Familiale Kommunikationsstrukturen – Zwischenbericht einer Untersuchung
[055:1] Die hier vorgelegten Ausschnitte aus unserer Untersuchung sind eher
ein Werkstattbericht als ein schon
«ausgereifter»
Beitrag
zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung in der pädagogisch interessierten
Familien- oder Sozialisationsforschung. Die Untersuchungsplanung – angeregt
und unterstützt durch die Kommission zur Erstellung des Zweiten
Familienberichts der Bundesregierung (1975) – hat auf lange Sicht mehr im
Sinn, als der Kommission bei der Auffüllung von Datenlücken behilflich zu
sein. Wir sind auf der Suche nach einem Ansatz für
Sozialisationsuntersuchungen, der nicht nur für die Diskussion der
«Forschergemeinschaft»
von Interesse ist, sondern auch
den pädagogisch Handelnden sich als nützlich erweist.
1.Die Ausgangsfrage
[055:2] Die Ausgangsfrage unserer Untersuchung ergibt sich aus einem dreifachen Unbehagen:
[055:3] 1. Die Sozialisationsforschung – und die pädagogisch interessierte
Familienforschung ist ein Teil von ihr – produziert im Regelfall, jedoch
dort, wo sie strikt empirisch verfährt, einen speziellen Wissenstyp: auf das
pädagogische Handeln gemünzte Wenn-Dann-Empfehlungen, die nach der Art von Techniken erfolgreich
oder nicht erfolgreich befolgt werden können, für deren Befolgen aber als
unterstellte Voraussetzungen gilt, daß der Handelnde sich vornehmlich
Wissen, am besten psychologisches aneignen müsse. Die soziologische Version
unterscheidet sich davon nicht grundsätzlich; nur ist ihr
«idealisierter»
Adressat nicht der einzelne Handelnde, sondern es
sind planende Kollektive. In beiden Fällen kommt unseres Erachtens zu kurz,
daß pädagogisches Handeln es allemal mit einer, mehr oder weniger gut
gelingenden Reflexion von aktuellen Beziehungen zu tun hat. Es fragt sich
natürlich, ob damit überhaupt ein möglicher Gegenstand empirischer
Wissenschaft bezeichnet ist.
[055:4] 2. Die Sozialisationsforschung hat sich ferner – und auch das gilt
natürlich nur für den Regelfall – in ein
«normatives
Schlepptau»
nehmen lassen. Sie ist, jedenfalls bei uns in Deutschland
und im Umkreis der Pädagogik und Bildungsforschung, erst richtig in Gang
gekommen, als es galt, der erstaunlichen Ungerechtigkeit in unserem
Bildungswesen hinter die Ursachen zu kommen und einer neuen Erziehungs- und
Bildungsplanung die Argumente zu liefern. Das bedeutete, daß bestimmte gesellschaftliche Erwartungen, die
Standards des
«Schulerfolges»
, zum
Kriterium (im Sinne der unabhängigen Variable) der Forschung wurden. Die im Bildungswesen institutionalisierten
Lernziele präformierten damit die
«Erkenntnisinteressen»
der Forscher. So etwas ist sicher nützlich – allerdings nur solange, als man
jene Lernziele voll akzeptiert. Interessiert sich ein Sozialisationsforscher
für andere Ziele – wie das z. B. die psychoanalytische Forschung seit langem
tut – erscheint ihm vielleicht jene Orientierung an den Bildungsstandards
weniger nützlich. Er könnte z. B. postulieren, daß nicht die
Sozialisationsforschung den Interessen des Bildungswesens, sondern dieses
und unser Erziehungssystem im Ganzen anderen Zielen, anderen Kriteri|a 105|en folgen solle und infolgedessen auch die
Sozialisationsforschung ihren Erkenntnisgegenstand umdefinieren müsse.
[055:5] 3. Schließlich leidet die Sozialisationsforschung an einem Mangel,
den wir in der hier vorliegenden Untersuchung – auf vielleicht etwas
übertriebene Weise – auszugleichen suchen: sie interessiert sich, wo sie
pädagogische Sachverhalte im Auge hat, nahezu ausschließlich für
«Erzieherisches»
. Das ist nun auf den ersten Blick gewiß
kein Mangel, dem Anschein nach aber ein ungereimter Vorwurf. Indessen: auch
die Ethnologie bzw. Kulturanthropologie hat sich intensiv mit Problemen des
erzieherischen Umgangs beschäftigt, allerdings nie, ohne zuvor die
allergrößte Aufmerksamkeit den Erscheinungen des Erwachsenen-Daseins in
einer sozialen Gruppe zu widmen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es
überraschend, daß es in der pädagogischen Forschung offenbar nicht für
selbstverständlich gehalten wird, im Zusammenhang, mit der Erforschung der
Beziehungen zwischen der Generationen zunächst sich der Lebenswelt der erwachsenen Generation zuzuwenden. Diese Forderung
nun scheint uns für die Probleme der Familienerziehung von besonderer
Bedeutung zu sein, ist die Familie doch die einzige pädagogische
Institution, in der noch die Kinder vornehmlich durch die Teilnahme am Leben
der Erwachsenen lernen.
[055:6] Die vorliegende Untersuchung ist ein Versuch, aus solchen
Überlegungen Konsequenzen zu ziehen. Zunächst ging es uns darum, ein
Kriterium zu finden, das im Hinblick auf die implizierten
«Lernziele»
von den schulischen Leistungserwartungen relativ
unabhängig ist. Bei der Tradition des symbolischen Interaktionismus
einerseits und der therapeutisch orientierten Familien- und
Beziehungsforschung andererseits bot sich dafür ein Anknüpfungspunkt. Hier
wurden Kategorien eines
«reifen»
interpersonellen Handelns entwickelt,1
1Vgl. vor allem Watzlawick/Beavin/Jackson 1969;
Laing/Phillipson/Lee 1971;
McCall/Simmons 1974.
mit denen das soziale Verhalten in Primärgruppen beschrieben werden kann.
