Nachwort [zu Birke u. a., Jugendhilfeforschung] [Textfassung a]
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Nachwort

[V43:1] In der empirischen Jugendhilfeforschung ist seit einigen Jahren eine Umorientierung im Gange. Sie wird erkennbar an drei Akzenten in der Forschungspraxis: Nach anfänglich nur vereinzelten Versuchen am Beispiel geschlossener Einrichtungen mehrten sich ungefähr seit 1969 Fall-Studien, in denen problematische
Karrieren
bzw. begrenzte
Interventions-Felder
detailliert unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktionsweise beschrieben wurden (z.B. Moser/Künzel 1969; Wenzel 1970; Haag 1971; Bonstedt 1972; Aich/Bujard 1973; Colla 1973; Homfeld 1974); ferner begann ungefähr zur gleichen Zeit die Rezeption des
Symbolischen Interaktionismus
, insbesondere der für die Jugendhilfe besonders interessanten Arbeiten von Goffman und Cicourel (Thiersch 1969; Mollenhauer 1970) und setzte in der Kriminologie die Diskussion um den dem Interaktionismus entstammenden
labeling approach
ein, in der Zuschreibungsregeln für deviantes Verhalten und damit die Tätigkeit der intervenierenden Instanzen (Jugendamt, Polizei, Jugendgericht) zum Gegenstand gemacht wurden (z.B. Sack 1968; Kriminologisches Journal 1969 ff.; Brusten 1973); schließlich gewann unter dem Namen
Handlungsforschung
eine Forschungsstrategie Bedeutung, die sich dadurch grob kennzeichnen läßt, daß hier der Forschungsgegenstand schon während des Forschungsprozesses verändert wird, die Praktiker am Forschungsprozeß beteiligt werden (z.B. Bittner/Flitner 1969, Haag u.a. 1972).
[V43:2] Das im vorliegenden Bericht teilweise dargestellte Forschungsvorhaben begann, als jene Entwicklung noch ganz in ihren Anfängen steckte. Die Akzente, die der Antrag (vgl. S. 25 ff.) setzte, versuchten aufzunehmen, was
in der Luft lag
, besonders aber, was in solcher Situation der angelsächsischen Forschung zu entnehmen war: Interaktionsprobleme zwischen Sozialarbeitern und Klienten; institutionelle Bedingungen solcher Interaktionen; psychosoziale Genese von Problemen, die von den Kontrollinstanzen als interventionsbedürftig klassifiziert werden. Die Vermutung lag nahe, daß ein Forschungsprozeß, der diese drei Akzente gleichgewichtig berücksichtigen will, nicht auf
Repräsentativität
abstellen konnte, sondern
Repräsentanz
zunächst nur für ein begrenztes Feld anzuzielen hatte. Das Vorbild der
Gemeindestudie
schien diejenigen Bedingungen zu enthalten, die für eine Integration der drei Akzente notwendig waren.
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[V43:3] Auf dieser Grundlage nun ließ sich zwar ein mindestens plausibles Forschungskonzept formulieren – welche Probleme indessen entstehen, wenn ein am Schreibtisch eines einzelnen entworfenes Projekt in die Erkenntnispraxis einer Gruppe überführt werden soll, das dokumentiert der vorliegende Bericht auf überzeugende Weise. Ich will diese Probleme noch einmal knapp skizzieren, und zwar so, wie sie mir als dem Antragsteller und sogenannten
Projektleiter
erscheinen.
