„Empirisch-analytische Wissenschaft“ versus „Pädagogische Handlungsforschung“ : eine irreführende Alternative [Textfassung a]
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Empirisch-analytische Wissenschaft
versus
Pädagogische Handlungsforschung
: eine irreführende Alternative

Zu den Beiträgen von Haeberlin und Blankertz/ Gruschka in diesem Heft

[051:1] Die Artikel von Haeberlin und Blankertz/Gruschka gleichen sich darin, daß in ihnen eine Gegenüberstellung von
empirisch-analytischer Sozialforschung
und
Handlungsforschung
offenbar für sinnvoll und klärend gehalten wird. Beide Beiträge haben uns indessen in der Meinung bestärkt, daß es wenig hilfreich ist, die mitunter schon alten Argumente immer neu, wenn auch in z. T. einleuchtender und dankenswerter Zusammenstellung (Haeberlin), zu wiederholen oder – in terminologisch anspruchsvoller Verpackung – undurchsichtig bleibende Erkenntnisprozeduren als
Handlungsforschung
zu empfehlen (Blankertz/Gruschka). Wir möchten im folgenden einige Probleme aufgreifen, die zu klären und im Hinblick auf ihre forschungspraktischen Konsequenzen zu durchdenken uns unerläßlich zu sein scheinen, und zwar gleichviel, welche
Vorlieben
(dieser Ausdruck erscheint uns zunächst angemessener als
Paradigma
) dieser oder jener Wissenschaftler hat. Wir können indessen auf knappen Raum vorerst nur einige dieser Probleme benennen und hoffen, durch die folgenden Thesen der weiteren Diskussion eine Richtung geben zu können.
[051:2] (1) Die in der Forschung verwendeten Operationen sind keine Erfindung der Wissenschaft. Sie entstammen allesamt dem Alltagshandeln, sind nur Verfeinerung bzw. Präzisierung von Alltagsoperationen (Verstehen, Deuten, Beschreiben, Messen, Vergleichen usw.). Auch
sinnverstehende Interpretation
folgt den Kriterien jener Operationen. Die Symbole des Alltagshandelns sind prinzipiell
Konstrukte
, wie die Konstrukte der wissenschaftlichen Theorie. Solche Konstrukte zu entschlüsseln, ihre gemeinte Bedeutung zu ermitteln, sie auf diejenigen Lebensoperationen zu beziehen, für die sie gemacht sind, für die sie gemeint sind, d. h. diejenige
Realität
nachzukonstruieren, die in ihnen
enthalten
ist: das nennen wir sinnverstehende Interpretation.
[051:3] Für die Dignität des Forschungsprozesses ist es unerheblich, ob dieses Verstehen sich auf einen Kommunikationspartner oder eine ganze Sprachgemeinschaft richtet, ob – um die Operation valider, reliabler und objektiver zu machen –
künstliche
methodische Arrangements mehr oder weniger sinnreich erfunden werden.
[051:4] (2) Man sollte sich unseres Erachtens deshalb von der Vorstellung befreien, derzufolge Instrumentarien und Verfahrensweisen der klassischen empirischen Forschung in einem methodischen Geheimarsenal angesiedelt sind.
Inhaltsanalyse
,
Soziometrie
,
Interaktionsanalyse
,
Experiment
usw. sind alltagssprachliche Phänomene, über deren Präzision man freilich streiten kann, deren Prämissen und Regeln zumeist unexpliziert bleiben: Eben hier setzt
Wissenschaft
im Bemühen um Explikation, Präzisierung und Kontrolle der Handlungsimplikate ein.
