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Vorwort
[V26:1] Pädagogik als Theorie und Forschung in Deutschland hat in ihrer ganzen
Geschichte eine fast ausnahmslose Abstinenz im Hinblick auf Themen eingehalten,
die vom Zusammenhang von Politik und Erziehung handeln. Zu Beginn der
Demokratisierungsvorgänge war das anders. Die Werke Friedrich Daniel Schleiermachers und Lorenz von Steins geben Zeugnis
davon, daß die bürgerliche Gesellschaft den Begriff jenes Zusammenhangs durchaus
hat denken können. In unserem Jahrhundert jedoch zerrissen die Fäden der
Vermittlung: Politik tauchte – wenn überhaupt – in pädagogischen Theorien fast
nur als negative Bestimmung auf, gegen die Pädagogik sich abzugrenzen versuchte.
Erziehungshandeln wurde zu einem unpolitischen Vorgang, sowohl im
Selbstverständnis der Praxis wie auch in den Kategorien ihrer theoretischen
Deutung. Die Reflexion dieses Defizits wurde zum Reservat sozialistischer
Kritiker, die jedoch – wie Siegfried
Bernfeld – keine theoretische Tradition zu begründen vermochten. Das
Gehäuse der bürgerlichen Pädagogik war für solche Kritik unzulänglich
geworden.
[V26:2] Erst neuerdings wieder rückt dieser Zusammenhang in das Interesse der
Erziehungswissenschaft. Auch hier wieder ist es das Interesse derjenigen
Wissenschaftler, denen an der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft gelegen
ist und die statt der Rechtfertigung des Bestehenden seine Veränderung
betreiben. Es ist das gleiche Interesse, das einzelne wissenschaftliche Kritiker
an dem undemokratischen Charakter unserer Gesellschaft auch in den USA und
Großbritannien antreibt, immer wieder die gesellschaftspolitischen Ursachen für
Unterprivilegierung sozialer Gruppen, leistungsorientiertes Bildungssystem,
ideologischen Gehalt der Curricula, interessengeleitete Bildungspolitik u. ä. zu
ermitteln. Es ist dies ein Lehrstück dafür, wie das politisch orientierte
Interesse der Wissenschaft Fragestellungen erschließt und Forschungsresultate
erbringt, die für die Aufklärung des pädagogischen Handelns nicht gleichgültig
sein können.
[V26:3] Die Arbeit Friedhelm
Nyssens gehört in diesen Zusammenhang. Die Beziehungen zwischen
Wirtschaft und Schule sind nicht nur ein beliebiges Thema, sondern zielen auf
den Kern des Zusammenhangs von Politik und Pädagogik in unserer Gesellschaft.
Das gilt besonders, da es sich um eine ideologie|a 8|kritische
Untersuchung handelt, in der die Einflußchancen der Wirtschaft am Beispiel der
Interessenverbände analysiert werden. Der eindrucksvolle Versuch, solche
Einflüsse bis in den Schulalltag hinein zu verfolgen, wird mit Hilfe eines
eigentümlichen methodischen Verfahrens unternommen. Der gewaltige und von einem
Einzelnen gar nicht zu erbringende Aufwand einer empirischen Untersuchung
angesichts dieses Gegenstands wird vermieden. Stattdessen werden Inhaltsanalysen
von Publikationen vorgelegt, deren Einflußstärke durch vorliegende Daten über
gesellschaftspolitisch relevante Einstellungen von Lehrern abgeschätzt werden
kann. Kommunikationstheoretische Forschungsbefunde unterstützen die Ergebnisse
und stellen überdies die theoretische Vermittlung der Inhaltsanalysen von
Verbandsdokumenten mit den Einstellungen von Lehrern her. Die Arbeit zeigt
damit, daß auch ohne neuerliche empirische Forschungen durch kritische
Sekundäranalysen Ergebnisse gewonnen werden können, die den unmittelbar
empirisch erbrachten nicht nachzustehen brauchen, – ein Verfahren übrigens,
dessen sich die historischen Wissenschaften seit je bedienen, sofern sie
überhaupt an Aussagen über geschichtliche Wirkungen interessiert sind.
[V26:4] Dieses Buch wird viele verärgern. Es durchbricht das stillschweigende
Bündnis von Wirtschaft und Schule durch offene Kritik. Es hält den kritischen
Ansatz auch gegen die Gewerkschaften durch und wirkt gerade darin entschleiernd
und radikal. Nicht zuletzt ist dies sein Vorzug.