Die Kenntnisnahme von theoretischen Ansätzen dieser Art sind in unseren
Begriff Kommunikation eingegangen. Dieser Begriff
soll den Sachverhalt fassen, daß, was auch immer in einer Familie geschieht,
im Medium nahezu ununterbrochener
Verständigungsprozesse vor sich geht. Der
«Verständigungscharakter»
dieser Prozesse ist freilich faktisch mehr
oder weniger ausgeprägt; er kann gegen Null tendieren, wenn das
innerfamiliale Handeln einen hohen Grad von Ritualisierung erreicht hat. Im
Regelfall jedoch wird sich die familiale Kommunikation aus einer Fülle von
Interaktionsschritten zusammensetzen, die zu jenem Verständigungsprozeß je
Verschiedenes beitragen und auch in verschiedenen Kanälen verlaufen. Um
solche Vorgänge beschreiben zu können, haben wir als Kriterium
«Kommunikationsdimensionen»
bestimmt, bei deren
Operationalisierung wir auf interaktionistische Kategorien, auf die
«Axiome menschlicher Kommunikation»
(Watzlawick u. a. 1969) und
familientherapeutische Überlegungen zurückgriffen (Satir 1974; Minuchin u. a.
1967). In diesem Zusammenhang verfolgen wir zunächst vornehmlich
einen methodischen Zweck, nämlich die Klärung der Frage, ob es möglich ist,
das familiale erziehungsrelevante Geschehen in Kategorien einer
«Kommunikationsstruktur»
empirisch zuverlässig zu
beschreiben.
[055:7] Da unser Interesse sich nicht auf die Phänomenologie
interpersoneller Beziehungen beschränkt, haben wir als zweite Komponente in
unsere Untersuchung den Versuch einer Aufklärung der
Genese familialer Kommunikationsstrukturen aufgenommen. So wie wir
unterstellen, daß pädagogisches Verhalten nur verstanden und erklärt werden
kann, wenn es aus der Sicht der
«Lebenswelt»
(Garfinkel, Schütz) der pädagogisch
Handelnden betrachtet wird, unterstellen wir für diese Lebenswelt, daß |a 106|sie sich nicht aus der Analyse des innerfamilialen
Geschehens allein erschließt; sie hat vielmehr ihren historisch bestimmten
Ort im sozialen System, dessen eine Komponente das System der
gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist. Seit Kohn (1969) seine Untersuchungen zum Zusammenhang von
Arbeitsplatzmerkmalen und Erziehungseinstellungen vorgelegt hat, spielt in
der Sozialisationsforschung die Hypothese eine bedeutende Rolle, daß mehr
noch als die Schichtzugehörigkeit die Berufsrolle des Familienernährers das
familiale Sozialisationsmilieu beeinflußt. Es schien für den Zweck unserer
Untersuchung lohnend, dieser Hypothese zu folgen und – als den gleichsam
materiellen Aspekt der Lebenswelt der untersuchten Familien – die Arbeitssituation der Väter als unabhängige Variable
zu prüfen.
[055:8] Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil enthält eine quantitative Erfassung und Auswertung,
insbesondere der Beziehungen zwischen der Arbeitssituation des
Familienvaters und den Merkmalen der innerfamilialen Kommunikation. Der zweite Teil besteht aus exemplarisch ausgewählten
Fallanalysen, von denen wir hier nur Ausschnitte aus einer solchen Analyse
mitteilen. Besonders im Hinblick auf den zweiten Teil der Untersuchung kann
von
«Ergebnissen»
im engeren Sinne kaum die Rede sein.
Worauf es uns hier vor allem ankommt, ist die Beantwortung der Frage, ob ein
derart interpretierendes Verfahren überhaupt erfolgversprechend ist, und
zwar sowohl im Hinblick auf die praktische Relevanz solcher
Forschungsprozeduren wie auch im Hinblick auf die Sicherung der
Objektivität.
2.Stichprobe und Methode
[055:9] Die Untersuchung wurde mit 69 Familien durchgeführt, die sich auf
zwei Großstädte verteilen. Für die Ermittlung der Familien haben wir zwei
Auswahlkriterien verwendet: die Stellung des Familienernährers in der
Betriebshierarchie und die Berufstätigkeit bzw. Nichtberufstätigkeit der
Frau. Die Adressen der Familien und die für die Auswahlkriterien wichtigen
Daten haben wir über die Betriebe ermittelt, in denen die Familienväter
arbeiteten. Die so ermittelten Familien wurden gefragt, ob sie sich an einer
Untersuchung beteiligen wollten; 30 % der angeschriebenen Familien erklärten
sich zur Mitarbeit bereit. Danach ergab sich folgende Verteilung der in die
Untersuchung aufgenommenen Fälle:
leitende
Position %
nicht-leitende Position %
gesamt
%
Frau erwerbstätig
8 (11,6)
18 (26,1)
26 (37,7)
Frau nicht
erwerbstätig
24 (34,8)
19 (27,5)
43 (62,3)
32 (46,4)
37 (53,6)
69 (100)
A-Stadt: 32 (46,4 %), B-Stadt: 37 (53,6
%)
[055:10] Die Familien wurden dreimal aufgesucht. In
einem ersten Kontaktbesuch wurde den Familien die Anlage der Untersuchung
erläutert. Es wurde darauf hingewiesen, daß es uns darum ginge zu erfahren,
welche Probleme für die Familien von besonderer Wichtigkeit seien und ob
solche Probleme sich |a 107|überhaupt auf die Erziehung der
Kinder auswirken würden. Die darüber mit den Eltern geführte Unterhaltung
dauerte in der Regel eine Stunde, in der besonders auch unser Interesse zur
Sprache kam, freie Unterhaltungen zwischen den Eheleuten und
Alltagssituationen mit dem Tonband aufzuzeichnen. Beim zweiten Besuch, der
in der Regel die Zeit von 17.30 bis 21 Uhr in Anspruch nahm, wurde ein
standardisierter Arbeitsplatz-Fragebogen durch den Vater und im Falle der
Berufstätigkeit der Mutter auch von dieser ausgefüllt. Im Anschluß daran
wurde für mindestens zwei Stunden das familiäre Geschehen durch
Tonbandaufzeichnungen festgehalten. Jede Familie wurde von je zwei
verschiedengeschlechtlichen Interviewern aufgesucht. Der dritte Besuch fand
in der Regel von 20–22 Uhr statt. Die Kinder waren dabei nicht anwesend. Es
handelte sich jetzt um ein nicht-standardisiertes Interview der Eltern, das
sich in zwei Teile gliederte. Zunächst wurden die Ehepaare aufgefordert,
einen Bericht über ihre Familiengeschichte zu geben (Familienbiographie);
der zweite Teil (Dissens-Diskussion) enthielt die Aufforderung, fünf
vorgegebene erziehungsrelevante Situationen zu erörtern, um zu ermitteln, in
welcher Weise die Ehepartner familiäre Probleme kommunizieren, insbesondere
in den Fällen, in denen ihre Einstellungen und Problemlösungen
divergieren.