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[051:5] Selbst komplexere quantitative Verfahren lassen sich noch in der Alltagssprache fundieren. Der Satz
Die Schüler waren während des Ausflugs wesentlich gesprächiger als jetzt, was wohl auch auf das schöne Wetter zurückzuführen war
impliziert z. B. in einfachster Form (a) einen Mehrvariablen-Plan, für den bestimmte Verknüpfungsregeln behauptet werden, (b) eine doppelte Ordinalskalierung (wahrscheinlich unter Zugrundelegung von zwei diskreten Kontinua der Attribute
schön
und
gesprächig
), (c) die Behauptung einer (wahrscheinlichen) Kausalrelation, (d) die Behauptung einer Wechselwirkung, mit der die Prämissen für eine Mehrweg-Varianzanalyse oder für eine multiple Korrelation gegeben sind. – Solche Zusammenhänge sind freilich – nicht nur im Bereich empirisch orientierter Methoden – oft völlig vernachlässigt worden: Das führt dann zu unsinnigen Festlegungen z. B. von 5 %-Irrtumsrisiken, oberhalb derer Signifikanzen nicht mehr konstatierbar sein sollen oder zu faktorenanalytischen Dimensionierungen, die sich nicht mehr an der untersuchten Sache, sondern nur noch am Wunsch nach
Einfachstruktur
orientieren.
[051:6] (3) Prinzipien der empirisch-analytischen Wissenschaft können nicht mit Ausführungen von der Art, wie sie Blankertz/Gruschka vorgelegt haben, kritisiert werden. Auch das Wiederholen altbekannter Charakterisierungen empirischer Verfahren bringt uns nicht weiter. Wir möchten z. B. niemandem unterstellen, daß er den Wunsch nach Erforschung der
Erziehungswirklichkeit als ganzer
nicht für sinnvoll hält – aber die
Wirklichkeit
ist uns stets nur in Gestalt einer historisch gewordenen Begriffswelt segmentiert zugänglich.
Experiment
,
isolierte Bedingungsvariation
usw. auf der einen und
Totalität
auf der anderen Seite stellen falsche Alternativen her. Entscheidend ist allein, ob uns jene Theorien befriedigen können, durch die jene Segmenttheoreme mit umfassenderen Erklärungsversuchen verklammert werden können. (Dazu hat Holzkamp mit seinem konstruktivistischen Konzept sowie mit seiner Erörterung des Repräsentanz-Problems sehr konkrete und immerhin diskutierenswerte Beiträge vorgelegt.)
[051:7] Zurückzuweisen ist auch die Meinung, daß strenge empirisch-analytische Forschung einen statischen Objektbereich voraussetze, der zudem ein Lernen der Betroffenen ausschließe.
Ungeplante Einflüsse
und
dynamische Prozesse
werden nicht als unakzeptierbare Störgrößen angesehen – entscheidend ist allein, ob die beobachteten Prozesse kontrollierbar sind. Dabei ist nicht eine speziell wissenschaftliche Maxime angesprochen: Es ist das verbreitete Bestreben vernünftiger Subjekte, ihre
prekäre
Existenz durch rationale Kontrolle gesellschaftlicher Prozesse aus dem Zusammenhang von Unwägbarkeiten zu lösen, Handlungskonsequenzen antizipierbar zu machen, deren Kalkulierbarkeit ein zielgerichtetes Handeln menschlicher Individuen erst möglich macht. Die Bedingungen, unter denen Menschen kreativer, autonomer, kritischer zu handeln in der Lage sind, haben in diesem Zusammenhang seit je interessiert – und eben solche Veränderungen waren Gegenstand klassischer empirischer Untersuchungen (vgl. z. B. die Beobachtungen gruppendynamischer Sitzungen). Das Bemühen, ein Bedingungsgefüge interpretativ
in den Griff
zu bekommen, den Objektbereich also kontrolliert zu beobachten, findet nicht notwendig das angemessene Paradigma im Experiment (und in der isolierten Bedingungsvariation). Das Problem der Kontrolle von Störvariablen ist nämlich prinzipiell methodologisch nicht lösbar, weil es keine Methode gibt, mit der sich eine gültige Aussage darüber herbeiführen läßt, ob eine Bedingungsvariable mit
Störgrößen
konfundiert ist. Dabei ist vor allem entscheidend, daß Experimente unter |a 689|Umständen durch ihre Anlage eine solche Konfundierung erst herstellen (vgl. die Diskussion um Versuchsleiter-Effekte). Wir wollen damit die Notwendigkeit experimenteller Verfahrensweisen keinesfalls bestreiten, weisen jedoch die Annahme zurück, daß eine möglichst weitgehende experimentelle Kontrolle von
Störgrößen
in jedem Fall eine Lösung des Kontrollproblems am ehesten verspricht. Hingegen ist es für die Repräsentation allgemeiner Theorien durch spezielle Realisationen unter Umständen völlig belanglos, ob diese Realisationen in Form
künstlicher Experimente
oder
natürlicher Feldstudien
erfolgen. Das eine wie das andere kann niemals voll repräsentativ für alle in der Allgemeinaussage angesprochenen Fälle sein. Daher interessiert primär nicht die
Natürlichkeit
und
Lebensnähe
der Realisationen, sondern die Qualität der Repräsentationstheorie, in der das Prüfungsverfahren mit der zu prüfenden Theorie verbunden wird.
