[V41:1] Seit etwa 15 Jahren ist in der Erziehungswissenschaft ein Prozeß im
Gange, der als Versuch einer sozial wissenschaftlichen Ortsbestimmung bezeichnet
werden kann. Dieser Versuch verlief bisher in drei Stufen: Zunächst wurden, in
Auseinandersetzung mit erziehungssoziologischen Thesen zur Schule, Freizeit und
Jugend gesellschaftliche Sachverhalte und soziologische Gesichtspunkte
ausdrücklich zum Thema in erziehungswissenschaftlichen Arbeiten gemacht. In dem
Maße, in dem aktuelle bildungspolitische Fragestellungen in die
Erziehungswissenschaft Eingang fanden und an sie die Erwartung gerichtet wurde,
bei der Lösung praktischer Probleme der Neuorganisation des Bildungswesens
effektiv mitzuwirken, wurden vor allem die Fragen der Bildungsungleichheit
interessant, die gar nicht anders als mit Hilfe sozialwissenschaftlicher
Theoreme sinnvoll erfaßt werden konnten: Das Studium der Bildungsbarrieren und
ihrer Ursachen begann. In der erziehungswissenschaftlichen Literatur findet sich
von nun an allenthalben der Verweis auf die Bildungsrelevanz von Schicht und
Geschlechtsrollenunterschieden, spezieller auf die Bedeutung der Sprachfaktoren,
der Erziehungsstile, der materiellen Bedingungen des Heranwachsenden. Damit
wurde – auf der dritten Stufe der Entwicklung –
»Sozialisation«
zu einem der beherrschenden Themen der pädagogischen
Diskussion. Es gibt heute kaum noch eine pädagogische Veröffentlichung –
gleichviel ob sie sich der Familie, der Schule, der Jugenddelinquenz, der
außerschulischen Jugendbildung zuwendet – in der nicht von Sozialisation die
Rede ist. Freilich wurde auch zunehmend deutlich, daß der Ausdruck
»Sozialisation«
in der Regel kein theoretisches Konzept
bezeichnete, sondern eher ein Sammelname für vergleichbare Fragestellungen war,
die sich nur sehr allgemein zusammenfassen lassen: das Interesse an der
Aufklärung über diejenigen Wege, auf denen ein heranwachsendes Individuum zum
Mitglied einer Gesellschaft bzw. einer gesellschaftlichen Subgruppe wird, ihre
Verhaltensmerkmale, Vorstellungen und Wertorientierungen teilt. Eine Fülle von
Einzeluntersuchungen siedelte sich in einem theoretischen Vakuum an. Es war die
Zeit der Sammelreferate zur Sozialisationsforschung mit der häufig auftretenden
rhetorischen Figur
»... Untersuchungen zur Sozialisation haben
erwiesen, daß ...«
[V41:2] In dieser Situation ist die ernsthafte Suche nach einer theoretischen
Begründung des Konstruktes
»Sozialisationsprozeß«
unabweislich, und|a 8| zwar nach zwei Seiten hin: Zum einen
mußte – da Sozialisation anders als Interaktion zwischen Individuen gar nicht zu
denken ist – ein sowohl beschreibender wie erklärender Ansatz für die Genese
sozialer, zwischenmenschlicher Strukturen im Individuum gesucht werden; zum
anderen mußten Fragen beantwortet werden, die sich auf die historische Bedingung
der Ermöglichung solcher Strukturen richten. Der Blick fiel auf Autoren, die –
bis dahin eher am Rande der Geschichte der Sozialwissenschaft gestanden – gerade
dies, wenigstens in der ersten Komponente, sich zum Gegenstand gemacht hatten:
Vor allem G. H. Mead und die an
ihn sich anschließende Tradition des
»Symbolischen
Interaktionismus«
. Die Frage, ob es sich dabei um Soziologie,
Sozialpsychologie oder Pädagogik handelt, ist müßig: Die Tatsache, daß Menschen
nicht nur mittels Symbolen interagieren, sondern daß das Heranwachsen von jungen
Generationen sich vornehmlich eben in diesem Medium vollzieht, ist für Erziehung
wie für Gesellschaft fundamental. Oder anders ausgedrückt: Es hat den Anschein,
als könnten wir Erziehungsvorgänge nur dann zureichend beschreiben und erklären,
wenn wir die Regeln menschlicher Interaktion kennen. Freilich darf das nicht so
geschehen, daß darüber die Frage nach den historischen Bedingungen dieser Regeln
vergessen wird. Diese Frage aber kann erst dann sinnvoll
beantwortet werden, wenn wir wissen, von welcher Art denn das beschaffen ist,
das historischen Bedingungen vermutlich unterworfen ist.
[V41:3] So scheint es an der Zeit zu sein, neben den vielen partiellen
Rezeptionen von Autoren der interaktionistischen Forschungstradition jenen
Theoriezusammenhang im ganzen darzustellen. Eine solche Aufgabe erscheint um so
sinnvoller, als hier schon jene Fragen aufgeworfen werden, die sich besonders
aus der
»Kritischen Theorie«
und der Linguistik gegenwärtig
für die Konstitution von Erziehungstheorien ergeben. Andererseits gibt es nicht
wenige Versuche, solche Fragen und mit ihnen das interaktionistische Paradigma
allzu eilig Vorbehalten und Kritiken auszusetzen, jedenfalls sofern es für die
Erziehungswissenschaften fruchtbar gemacht werden soll: Marxisten argwöhnen eine
neuerlich idealistische Wende der Erziehungswissenschaft, denn wie könnten sie
gelten lassen, daß das Substrat, in dem Gesellschaft und also auch Erziehung
wurzelt, nicht nur
»Arbeit«
ist? Eher positivistisch
orientierte Kritiker befürchten, daß normative Entscheidungen in die
Erziehungstheorie eingehen könnten, so z. B., wenn in der interaktionistischen
Theorie behauptet wird, daß nicht nur die Tatsache symbolischer Interaktion
beschrieben, sondern damit zugleich ein pädagogisch-praktisches Postulat
formuliert werde. Da ist es sinnvoll, die Geschichte des Interaktionismus und
seiner systematischen Positionen|a 9| – mit einem heutzutage
modern gewordenen Wort ausgedrückt: –
»aufzuarbeiten«
, d. h.
zur Kenntnis zu nehmen. Das vorliegende Buch erfüllt diese Aufgabe im Sinne
einer Einführung in die wesentlichen Fragestellungen und zudem in historische Anordnung. Es ist kein Kompendium des Interaktionismus; an vielen
Stellen wird die Originallektüre nützlich, wenn nicht notwendig sein. Aber auch
ohne den Rückgriff auf die
»Quellen«
wird der pädagogisch
interessierte Leser Schritt für Schritt erfahren, daß es sich hier in der Tat um
die Erörterung fundamentaler erziehungswissenschaftlicher und
erziehungspraktischer Fragen handelt, die nicht nur den Objektbereich, sondern
genauso die wissenschaftstheoretischen Grundlagen betreffen.