[055:11] Folgende Materialien lagen also der Auswertung zugrunde:
1.
[055:12] ein schriftliches Protokoll nach dem Kontaktbesuch,
2.
[055:13] ein freies Tonbandprotokoll von mindest 2 Stunden
«unbeeinflußter»
Familieninteraktion,
3.
[055:14] Protokoll des räumlichen Settings während der freien
Familieninteraktion,
4.
[055:15] standardisierter Arbeitsplatz- und
Sozialdaten-Fragebogen,
5.
[055:16] die schriftliche Beantwortung der vorgegebenen
erziehungsrelevanten Situationen durch die beiden Ehepartner,
6.
[055:17] Tonbandprotokolle der
«Familienbiographie»
,
7.
[055:18] Tonbandprotokolle der
«Dissens-Diskussion»
,
8.
[055:19] eine schriftliche allgemeine Charakteristik der Familie, in
der die Interviewer ihren Gesamteindruck zusammenfaßten.
[055:20] Es ist klar, daß die gewählten Datenerhebungsverfahren z. T. nicht
– wie auch schon das Auswahlverfahren – den Kriterien einer strengen Empirie
genügen. Sie ergaben sich jedoch aus unserem Interesse an der Aufklärung der
Frage, ob es möglich und sinnvoll ist, das familiale
Erziehungsmilieu als Kommunikationsstruktur zu beschreiben. Wenn
die familiale Kommunikation in ihrer Struktur, ihrer Regelhaftigkeit erfaßt
werden sollte, mußte vor allem ein Weg gewählt werden, der die Beobachtung
tatsächlicher Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern ermöglichte.
Dieser Frage näherzukommen schien uns zunächst wichtiger, als den
empirischen Gütekriterien voll Genüge zu tun.
3.Ergebnisse der quantitativen Analyse
3.1.Kommunikationsmuster
[055:21] Die größten Schwierigkeiten ergaben sich daraus, daß – um
unserem Untersuchungsziel zu genügen – der Begriff
«Kommunikationsstruktur»
in eine Reihe beobachtbarer Dimensionen
zerlegt werden mußte. Da wir auf der Suche nach Grundmustern der
Familienkommunikation waren und nicht einzelne Verhaltensmerkmale
ermitteln wollten, die angesichts partieller Konstellationen auftauchen
(z. B.
«welche Strafe wird gegenüber dem Kind
angewendet, wenn ...»
), empfahl es sich, eine Dimensionierung des
Gegenstandes vorzunehmen, von der prinzipiell vermutet werden kann, daß
sie für jede beliebige Interaktion im Rahmen der Familie sinnvoll |a 108|ist. Solche Dimensionierung enthält freilich
eine Art normativer Vorentscheidung, worauf hier aber nur hingewiesen
werden kann. Für die quantitative Auswertung des erhobenen Materials
haben wir uns für folgende Dimensionen entschieden:
1.
[055:22] Komplexität oder: Wie
reichhaltig sind die in einer Interaktion dargebotenen
Informationen?
2.
[055:23] Reziprozität oder: Wie
ausgeprägt gehen die Interaktionspartner aufeinander ein?
3.
[055:24] Konfliktgehalt oder: Mit
welcher Ausprägung treffen Unterschiede in Wertorientierung,
Handlungszielen und Mittel-Wahlen aufeinander?
4.
[055:25] Problematisierung oder: Wie
ausgeprägt werden die Normen des interpersonellen Handelns und die
in den Interaktionen geäußerten Behauptungen in Zweifel gezogen und
mit Alternativen konfrontiert?
[055:26] Da in der Sozialisationsforschung sich immer wieder erwiesen
hat, daß die innerfamiliale Machtverteilung ein für die Interaktion
durchschlagendes Strukturmerkmal ist, sollte auf seine Kontrolle auch in
unserer Untersuchung nicht verzichtet werden. Wir haben deshalb das
Interaktionsgeschehen auch in dieser Dimension bestimmt:
5.
[055:27] Dominanz oder: Wie stark
überwiegen die Einflußchancen eines Ehepartners im Hinblick auf Form
und Inhalt einer Interaktion.
[055:28] In einem Rating-Verfahren wurden die Tonbandprotokolle der
Familieninteraktionen in diesen Dimensionen eingestuft, und zwar so, daß
für jede Familie sowohl die Werte für kleinere Interaktionseinheiten
ermittelt wurden als auch für jede Familie ein Mittelwert errechnet
wurde. Die korrelativen Beziehungen zwischen den Merkmalsausprägungen in
den verwendeten fünf Dimensionen (die Dimension
«Dominanz»
wurde dabei noch einmal auf geteilt in einerseits
«Dominanz-Mutter»
und
«Dominanz-Vater»
) stellen sich, und zwar bei der Auswertung der
Familienbiographie, folgendermaßen dar:
[055:29] Es fällt auf, daß alle Korrelationen bis auf die zwischen
Vater- und Mutter-Dominanz sehr hoch sind und sich mit einer
Irrtumswahrscheinlichkeit von < 1 % unterscheiden. Das gibt zu
denken. Es besteht immerhin die Gefahr, daß man nur Artefakte
interpretiert, daß die hohen Korrelationen Ausdruck von schon in die
Variablendefinitionen eingebauten
«künstlichen»
Zusammenhängen sind, daß eine Reihe von Indikatoren verschiedener
Kommunikationsdimensionen den gleichen Aspekt der familialen
Kommunikation abdecken.