[051:8] Daraus folgt, daß sich niemand von
der
(imaginären) empirischen Forschungsmethodik mit dem Hinweis darauf distanzieren kann, er wolle die
Faktizität der Daten im Bewußtsein der Menschen aufheben und sich dieses Prozesses empirisch vergewissern
. Solche Bemühungen werden durch die klassischen Forschungsmethodologien überhaupt nicht ausgeschlossen; zu diskutieren ist lediglich, welche Aussagen über Handlungssequenzen, sozialstrukturelle Bedingungen usw. wir nach welchem (immer vorauszusetzenden) metatheoretischen Reglement anerkennen wollen. Eine Antwort darauf gibt das von Blankertz/Gruschka angeführte Beispiel gewiß nicht.
[051:9] (4) Haeberlin referiert zutreffend, daß die
Rechtfertigung der empirisch-analytischen Wissenschaft im praktischen Lebenszusammenhang
in der Möglichkeit liege, ihre Sätze prognostisch auf Handlungszusammenhänge anzuwenden. Wir fragen, ob irgendeine Form sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, die diesen Namen verdient, denkbar ist, für die das nicht gilt. Schon für das Alltagshandeln ist – sofern es sich nicht um reine Expression handelt – die Verwendung prognostischer Sätze in dem Sinn konstitutiv, daß es überhaupt nur unter der Bedingung zustandekommt, daß der Handelnde Annahmen über die Wirkungen seines Handelns macht – seien es nun Wirkungen auf andere Personen, auf Sachen oder sich selbst. Der Begriff des
Motivs
– wenn wir nicht instinktgeleitete Funktionskreise annehmen wollen – und zumal jener der
Intention
ist anders gar nicht denkbar. Noch im Fall der Selbstreflexion, in der das Subjekt sich über seine Situation, deren Implikate und Bedingungen aufzuklären sucht, spielt prognostisches Wissen eine nicht zu unterschlagende Rolle, sofern solche Reflexion ihr Ziel in der Orientierung des eigenen Handelns sucht. Anderenfalls müßte eine Reflexion denkbar sein, in der alle
weil
-
um
-
zu
-,
wenn-dann
- usw. -Konstruktionen aufgegeben würden. Diejenigen, die ihre Forschungsprojekte als
Handlungsforschung
bezeichnen oder empfehlen, tun nichts anderes: Auch sie wollen Forschungsergebnisse produzieren, die für das Handeln verwendbar sind. Wir können uns nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte, ohne auf Schritt und Tritt, in wie schlecht geprüfter Form auch immer, prognostische Sätze zu verwenden.