[V43:4] Da ist zunächst die problematische Rolle des antragstellenden Ordinarius selbst: Aus seiner wissenschaftlichen Arbeit und seinen praktischen Interessen hat er sich eine Vorstellung von
relevanten
Gegenständen der Forschung, von erfolgversprechenden Methoden gebildet; er hat ein Interesse an Erkenntniszuwachs in einem bestimmten Objektbereich und in bestimmter Richtung entwickelt und versucht – im optimalen Fall in Kooperation mit den an der Hochschule angestellten Mitarbeitern und dem einen oder anderen Kollegen – dieses Interesse zu realisieren, z.B. mit Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Nun entstehen mindestens drei Schwierigkeiten. Befinden sich in seiner näheren Umgebung keine Mitarbeiter, die bereit wären, das Projekt durchzuführen – sei es, weil das Institut zu klein ist oder sei es, weil die Mitarbeiter ihre je eigenen Forschungsinteressen nicht aufgeben oder in der Lehre bleiben wollen –, dann muß er neue Mitarbeiter für sein Projekt interessieren; da diese aber an der Formulierung des Forschungskonzeptes nicht beteiligt waren, entsteht der Eindruck der Abstraktheit (S. 29), so wie es jedem ergehen kann, der sich einem intellektuellen Produkt gegenüber sieht, dessen Produktionsprozeß für ihn verborgen bleibt. Außerdem entsteht auf diese Weise eine
Autoritäts-Beziehung
: Die geworbenen Mitarbeiter müssen sich mit einer Vorgabe auseinandersetzen; mindestens müssen sie den Anschein erwecken, als könnten sie sich den Forschungsplan in seinen wesentlichen Teilen zu eigen machen; sie produzieren ihn nicht, sondern sind gehalten – sofern sie an diesem Arbeitsplatz interessiert sind –, ihn zu reproduzieren, allenfalls ihn weiter zu entwickeln; die erkenntnisstrategischen Entscheidungen hat der Ordinarius getroffen; als Erkenntnis-Subjekte sind die Mitarbeiter der Forschungsgruppe wenigstens partiell entmündigt. Und schließlich hat der Initiator des Projektes (Ordinarius) ein Interesse daran, daß das Projekt auch dem Ausbildungszusammenhang zugute kommt und Studenten die Möglichkeit der Mitarbeit bietet; er sieht |a 206|deshalb in seinem Ansatz nicht nur Stellen für Mitarbeiter mit abgeschlossener akademischer Ausbildung vor, sondern auch solche für Mitarbeiter im Studenten-Status (wissenschaftliche Hilfskräfte). Nun ist – und zwar keineswegs willentlich erzeugt – die traditionelle hierarchische Arbeitsteilung innerhalb der Hochschule in ihrem Grundmuster komplett: Der Ordinarius (Antragsteller und sogenannter Projektleiter) hat die strategisch wichtigen Entscheidungen getroffen; die wissenschaftlichen Mitarbeiter haben nur eine Einstellungschance, wenn sie die Entscheidung akzeptieren und sich auf Modifikationen beschränken; die Hilfskräfte bleiben auf forschungstechnische Arbeiten beschränkt. Die erste Aufgabe der so entstandenen Forschungsgruppe besteht – wenn man sich mit dem Automatismus dieses Vorgangs nicht zufrieden gibt – darin, dieses Grundmuster zu liquidieren. Das bedeutet für den Ordinarius, daß er eine Entscheidung zwischen zwei Alternativen fällen muß: Entweder muß er sich – mit einem den Mitarbeitern vergleichbaren Aufwand an Energie und Zeit – in die Forschungsgruppe integrieren oder er muß ihr Selbständigkeit zugestehen, wenn er nicht an einer abstrakten und im Forschungsprozeß nicht legitimierten Autorität festhalten will. Wählt er die erste Alternative, braucht er mindestens ein Freisemester –wählt er die zweite, riskiert er eine Veränderung des Projektes im Prozeß, was ihn wiederum in Legitimationsschwierigkeiten dem Geldgeber gegenüber bringen kann.
[V43:5] Jetzt beginnt die zweite Schwierigkeit: Nicht nur der Ordinarius/Antragsteller/Projektleiter hat formulierte wissenschaftliche Interessen, sondern auch die Mitarbeiter der Forschungsgruppe; mindestens entwickeln diese solche Interessen in der Auseinandersetzung mit dem Projektplan. Da es sich – wie in der Jugendhilfeforschung dringend zu wünschen – um Wissenschaftler verschiedener Studienherkunft (Pädagogik, Psychologie, Soziologie) handelt, also um eine interdisziplinäre Zusammensetzung, sind mindestens zwei Variable im Spiel: die fachspezifischen Theorien, nach denen die Mitarbeiter mögliche Erkenntnisgegenstände auswählen, konstruieren und zu interpretieren versuchen (z.B. psychoanalytische Theoreme, Sozialstruktur-Theoreme, Interaktions-Theoreme) – und die Nähe oder Interessiertheit für praktische Handlungszusammenhänge im Jugendhilfefeld. Interdisziplinäre Forschung – wenn sie mehr sein soll als eine Addition von Forschungsergebnissen zum gleichen Gegenstand – bedeutet also einen Prozeß der theoretischen Konsens-|a 207|Bildung in jenem Koordinaten-System theoretischer Wahlen und praktischer Interessen. Auch so etwas will gelernt sein; wie schwierig ein solcher Lernprozeß ist, dafür ist der dritte Teil des Berichts ein eindrucksvolles Dokument: Die drei Ansätze (Problemfamilien, rechtssoziologische Probleme der Jugendhilfe, psycho-soziale Entwicklung und Verwahrlosung) sind in der Tat theoretisch kaum in eine Kontinuität zu bringen und geben Zeugnis von den Problemen, denen sich eine Forschungsgruppe gegenüber sieht, die mit jenem theoretischen Konsens Ernst machen will.