[055:30] Analysiert man die Indikatoren unter
diesem Gesichtspunkt, so fällt in der Tat auf, daß einige von ihnen
ziemlich deckungsgleich sind. Dies ist insbesondere zwischen den
Indikatoren der beiden Variablen Konfliktgehalt und Problematisierung
der Fall. So wird bei einer
«Entgegensetzung von
Behauptungen»
( = Indikator für Problematisierung) in aller Regel
von den Auswertern der Tonbandprotokolle auch eine
«Inkongruenz der inhaltlichen Orientierung»
( = Indikator für
Konfliktgehalt), bei einer
«Entgegensetzung von
Handlungsnormen»
(Indikator für Problematisierung) meist auch eine
«Inkongruenz der Handlungsnormen»
( = Indikator für
Konfliktgehalt) konstatiert worden sein, trotz der |a 109|Auswertungsanweisungen, die eine solche Gleichsetzung an
sich ausschalten sollten. Auch zwischen den Indikatoren der Variablen
Komplexität und Reziprozität bestehen gewisse Berührungspunkte. Die
kommunikativen Akte des Empfehlens, Anweisens sowie des Fragens ( = zwei
der Indikatoren für Komplexität) sind wohl häufig Akte,
«die alter zu eigenen Akten stimulieren»
( = Indikator für Reziprozität). Auch zwischen den Dimensionen,
Komplexität und Dominanz (Vater, Mutter) sowie Reziprozität und Dominanz
sind gewisse Überschneidungen, auch wenn sie nicht so offensichtlich
sind, nicht ganz auszuschließen.
[055:31] So müssen die Dimensionen weniger als streng voneinander
unterschiedene, sondern vielmehr als sich überlappende Aspekte der
familialen Kommunikation interpretiert werden. Bei der Analyse der
korrelativen Beziehungen muß diese Einschränkung der Interpretierbarkeit
immer mitgedacht werden.
[055:32] Etwas anders stellen sich die Beziehungen zwischen den
Merkmalsausprägungen bei der Auswertung der
[055:33] Es fällt auf, daß bis auf wenige Ausnahmen die Korrelationen
deutlich niedriger sind als im Familienbiographieteil. Das läßt den
allgemeinen Schluß zu, daß einerseits die Indikatoren für die veränderte
Kommunikationssituation im Dissens-Interview eine größere
Diskriminierungsleistung erbrachten und daß andererseits die veränderten
situativen Umstände eine deutliche Verschiebung in den Beziehungen der
meisten Kommunikationsvariablen bewirkten.
[055:34] Diese Verschiebungen sollen nun im einzelnen
untersucht werden:
[055:35] Der Zusammenhang zwischen Komplexität und Reziprozität
ist auch in der Dissens-Diskussion außerordentlich eng geblieben
(r = 0,81); auch unter Berücksichtigung der oben schon
begründeten Einschränkungen bezüglich der Interpretierbarkeit
dieses Zusammenhangs müssen die Dimensionen der Komplexität und
der Reziprozität als sehr stark aufeinander verwiesene,
miteinander vermittelte Ausschnitte aus dem Gesamtkomplex
Kommunikation begriffen werden. Dieses Verhältnis zueinander ist
weitgehend unabhängig von den situativen Umständen, unter denen
kommuniziert wird. Der Zusammenhang zwischen Komplexität und
Mutter-Dominanz (r = 0,40) als auch Vater-Dominanz (r = 0,32)
ist deutlich geringer gegenüber dem Familienbiographie-Interview
geworden. So ist die Korrelation von Vater-Dominanz und
Komplexität nur noch auf dem 5 %-Niveau signifikant. Wenn es
einmal erlaubt ist zu spekulieren, dann kann man in diesen
Veränderungen der Korrelationshöhen die Widerspiegelung eines
Veränderungsprozesses in den Dominanzverhältnissen sehen: Aus
der
«wohlwollenden»
Dominanz, die mehr
Ausdruck von Überlegenheit als von Beherrschung war, ist unter
den
«Streßbedingungen»
des Dissens-Interviews
eine mehr repressive, die Entfaltung des anderen abschneidende,
sich selbst auch nicht mehr rechtfertigende Dominanz
geworden.
[055:36] Der Zusammenhang zwischen Komplexität und
Konfliktgehalt ist für die Dissens-Diskussion ebenfalls
wesentlich lockerer geworden (r = 0,55), dennoch ist die
Korrelation noch hochsignifikant. Es scheint also bei einer
Anzahl von Familien gegenüber dem Familienbiographie-Interview
die Gleichsinnigkeit der Ausprägung von Komplexität und
Konfliktgehalt verlorengegangen zu sein. Die zum Teil
unerwarteten Fragen konfrontierten die Ehepartner mit Problemen,
die sich ihnen teilweise noch nicht gestellt hatten. So tauchten
häufig auch für die Ehepartner selbst überraschende Divergenzen
auf, denen sie ratlos gegenüber standen. Zudem war natürlich
durch die Anlage des Dissens-Interviews eine |a 110|gewisse Einschränkung der möglichen Themenvielfalt
gegeben. Daß sich diese von außen gesetzten Bedingungen auf den
Zusammenhang der Dimension Komplexität und Konfliktgehalt
ausgewirkt haben, zeigt sich in dem deutlich niedrigeren
Korrelationskoeffizienten. Das Verhältnis von Komplexität und
Konfliktgehalt ist also gekennzeichnet von einer gewissen
Situationsabhängigkeit.
[055:37] Zwischen den Variablen Komplexität und
Problematisierung bestand auch in der Dissens-Diskussion eine
sehr enge Kovariation (r = 0,69). Sie unterscheidet sich nur
geringfügig von der für die Familienbiographie ermittelten.
Dadurch wird wiederum die These unterstützt, daß eine hohe
Komplexität der Kommunikation in dem von uns definierten Sinn
eine der Voraussetzungen für die Problematisierung von
Sinnzusammenhängen ist.
