wird, d. h. ihre aufklärende Funktion im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang wahrnimmt.
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8.[039:8] Das Reden von Wissenschaft schließt ein, daß das Befolgen der wissenschaftlichen Verfahrensweisen nur im sozialen Zusammenhang mit anderen um Erkenntnis bemühten Individuen geschieht. Es kann„nur ein leerer Schein sein, als ob irgendein wissenschaftlicher Mensch abgeschlossen für sich in einsamen Arbeiten und Unternehmungen lebe.“„das erste Gesetz jedes auf Erkenntnis gerichteten Bestrebens: Mitteilung“(Schleiermacher). Oder: Das didaktische Prinzip aller Wissenschaft ist die„notwendige Verbindung von Erkenntnis und Kommunikation“(v. Hentig)
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9.[039:9] Ist Kommunikation eine notwendige Bedingung von Wissenschaft, wohnt ihr Mitteilung und Vermittlung, also das didaktische Problem schon inne, dann ist sie nur als gesellschaftlicher Zusammenhang angemessen zu begreifen. Das bedeutet aber, daß die gesellschaftlichen Bedingungen solcher Kommunikation notwendig auch zu ihrem Begriff gehören. Hochschuldidaktik ist danach also die Theorie der wissenschaftlichen Mitteilung und ihrer gesellschaftlichen Bedingungen.
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10.[039:10]Die in einer hochschuldidaktischen Theorie aufzuklärenden Komplexe sozialer Bedingungen scheinen vornehmlich die folgenden zu sein:
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a)Die gesellschaftlichen Bedingungen für die Wahl der leitenden Begriffe, der Probleme, der Forschungsverfahren, der Gegenstände usw.
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b)Soziale Bedingungen, die auf den Prozeß wissenschaftlicher Kommunikation unmittelbar wirken (Rollenerwartungen gegenüber Lehrenden und Lernenden, Hierarchien des Lehr- und Forschungskörpers, ökonomische Bedingungen von Forschung und Lehre, Entscheidungsprozesse innerhalb der Hochschulen, Kommunikationsstile usw.).
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c)Soziale Bedingungen, die die institutionalisierte Wissenschaft und die Organisationsformen der Lehre an außerwissenschaftliche gesellschaftliche Interessen binden (z. B. die ökonomischen Interessen an„Effektivität“des Studiums im Hinblick auf die Verwendbarkeit wissenschaftlich qualifizierter Fachleute).
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11.[039:11]Eine hochschuldidaktische Theorie würde demnach in dreierlei Form auftreten müssen:
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a)Als Explikation des Begriffs und damit des Anspruchs wissenschaftlicher Ausbildung; der Ort dieses Verfahrens läge in der Wissenschaftstheorie (Wissenschaftsdidaktik).
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b)Als Analyse der empirischen Bedingungen für die Realisierung dieses Begriffs in der Praxis wissenschaftlicher Lehre (Hochschuldidaktik).
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c)Als Analyse des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis, der je für einzelne Disziplinen oder Disziplinen-Gruppen, für Forschungseinrichtungen oder Theorien, für einzelne Wissenschaftler oder begriffliche Ausgangslagen leitenden Interessen, als Analyse der Funktionen von Wissenschaften im gesellschaftlich-politischen System.
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1.[039:13] Hochschuldidaktik ist Teil der Hochschulpolitik. Die Frage nach der zweckmäßigsten Vermittlung von Wissen, nach dem methodischen Arrangement der akademischen Unterrichtsprozesse, also das i. e. Sinne lerntheoretische Problem ist nur einer von vielen Aspekten.
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2.[039:14] Eine dem Begriff von Wissenschaft angemessene Hochschuldidaktik hat ihr Prinzip in der Beteiligung aller am Erkenntnisprozeß. Soll es sich dabei nicht um eine abstrakte Forderung handeln, deren Einlösung im Belieben und Geschick des Hochschullehrers allein liegt, muß sich mit ihr die Frage nach einer zweckentsprechenden Institutionalisierung möglicher Beteiligung stellen.
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3.[039:15] Die Freiheit der Lehre und Forschung, die in solcher Beteiligung sich ausdrückt, ist nicht als die Freiheit des Hochschullehrers zu beliebigen Forschungsinteressen zu begreifen, sondern als die Freiheit von nicht begründeten Erwartungen an die Wissenschaft. Sie ist in der rationalen Kontrolle aller Beteiligten zu sichern. Dem Prinzip der Freiheit korrespondiert der Argumentationszwang: die Legitimierung wissenschaftlicher Entscheidungen vor den Betroffenen.
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4.[039:16] Das schließt den Argumentationszwang für wissenschaftlich relevante Entscheidungen ein: die Verfügung über die materiellen Voraussetzungen von Forschungs- und Lehrprozessen.
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5.[039:17] Der Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis, von Einzelwissenschaft und Beruf, macht Formen und Inhalte in der Vermittlung von Wissenschaft nötig, die von den Idolen zweckfreier Wissenschaft und der Einübung in bestimmte Berufsrollen gleich kritisch distanziert bleiben bzw. solche kritischen Distanzen schaffen.