[051:10] (5) Unter den von Haeberlin referierten Einwänden gegen die empirisch-analytische Forschungsmethodik spielt das sogenannte Zum-Objekt-Machen der untersuchten Population eine besondere Rolle. Die apodiktischen Formulierungen des Zitats von |a 690|
Fuchs
(
ihr die Möglichkeit nimmt, auf die angebotenen Stimuli subjekthaft ... einzugehen
) täuschen darüber hinweg, daß – wie wir meinen – die Behauptung der Alternative (Methoden der empirischen Sozialforschung/Handlungsforschung) in diesem Punkt ihre Tücken hat. Was heißt denn
subjekthaft
? Wenn Blankertz/Gruschka über ihr Projekt und die vermuteten Einstellungen der Beteiligten näher berichten – das gehört doch auch zum Forschungsprozeß –, was tun sie dann mit der
Subjekthaftigkeit
dieser Leute im Augenblick der Niederschrift? Wir behaupten: Ohne solche Distanzierung, ohne das Zum-Objekt-Machen dessen, worauf sich der Erkenntnisvorgang richtet, kommt letzterer überhaupt nicht zustande, selbst noch im Fall der Selbstreflexion. Auch das gilt schon für das Alltagshandeln. Wir können vielleicht
subjekthaft
miteinander weinen, lachen, spielen oder einen
freien Diskurs
miteinander führen, aber schon arbeiten können wir nicht mehr, wenn die
Subjekthaftigkeit
nicht partiell reduziert wird. Wie weit sie in einem Forschungsprozeß reduziert werden sollte, dafür kann es keine allgemein verbindliche Anweisung geben; es hängt ab vom Forschungsziel und der Beschaffenheit des
Gegenstandes
.Das Problem, daß dieser
Gegenstand
mindestens partiell zum
Objekt
wird, kann nicht eliminiert werden. Wenn ich das Verhalten eines zweijährigen Kindes studieren möchte, ist die Forderung, es unter keinen Umständen zum Objekt zu machen, absurd. Vor allem dürfte ich die Erkenntnis, die ich im Umgang mit ihm gewinne, nicht ohne seine Zustimmung verwenden. Es wäre nützlich zu überlegen, wie überhaupt Ideologiekritik als Forschungsprozeß möglich sein sollte, wenn nicht um den Preis des Zum-Objekt-Machens derjenigen Population, der ich Ideologien nachweisen möchte – ganz abgesehen davon, daß der Begriff selbst bereits eine reduzierte
Subjekthaftigkeit
der Probanden unterstellt. Kurz: Die Klärung solcher Fragen scheint uns, zumal für die pädagogische Forschung, nützlicher als der Handel mit methodologisch gemeinten Stereotypen.
[051:11] (6) Die Beschränkung empirisch orientierter Methodologien auf (empirisch falsifizierbare) Existenz- und Konditionalaussagen ist illusionär. Nicht in dem Sinn, daß eine empirische Falsifikation von Werturteilen, Handlungszielen usw. möglich erscheint, politische Handlungsregulative sind vielmehr diesem Konzept impliziert. Für die Anerkennung von falsifikationsfähigen Basissätzen wird, als gleichsam unterste methodologische Ebene, der Wahrheitskonsens einer Forschergemeinschaft vorausgesetzt. Die Frage, unter welchen Bedingungen ein solcher – zu Basissätzen führender – Verständigungsprozeß zustande kommen kann, ist von orthodoxen kritischen Rationalisten in den Bereich der Tatsachenfragen verwiesen worden, in den Bereich psychologischer oder soziologischer Überlegungen, die mit jenem der Geltungsfragen nicht verwechselt werden darf. Indessen haben zumindest die Ausführungen darüber, welche Struktur von Redesituationen ein solcher (freilich auch in psychologischen und soziologischen Termini beschreibbarer) Wahrheitskonsens unterstellen muß, nachdrücklich verdeutlicht, daß es sich hier um eine zentrale wissenschaftsmethodologische Frage handelt. Die für jene vielzitierte freie und kritische Diskussion der Forscher vorauszusetzenden
symmetrischen
Chancen, Dialogrollen wahrzunehmen und Sprechakte auszuführen (Habermas), weisen auf die Rechtfertigung politischer Handlungsregulative, die solche Chancen herrschaftsfreier Kommunikation gewährleisten. Daß die den Verständigungsakten der Forscher unterstellten symmetrischen Dialogsituationen kontrafaktisch sind, weist nicht auf interne Widersprüche des Falsifikationskonzepts, sondern auf das Ziel, das objekt|a 691|sprachlichen Bemühungen gegeben werden muß, wenn jener auf eben diese Bemühungen bezogenen Wissenschaftslehre Sinn zukommen soll. Freilich betrifft dies nicht nur jene Forscher, die auch im elfenbeintürmernen Zirkel noch durch Zwänge der erwähnten Art bestimmt sind und irrtümlich eine von der sonstigen Gesellschaft absentierte freie Diskussionsgemeinschaft zu finden hoffen. Es betrifft vielmehr den Kommunikationszusammenhang von Forschenden und zu Erforschenden insgesamt wie auch seine Rahmenbedingungen, da die letzten
falsifizierenden
oder
bewährenden
Instanzen aller sozialwissenschaftlichen Bemühungen die wahrhaftigen introspektiven Urteile der Betroffenen selbst sind. Wie für den Dialog der Forscher untereinander, so ist daher auch für die Verständigung der Forscher mit denen, auf die sich die Forschung bezieht, die Frage nach dialogkonstituierenden Universalien zu stellen. Hier wie dort sind für den Wahrheitskonsens
symmetrische
Chancen zu unterstellen, Dialogrollen wahrnehmen und Sprechakte ausführen zu können. Hier wie dort muß deshalb ein Interesse an den
Wirkungen der Wissenschaft auf das Leben
methodologisch relevant sein.