[055:38] Für die Beziehungen zwischen der Variablen
Reziprozität und den Variablen Mutter-, Vater-Dominanz,
Konfliktgehalt und Problematisierung zeigt sich das schon von
der Variablen Komplexität her bekannte Muster, was allerdings
wegen des engen Zusammenhangs von Reziprozität und Komplexität
auch nicht verwundert. Es gelten also alle dort getroffenen
Aussagen analog. Auffallend ist die sehr große Stabilität des
engen Zusammenhangs zwischen Reziprozität und Problematisierung
(r = 0,64) über die sehr unterschiedlichen Interviewsituationen
hinweg.
[055:39] Die Korrelation zwischen den beiden
Dominanz-Dimensionen (–0,34) zeigt für das Dissens-Interview die
erwartete Richtung und Höhe. Sie ist allerdings – anders als für
die Familienbiographie – auf dem 1 %-Niveau signifikant. Unter
den Bedingungen der Dissens-Diskussion haben die jeweils
dominanten Partner gleichsam ihr
«wahres
Gesicht»
gezeigt. Billigten sie für den
Familienbiographieteil, in dem relativ entspannt und zwanglos
aus der Vergangenheit der Familie berichtet wurde, dem
unterlegenen Partner noch bereitwillig einige
Strukturierungsmöglichkeiten zu, so machten sie in der
Dissens-Diskussion deutlich, wer bei divergierenden Meinungen zu
aktuellen Problemen der Familie das entscheidende Wort hat. Die
relative Harmonie im Familienbiographieinterview zerbröckelte,
und es kamen
«problematischere»
Strukturen
zum Vorschein. Bemerkenswert ist noch, daß die Korrelationen
zwischen Vater-Dominanz und Konfliktgehalt (0,49) bzw.
Problematisierung (0,35) praktisch gleich geblieben sind, die
zwischen Mutter-Dominanz und Konfliktgehalt (0,32) bzw.
Problematisierung (0,38) sich dagegen verringert haben. Die
höchste Korrelation überhaupt (0,82) für den Bereich der
Dissens-Diskussion weisen die Variablen Konfliktgehalt und
Problematisierung auf, sie ist damit praktisch ebenso hoch wie
im Familienbiographie-Interview.
[055:40] Diese erstaunlichen Konstanz verstärkt den Verdacht,
daß es den Auswertern nicht gelungen ist, diese beiden Aspekte
der Kommunikation zu diskriminieren. Ansonsten gilt das zu
diesem Zusammenhang schon Ausgeführte, nur eben mit noch
größeren Vorbehalten.
[055:41] Unter dem Gesichtspunkt der Stärke des Zusammenhanges zeichnen
sich die Beziehungen zwischen den
Kommunikationsdimensionen ab:
a.
[055:42] Komplexität – Reziprozität
b.
[055:43] Komplexität – Problematisierung
c.
[055:44] Komplexität – Konfliktgehalt für den
familienbiographischen Teil
d.
[055:45] Reziprozität – Problematisierung
e.
[055:46] Konfliktgehalt – Problematisierung
[055:47] Die Korrelationen sind jedoch zwischen sämtlichen
Kommunikationsvariablen so hoch, daß sie als signifikant
(Irrtumswahrscheinlichkeit mindestens 5 %) angesehen werden müssen. Das
deutet darauf hin, daß die Kommunikationsvariablen keine große
Diskriminierungsfähigkeit besitzen, daß die ermittelten Zusammenhänge
sich zumindest zu einem Teil durch Bedeutungsüberschneidungen bei den
Indikatoren der Varibalen hergestellt haben. Die Kommunikationsvariablen müssen also als
sich überlappende Aspekte der familialen
Kommunikation interpretiert werden. Die Dimensionen
Komplexität, Reziprozität und Problematisierung stehen untereinander in
einem sehr engen Zusammenhang, sie können zusammen als ein komplexeres
Kommunikationsmuster aufgefaßt werden. Im Sinne einer Vorerwägung können
die Dimensionen Reziprozität und Komplexität als die Basis für eine
zweite Ebene der Kommunikation, der Problematisierung, verstanden
werden. Die theoretischen Vorüberlegungen haben – mit den oben genannten
Einschränkungen – eine empirische |a 111|Validierung
erfahren.
[055:48] Unter dem Gesichtspunkt der Situationsabhängigkeit zeichnen
sich wiederum die Beziehungen zwischen den Dimensionen Komplexität,
Reziprozität und Problematisierung aus. Sämtliche Beziehungen zwischen
diesen drei Variablen bewahrten in zwei sehr unterschiedlich
strukturierten Interviewsituationen mit sehr verschiedenen thematischen
Schwerpunktsetzungen ihren sehr engen Zusammenhang. Sie müssen daher als
weitgehend kontextabhängig gelten.
3.2.Kommunikation und Arbeitsplatz
[055:49] Eine unserer Hypothesen besagte, daß die
Kommunikationsstruktur von Familien systematisch mit der
Arbeitsplatzsituation des Familienernährers variiert. Das bedeutet für
die Auswertung, daß wir die einzelnen Kommunikationsdimensionen als
abhängige Variablen zu den in der Arbeitsplatz-Befragung erhobenen Daten
in Beziehung setzen mußten. Bei dieser Auswertung hatte sich gezeigt,
daß sowohl in einer korrelationsstatistischen wie in einer
faktorenanalytischen Auswertung Zusammenhänge zwischen komplexeren
Arbeitsplatzmerkmalen und den familialen Kommunikationsstrukturen
jedenfalls im strengen Sinne der Hypothese nicht nachweisbar waren. Dies
jedenfalls war das Ergebnis sowohl einer Faktorenanalyse über die durch
Fragebogen erhobenen Arbeitsplatzmerkmale wie auch einer
Faktorenanalyse, in der nach dem Zusammenhang zwischen
Arbeitsplatzmerkmalen und Kommunikationsdimensionen gefragt wurde.
Jedoch zeigten sich für eine Reihe der erhobenen Merkmale der
Arbeitsplatzsituation durchaus Zusammenhänge, allerdings nie mit allen
Kommunikationsdimensionen gleichzeitig.