[V43:6] Die dritte Schwierigkeit ist vielleicht die bedeutendste: Ein Forschungsprojekt, das nicht nur der Konstruktion und Überprüfung von Theorien aus dem akademischen Zusammenhang dienen, sondern der Praxis unmittelbar zugute kommen soll, braucht den engen Kontakt zu den Praktikern und den Menschen, die das Untersuchungsfeld
bevölkern
. Diese Kontakt-Dichte erscheint mir um so mehr geboten, je größer die Wahrscheinlichkeit ist, daß die Problemdefinitionen der Wissenschaftler und die der
Untersuchungsobjekte
sich nicht decken. Das aber ist in der Jugendhilfe der Fall. Die Mitglieder einer Forschungsgruppe stehen also nicht nur vor den Problemen einer befriedigenden Kommunikation miteinander, sondern vor dem ebenso wichtigen, aber ungleich schwierigeren, eine beiderseitig befriedigende Kommunikation mit den
zu Erforschenden
aufzubauen. Das erfordert ein hohes Maß an Sensibilität, Frustrationstoleranz, auch Selbstkritik und Lernfähigkeit, das leider nicht zum selbstverständlichen Bestand unserer akademischen Ausbildungsziele gehört. Im Hinblick auf diese, für eine praxisnahe pädagogische Forschung eigentlich unerläßlichen, Vorbedingungen sind die meisten von uns Wissenschaftlern Analphabeten. Wenn ich es könnte und wenn ich Pflichtlektüren für vernünftig hielte: Den 5. Teil des Berichtes würde ich für alle, die sich an Hochschulen mit sozialpädagogischen Problemen befassen, zur Pflichtlektüre machen. Die Sorgfalt der hier vorgelegten Selbstanalyse bringt besser als methodologische Programm-Erklärungen die Probleme einer Forschungspraxis zur Sprache, die für das Handeln gut sein will und ihre politische Verantwortung ernst nimmt. Meinetwegen mag man das dann Handlungsforschung, action research, Innovations-Forschung, emanzipatorische Forschung, Projekt-Arbeit oder wie immer man will nennen – programmatische Vokabeln, hinter denen sich mitunter nur Praktizismus, theoretische Impotenz oder Schwäche des methodologischen Nachdenkens verbergen. Was pädago|a 208|gische Forschung sein könnte, das habe jedenfalls ich an diesem Text besser als irgendwo sonst lernen können. Forschungsgruppen wären gut beraten, wenn sie der Öffentlichkeit derart Einblick in ihre Erfahrung, Irrtümer und Umwege vermitteln würden, wie das hier geschehen ist. Die Methodendiskussion in der Erziehungswissenschaft würde wieder produktiv werden.

Literatur

    [V43:7] Aich, P., und Bujad, O.: Soziale Arbeit: Beispiel Obdachlose. Eine kritische Analyse, Köln 1972
    [V43:8] Bittner, G., und Flitner, A.: Aufgaben und Methodik sozialpädagogischer Untersuchungen. Zum Konzept der praxisbegleitenden Forschung, in: Z.f.Pädagogik: 1969, S. 63 ff.
    [V43:9] Bonstedt, Ch.: Organisierte Verfestigung abweichenden Verhaltens, München 1972
    [V43:10] Brusten, M.: Prozesse der Kriminalisierung. Ergebnisse einer Analyse von Jugendamtsakten, in: Otto, H.-U./Schneider, S. (Hg.): Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, 2. Halbband, Neuwied/Berlin 1972
    [V43:11] Colla, H.E.: Der Fall Frank, Neuwied/Berlin 1973
    [V43:12] Haag, F.: Wohnungslose Familien in Notunterkünften. Soziales Bezugsfeld und Verhaltensstrategien, München 1971
    [V43:13] Haag, F., Krüger, H., u.a.: Aktionsforschung, München 1972
    [V43:14] Homefeld, H.-G.: Wie Ali und Werner vom Schulbesuch ausgeschlossen wurden, Essen 1974
    [V43:15] Kriminologisches Journal: 1969 ff.
    [V43:16] Mollenhauer, K.: Bewertung und Kontrolle abweichenden Verhaltens. Aporien bürgerlicher Pädagogik, Antrittsvorlesung an der Universität Frankfurt 1970, in Hoffmann, D./Tütken, H. (Hg.): Realistische Erziehungswissenschaft. Heinrich Roth zum 65. Geburtstag, Hannover 1972, S. 241 f.
    [V43:17] Moser, T., und Künzel, E.: Gespräche mit Eingeschlossenen. Gruppenprotokolle aus einer Jugendstrafanstalt, Frankfurt 1969
    [V43:18] Quensel, S.: Wie wird man kriminell? In: Kritische Justiz: 1970, S. 375 ff.
    [V43:19] Sack, F., und König, R. (Hg.): Kriminalsoziologie, Frankfurt 1968
    [V43:20] Thiersch, H.: Stigmatisierung und Verfestigung abweichenden Verhaltens, in: Z.f.Pädagogik: 1969 ff.
    Wenzel, H.: Fürsorgeheime in pädagogischer Kritik, Stuttgart 1970.