[051:12] (7) Für jede Tatsachenaussage, der eine Unterscheidung von
Sein
und
Schein
, eine zumindest implizierte Beurteilung als wahr oder falsch zugrunde liegt, müssen Kriterien der Geltungsfestsetzung (oder metasprachliche Prämissen) vorausgesetzt werden. Unerheblich ist, ob jemand Theorie für unwichtig hält: Er ist zu sinnvollem und zielgerichtetem Handeln nur dann in der Lage, wenn er Konsequenzen seines Handelns zu antizipieren vermag (was sich in der Form von Konditionalsätzen darstellen läßt) und wenn er zugleich diese Antizipationen (zumindest naiv) anerkennt, nicht jeder anderen möglichen Antizipation gleichsetzt usw. (was einem – jenen objektsprachlich darstellbaren Bemühungen übergeordneten – metasprachlich darstellbaren Geltungsmodell entspricht). Mit anderen Worten: Man kommt, nenne man sich nun Handlungsforscher oder sonstwie, um eine methodologische Trennung von – wie es Popper nannte – Tatsachenfragen und Geltungsfragen nicht herum, sofern eine Problematisierung von Handlungszusammenhängen überhaupt zur Diskussion steht. Insofern sollte man auch nicht objektsprachliche Aussagen (etwa über die Wirkungen der Wissenschaft auf das
Leben
oder über politische Restriktionen der Forschung) gegen metasprachliche Regeln aufrechnen, mit denen gerade versucht wird, Geltungskriterien für den erstgenannten Typus festzulegen. Das soll allerdings nicht heißen, daß jene Geltungsfragen notwendig durch den Kritischen Rationalismus zulänglich verwaltet werden, aber es zeigt, daß eine Kritik dieser Wissenschaftslehre ihrerseits wiederum ein Geltungsmodell voraussetzen muß, dessen Applikation jene Kritik erst sinnvoll macht. Und solche metatheoretischen (oder meta-metatheoretischen) Modelle beschreiben tatsächlich nicht, was wir tun sollen oder warum dieses oder jenes Ereignis eingetreten ist, sondern sie geben die Prämissen und Regeln an, die es uns erlauben, dieses oder jenes als wahr oder falsch, als richtig oder unrichtig zu bezeichnen.
[051:13] Es mag – mit Hinsicht auf den Artikel Haeberlins – noch der Hinweis angebracht sein, daß Wissenschaftstheorien nicht mit wissenschaftlichem Handeln gleichgesetzt werden sollten, daß mithin, weil eine solche Theorie nicht auf moralisches Handeln bezogen ist, auch dieses Handeln selbst
außerhalb der Wissenschaft
sei. Selbst wenn man das Falsifikationskonzept zugrunde legt, können moralische Handlungen (aber auch Urteile von der Art
X beutet Y schamlos aus
) in wissenschaftlichen Handlungszusammenhän|a 692|gen legitimiert werden, etwa in der Form von Deduktionen aus vorgegebenen Obersätzen, verborgenen Prämissen usw. Aber
wissenschaftliches Handeln
findet im Kritischen Rationalismus vielleicht auch nicht die besten theoretischen Prämissen. Holzkamp hat versucht, die – um mit Blankertz/Gruschka zu sprechen –
systematischen Friktionen der Forschungspraxis an die Methodologiedebatte anzubinden
, wie problematisch sein Exhaustionsverfahren auch sein mag; auch das Konzept T. S. Kuhns oder die
anarchistischen
Wissenschaftslehren P. K. Feyerabends dürften Gewinn für erziehungswissenschaftliche Erörterungen bringen.