[055:50] Es ist zu vermuten, daß die Familie auf einzelne mit dem
Arbeitsplatz zusammenhängende Bedingungen durchaus in ihrem
kommunikativen Verhalten reagiert, wenn auch nicht in einem
systematischen, d. h. das ganze Kommunikationssystem beeinflussenden
Sinne. Außerdem wurde bei dieser Analyse deutlich, daß die subjektive
Wahrnehmung und Einschätzung der Arbeitssituation wesentlich bedeutsamer
für den uns interessierenden Zusammenhang ist als die objektiven
Merkmale jener Situation. Freilich können wir mit unserer
Untersuchungsanlage nicht schlüssig prüfen, ob nicht vielleicht und
wieweit die subjektive Wahrnehmung der Arbeitssituation durch andere
nichtsubjektive Faktoren erzeugt wird.
[055:51] Um den substantiellen Kern dessen, was wir an Beziehungen
aufklären konnten, deutlich zu machen, sollen deshalb diejenigen
Beziehungen noch einmal skizziert werden, die durch unsere Untersuchung
als erwiesen gelten können – freilich mit den Einschränkungen, die an
der Stichprobendefinition und Methodenwahl ohnehin hängen. Wir tun das
mit einem abermaligen statistischen Auswertungsschritt, und zwar greifen
wir – nach der zuletzt diskutierten Faktorenanalyse – noch einmal auf
die Produkt-Moment-Korrelationen zurück, nun aber mit der Absicht, auch
Mehrfach-Korrelationen wenigstens ansatzweise zu erörtern. Es spricht
ohnehin einiges dafür, daß ein solches Verfahren
sozialwissenschaftlichen Gegenständen angemessener ist als die
Faktorenanalyse, da es die Verzweigtheit und Differenziertheit von
Kausalverhältnissen im sozialen Bereich eher abbilden kann.
[055:52] Der größte Varianzanteil konnte für die Kommunikations-Dimension
«Komplexität»
aufgeklärt werden. Wir illustrieren das im Schema 1. Freilich kann bei
36,2 % keine Rede davon sein, daß die Variation des Kriteriums
(Komplexität der Kommunikation) in der Dissens-Diskussion unserer
Interviewanordnung zureichend aufge|a 112|Schema l:klärt ist. Deutlich wird aber, daß die mit der Arbeitssituation
des Vaters zusammenhängenden Variablen einen beträchtlichen Anteil an
der Gesamtvarianz beanspruchen können, und zwar im Sinne einer
Korrelation von gut r = 0.6.
[055:53] Das vorliegende Schema l enthält drei Analyseschritte. Zunächst wurden alle Variablen ermittelt, die mit dem Kriterium signifikant (0,05) bzw. hochsignifikant (0,01) korrelieren. Da eine Addition der von den einzelnen Variablen aufgeklärten Varianzen nur möglich ist, wenn diese untereinander nicht korrelieren, wurde für solche Variablen, für die das nicht zutrifft, durch eine Mehrfach-Korrelationen-Berechnung der gemeinsame Varianzanteil ermittelt.2
2Nach J. P. Guilford,
Fundamental Statistics, N. Y. 1956.
Im Schema 1 betrifft das die beiden Variablen
«sich klar und deutlich ausdrücken können»
und
«mit dem Entscheidungsspielraum zufrieden»
. Beide
zusammen klären 11,1 % der Varianz des Kriteriums auf. In einem dritten
Schritt nun wurden solche Variablen ermittelt, für die vermutet werden
kann, daß sie als
«Suppressor-Variablen»
fungieren,
d. h. das Gewicht der unmittelbar mit dem Kriterium korrelierenden
Variablen unterstützen. Zu diesem Zweck wurden – ohne die Annahme selbst
noch einmal statistisch zu prüfen – Variablen ermittelt, die mit den
unabhängigen Variablen hoch, mit dem Kriterium dagegen nicht
korrelieren. In unserem Schema sind das die in der jeweils obersten
Zeile auf geführten und mit den unabhängigen Variablen durch
gestrichelte Linien verbundenen Merkmale:
«zufrieden mit
dem Arbeitsplatzklima»
,
«schnell reagieren
können»
und
«mit der Arbeitszeit zufrieden»
(r
= Korrelation mit der unabhängigen Variablen). Diese Zusammenhänge
können in unserem Fall nur hypothetisch unterstellt werden. Wir erhalten
auf diese Weise eine
«Struktur»
miteinander
verbundener Variablen, die an der Aufklärung der Komplexität familialer
Kommunikation beteiligt ist.
[055:54] Daß der aufgeklärte Varianzanteil bei der
Komplexität der Familienkommunikation am größten ist, und zwar in dem
ausdrücklich erziehungsbezogenen Teil des Interviews
(Dissens-Diskussion) erscheint uns insofern interessant, weil es sich
hier um die am ehesten bildungsrelevante Variable handelt. Mit |a 113|Schema 2:
«Komplexität»
wurde ja nicht nur die Vielfalt
kommunikativer Akte und damit der Variationsreichtum des
Interaktionsstils gemessen, sondern auch die Vielfalt von Themen, die in
die Interaktion aufgenommen wurden. Es besteht deshalb Grund zu der
Vermutung, daß mit
«Komplexität»
ein Aspekt des
kognitiven Anregungspotentials erfaßt wurde, das die Eltern dem Kind
präsentieren. Dies Anregungspotential – so scheint uns – ist in starkem
Maße abhängig von der Bewertung der normativen Aspekte des
Arbeitsplatzes. In dem ganzen Variablen-CIuster fehlen völlig solche
Merkmale, die eindeutig als objektiv gegebene Bestandteile der
Arbeitssituation angesehen werden können.
