1. Curriculum-Forschung:
[046:15] In der sehr breiten und vielfältigen Forschungs-Diskussion,
die in den letzten Jahren über die Probleme des Curriculums geführt
wird, nehmen die unterrichtstechnologisch und
systemtheoretisch orientierten Ansätze den grössten Raum ein;
demgegenüber treten die inhaltlichen Fragen
immer stärker zurück. Aber gerade diese erscheinen mir als das
Schlüsselproblem einer Erneuerung des Bildungswesens:
[046:16] Welche Inhalte müssen in der Schule zur
Darstellung kommen und wie muss zwischen Lehrern und Schülern über
sie kommuniziert werden, damit der Schüler lernen kann, sich in eine
reflektierte Beziehung zu seiner gesellschaftlichen Lage zu setzen und zu produktiver Beteiligung fähig wird?
[046:17] Zur Beantwortung dieser Frage ist eine Curriculum-Forschung
nötig, die sowohl die
«geheimen Curricula»
der
verschiedenen Lebenswelten zum Gegenstand hat (Beispiel: die inhaltliche
Struktur proletarischer Lebenswelten) als auch neue Curricula im
Anschluss an solche Ermittlungen konstruiert.
3. Handlungs-Forschung (Action Research):
[046:19] Das Paradigma für Forschungsprozesse folgt in der
Bildungsforschung immer deutlicher der aus der Naturwissenschaft
stammenden Vorstellung, dass Forscher und Forschungsgegenstand deutlich
voneinander geschieden werden müssen, dass die Forschung so wenig wie
irgend möglich das Feld verändern dürfe, in dem sie arbeitet, dass der
Forscher also etwas grundsätzlich anderes tut als der Praktiker. Im
Falle der Innovationsforschung (Begleitforschung) heisst das in der
Regel: die Forschung misst die Anfangs- und die Endbedingungen eines
praktischen Versuchs; sie vermeidet alles, was im Verlauf des zu
messenden Prozesses diesen selbst beeinträchtigen könnte; andernfalls
leidet die Objektivität der ermittelten Resultate. Nun ist aber – im
Falle der Bildungsforschung – das Objekt der
Forschung ein Handlungsfeld, das u. a. durch die Intentionen der
Beteiligten, deren Handlungs- und Erkenntnis-Interessen strukturiert
ist. Dieses Objekt (Schüler, Lehrer, Eltern und deren
Interaktionen) würde zum Ding ohne eigene
Interessen verstümmelt, würde die Forschung strikt jenem Paradigma
folgen. Die Betroffenen erleben denn auch häufig die Forschung genau in
dieser Weise; sie argwöhnen – und in der Regel zu
Recht – dass die Forschung nicht ihren Interessen folgt, sondern
denen von Planungsinstanzen und Auftraggebern.
Bildungsforschung muss sich deshalb verstehen als ein Instrument
praktischer Selbstreflexion, mit dessen Hilfe Situationen hergestellt
werden, die neue Erfahrungen möglich machen – als ein Instrument in der
Hand der Praxis.
[046:20] So paradox es klingen mag: um wohlbegründete inhaltliche
Entscheidungen über die Gegenstände und die Prioritäten der
Bildungsforschung fällen zu können, ist es nötig, zunächst die formalen
Bedingungen für praxisnahe Legitimations- und Entscheidungswege zu
schaffen. Das bedeutet Unterordnung der Forschung
unter die Interessen der Betroffenen, das bedeutet — mit einem
leider modisch gewordenen Ausdruck – Demokratisierung des
Verhältnisses von Forschung und Praxis.