[051:14] (8) Schließlich: Blankertz/Gruschka glauben, mit der skizzenhaften Darstellung einer Episode aus ihrer Begleitforschung etwas zur Aufhellung der methodologischen Probleme beigetragen zu haben. Uns blieb völlig unklar, was nun auf diese Weise geklärt wurde oder auch geklärt werden sollte. Was hat denn – nach der vorliegenden Skizze – die Begleitforschungsgruppe getan? Offenbar dies:
  • (a)
    [051:15] Sie hat zunächst, vielleicht mehr oder weniger vorläufig, für sich entschieden, daß
    Kollegstufen-Reform
    ein relevanter Gegenstand ihres Erkenntnisinteresses ist. Dabei spielten vermutlich Theorien eine Rolle, deren Gültigkeit nach Kriterien (nach welchen?) geprüft wurde: ebenso wie praktische Annahmen über mögliche Realisierungsschritte, erfolgreiche wissenschaftliche Beteiligung usw., also prognostische Sätze über die Funktion einer wissenschaftlichen Begleitung.
  • (b)
    [051:16] Sie beobachtete unter den beteiligten Lehrern einen normativen Dissens. Wir nehmen an, daß diese Beobachtungen für den gemeinten Zweck hinreichend
    gültig
    ,
    zuverlässig
    und
    objektiv
    waren und nicht nur eine Meinung der beiden Verfasser des vorliegenden Artikels sind.
  • (c)
    [051:17] Sie hat beobachtet (bzw. wurde darüber informiert), daß im Zusammenhang mit dem normativen Dissens Tatsachenbehauptungen eine Rolle spielen, über deren Triftigkeit keine hinreichende Gewißheit unter den Beteiligten besteht. Diese Gewißheit aber ist von Bedeutung für das Handeln (für praktisch-schulpolitische Entscheidungen), da sie wichtige handlungsrelevante Argumente schwächen oder stützen kann.
  • (d)
    [051:18] Die Begleitgruppe entwirft daraufhin verschiedene empirische Forschungsdesigns, um sich so über diejenigen Informationen genauer zu verständigen, die zur Klärung der strittigen Frage hilfreich sein können. Vermutlich wurden dabei auch die beteiligten Lehrer über die inhaltlichen Konsequenzen informiert, die mit der Wahl verschiedener Methoden Zusammenhängen.
[051:19] An keiner Stelle dieses Prozesses sehen wir irgendeine Verletzung der forschungslogischen Postulate, die der empirisch-analytischen Wissenschaft zugrunde liegen, es sei denn, die Begleitgruppe hat den Lehrern gegenüber Werturteile als Sachurteile ausgegeben (d. h. versteckt und nicht offen normativ argumentiert), ihre Tatsachenbehauptungen auf Intuition gegründet, bei der Konstruktion der Befragungsmethode vernachlässigt, daß die ermittelten Daten möglichst weitgehend von dem subjektiven Eindruck des Befragenden unabhängig gültig sein sollten usw. Wir vermuten, daß die Begleitgruppe alles dies erwogen hat. Was bringt das Beispiel? Nichts außer der Information, daß im Kollegstufen-|a 693|Projekt offenbar auch – vor der Formulierung von Hypothesen und der Konstruktion von Untersuchungsinstrumenten – die Relevanz des Forschungsgegenstandes diskutiert wird. Mit wem diese Diskussion geführt wird, ist forschungslogisch völlig uninteressant; daß sie geführt wird, ist interessant lediglich für die Definition des Gegenstandes. Daß sie geführt werden sollte – und zwar tunlichst mit denen, die in ihrem Handeln von den zu erwartenden Ergebnissen des Forschungsprozesses betroffen sind –, ist für denjenigen ein naheliegendes Postulat, der sich schon einmal den empirischen Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Themenwahl und gesellschaftlichen Bedingungen wie auch Wirkungen solcher Wahl zum Gegenstand gemacht hat – nach den Regeln, die für die Triftigkeit wissenschaftlicher Sätze gelten sollten, versteht sich.