[055:55] Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der Variablen
«Reziprozität»
(Schema 2). Die eindeutig subjektiv-normative
Variable
«einen guten Eindruck machen»
(als für den
Arbeitsplatz für wichtig gehaltene Anforderung) ist hier sogar mit noch
größerem Nachdruck vertreten. Die bei der Aufklärung von Komplexität
gefundene Abhängigkeit von der Anforderung,
«sich klar
und deutlich ausdrücken zu können»
, die gewiß einen kognitiven
Bestandteil hat, tritt jedoch hier stark zurück zugunsten der
Kombination von langjähriger Erfahrung mit Genauigkeit und
Gewissenhaftigkeit in der Arbeit, d. h. der normative Aspekt im Sinne
nichtinstrumenteller Arbeitstugenden kommt stärker ins Spiel.
[055:56] Ein ganz anderes Bild von der Variablenstruktur vermittelt
Schema 3, in dem die Dominanz der Mutter als abhängige Variable definiert ist.
Inhaltlich ist hier ein deutlicher Unterschied zu
«Komplexität»
und
«Reziprozität»
zu
beobachten: Diejenigen Variablen, in denen noch am ehesten objektive
Merkmale des Arbeitsplatzes erfaßt worden sind, überwiegen hier. Auch
die hypothetisch aufgeführten Suppressor-Variablen bestätigen das in der
Tendenz.
|a 114|
[055:57] Was schon in der einfachen
Korrelationsanalyse angesprochen wurde, tritt hier recht deutlich
hervor: Die Dominanz der Mutter im Bereich des Erziehungsgeschehens ist
um so ausgeprägter, je stärker die Arbeitssituation des Vaters als
«restriktiv»
zu bezeichnen ist: zugeteilte Arbeit,
vorwiegend manuell und unter körperlich schweren Bedingungen,
Abhängigkeit von Vorgesetzten und relativ kurze Kündigungsfristen.
Interessant ist, daß dieser sehr deutliche Unterschied im Vergleich mit
den anderen Kommunikationsdimensionen gerade bei jener Variablen sich
zeigt, die nicht eigentlich ein Merkmal von Interaktionsverläufen
erfaßt, sondern vielmehr ein Strukturdatum der Familie. Bei der
Diskussion der Kommunikationsdimensionen wiesen wir schon darauf hin.
Das ist uns ein Beleg dafür, daß es durchaus sinnvoll ist, zwischen
«Struktur»
- und
«Prozeß»
-Daten im
Sinne von zwei verschiedenen Realitätsebenen zu unterscheiden. In diesem
Sinne sei die Vermutung gewagt, daß Strukturmerkmale der Familie, wie z.
B. die Dominanzverhältnisse, stärker an die materiell-soziale Situation
gebunden sind als diejenigen Merkmale, in denen die
Interaktionscharakteristik sich darstellt; hier schlagen subjektive bzw.
psychosoziale Faktoren wesentlich stärker durch.
Schema 3:
[055:58] Die Variablenstruktur, die – wenn es erlaubt ist, kausal zu
reden – den Konfliktgehalt verursacht, erscheint
im Vergleich zu den anderen Kommunikationsdimensionen komplexer und
schwerer zu interpretieren (Schema 4).
Zunächst: Es handelt sich hier um die einzige Variable, für die sowohl
in der Dissens-Diskussion als auch in der Erörterung der
Familienbiographie ein nennenswerter Anteil der Varianz aufgeklärt
werden konnte. Wir können daraus – das gesamte Datenmaterial mit
einbeziehend – schließen, daß für das Eltern-Kind-System innerhalb der
Familie zwar mit Recht generell davon ausgegangen werden kann, daß mit
der Arbeitssituation zusammenhängende Einstellungen, in einigen Fällen
auch objektive Merkmale dieser Situation, relevant werden, daß das
Gleiche aber für das Ehesystem nicht gilt. Dabei ist zu |a 115|beachten, daß wir ja in beiden Fällen nur die Kommunikation
zwischen den Ehepartnern als Beobachtungsgegenstand hatten. Was zwischen
beiden Interviewsituationen variierte, waren nicht etwa die
Interaktionspartner, sondern die Interaktionsinhalte: im einen Fall die gemeinsame Biographie, im anderen
Probleme zwischen Eltern und Kindern. Die Annahme des damit
zusammenhängenden Unterschiedes in den Abhängigkeiten von
arbeitsplatzbezogenen Merkmalen läßt sich jedoch für den Konfliktgehalt
nicht eindeutig bestätigen. Die unabhängigen Variablen haben allerdings
eine andere Struktur als in den vorgenannten Fällen: eine Mischung aus
objektiven Merkmalen der Arbeitssituation mit solchen, in denen ihre
kommunikativen Qualitäten eingeschätzt werden.
Schema 4:
[055:59] Wir fassen unsere Ergebnisse noch einmal in der Form knapper
Hypothesen zusammen:
1.
[055:60] Objektive Merkmale der Arbeitssituation sind weniger im
Bereich familialer Kommunikation folgenreich als vielmehr im
Hinblick auf die Familienstruktur.
2.
[055:61] Im Hinblick auf die familiale Kommunikation, begriffen
als Reziprozität, Komplexität und Problematisierung (im letzten Fall
allerdings, vermutlich durch nicht gelungene Operationalisierung
bedingt, am wenigsten belegt), sind vor allem die Einstellungen zur
Arbeit, die Selbsteinschätzung und die Identifikation mit dem
Arbeitsplatz bzw. dem Arbeitsinhalt von Bedeutung.
3.
[055:62] Komplexität und Reziprozität variieren vor allem nach
Maßgabe der Bewertung normativer Dimensionen des Arbeitsplatzes,
also vor allen nicht-instrumenteller, von arbeitsinhaltlichen
Qualifikationen unabhängiger Arbeitstugenden.
4.
[055:63] Die Variation des Konfliktgehaltes familialer
Kommunikation ist offenbar von einer Pluralität von Faktoren
abhängig, wobei die erziehungsrelevanten Konflikte eher mit
objektiven, die lediglich eherelevanten eher mit als kommunikativ
bewerte|a 116|ten Merkmalen der
Arbeitssituation variieren.
[055:64] Das wichtigste Resultat unserer Untersuchung ist jedoch
Skepsis: Angesichts der Tatsache, daß wir auch im günstigsten Fall nur
wenig mehr als ein Drittel der Varianz eines Kriteriums aufklären
konnten, scheint uns Skepsis geboten gegenüber
Behauptungen, die einen unmittelbaren Zusammenhang von
Arbeitsplatzsituation und dem interpersonellen Geschehen in der
Familie als plausibel oder gar als gesichert unterstellen. Das
bedeutet allerdings nicht, daß kein Zusammenhang bestünde. Will man also
– trotz unserer Befunde – an der globalen Hypothese festhalten, die
Lokalisierung von Individuen oder Gruppen im System gesellschaftlicher
Produktion
«bedinge»
Form und Inhalt der Interaktion
solcher Individuen und Gruppen, ist offenbar eine wesentlich
differenziertere und präzisere Formulierung der Hypothese vonnöten.
[055:65] Wir hoffen, daß die folgenden Fallstudien zur Ausarbeitung
solcher Differenzierung dienlich sind, insbesondere auch deshalb, weil
die quantitative Analyse uns in der Annahme bestärken konnte, daß die
Untersuchung familialer Kommunikation empirisch sinnvoll und für die
Aufklärung problematischer Sozialisationsmilieus erfolgreich ist.
Vermutlich aber sind noch wesentlich mehr als die im folgenden
vorgelegten Fallstudien nötig, um auch ein für quantitative Analysen
befriedigendes Untersuchungskonzept entwickeln zu können.
4.Fallinterpretation
[055:66] Schon der geringe Anteil der auf Seiten der
Kommunikations-Variablen aufgeklärten Varianz legt es nahe, das, was sich
hinter den Einzelmerkmalen der familialen Kommunikationsstruktur verbirgt,
genauer zu beschreiben. Wir geben im folgenden nun Auszüge aus einer der
Fallinterpretationen wieder, die das gleichsam zweite Bein unserer
Untersuchung darstellen. Der uns dabei interessierende springende Punkt ist
die Frage, welcher Status eigentlich Verfahren dieser Art zugesprochen
werden kann. Da es sich bei den Interpretationen allemal um Akte des
«Verstehens»
durch den Interpreten handelt, liegt der
Verdacht nahe, daß die subjektiven Deutungsanteile relativ groß bzw. nur
schwer zu kontrollieren sind. Eine Möglichkeit, die Kontrolle solcher
Verstehensakte zu verbessern, ist die eindeutige Handhabung der leitenden
Kategorien. Dennoch läßt sich nur schwer ausschließen, daß die Subsumtion
von Beobachtungsdaten (in diesem Fall von Protokollteilen) unter die
entsprechenden Kategorien dem Interpreten Spielräume läßt, die größer sind,
als forschungstechnisch zu wünschen. Indessen wollen wir hier keine
Erwägungen über die methodologischen Probleme hermeneutischer Operationen
anstellen, sondern nur – bescheiden oder unbescheiden – Sinn oder Unsinn
eines solchen Verfahrens durch Darstellung eines Beispiels dem Leser zur
Beurteilung geben.
[055:67] Wir bringen zunächst einen längeren Protokollausschnitt aus der
Unterhaltung zwischen den Ehepartnern, und zwar im Rahmen dessen, was wir
«Familienbiographie»
genannt haben
(vgl. Mollenhauer/Brumlik/Wudtke
1975, S. 52
ff.)
:
[055:68]
Interviewer
Frau gerichtet):
Arbeiten Sie gern oder würden Sie aufhören, wenn Sie nicht Geld
verdienen müßten?
[055:69]
Frau:
Wenn ich
keines verdienen müßte, würde ich gern aufhören. Für drei Kinder
sorgen, damit die Familie auch die Mutter hat, ist doch ganz
logisch. Na, ja, wenn’s nun nicht geht.
[055:70]
Mann:
Es ist nur so, eh, sie kann nur diese Art Tätigkeit
nehmen, ich meine, es spielt ja keine Rolle, ob sie nun geht als
Raumpflegerin oder sonst dergleichen, ne. Das ist die beste
Zeit, um halb zwei fängt |a 117|sie an in der
Schule, sie macht in der Schule, X-Schule, da macht sie sauber,
ja, das ist die einzige Zeit, wo sie arbeiten gehen kann.
Vormittags geht’s nicht, abends geht’s überhaupt nicht, dann
müssen die Kinder versorgt werden, ja und als Mann kommt man mit
drei Kindern nicht allein zurecht, das geht nicht, da muß dann
die Frau zu Hause bleiben. Vor allen Dingen, die Schularbeiten
müssen mit dem Ältesten gemacht werden, abends ...
[055:71]
Frau:
Na, ja, das könnte ja auch der Mann machen,
ne?
[055:72]
Mann:
Na ja, das könnte ich auch machen, aber ich bin doch
froh, wenn ich von der Arbeit komme und mal eine Stunde ausruhen
kann oder wie gesagt, ja ...
[055:73]
Frau:
Ja, das ... na, ich will dazu nichts sagen
...
[055:74]
Mann:
Na, nu!
[055:75]
Frau:
Da gibts dann ... gibts dann wieder
Meinungsverschiedenheiten.
[055:76]
Mann:
Ach so, meine Frau meint, daß ich vielleicht erst mal
heimkomme, wenn ich einen getrunken habe oder so (lacht), das
meint sie jetzt vielleicht, weil, wie soll man das sagen, von
trinken ... tut jeder ...
[055:77]
Frau:
Man kann sich mormalerweise auf dich nicht verlassen.
[055:78]
Mann:
Nu ja ...
[055:79]
Frau:
(unterbricht): Wenn man da nicht hintersitzen würde, so
könnte man sich auf dich nicht verlassen, dann könnte ich
überhaupt nicht arbeiten gehen.
[055:80]
Mann:
... also meine Frau ist der Meinung, daß ich ...
[055:81]
Frau
(unterbricht):
Also ich bin der Meinung, daß, wenn ich
weggehe, muß der Mann zu Hause bleiben, damit die Kinder unter
Kontrolle sind. Sie dürfen in diesem Alter noch nicht allein
gelassen werden. Die, die können ja sonst was anstellen,
anstellen in der Zeit. Wer dafür verantwortlich ist, ist in
erster Linie die Mutter, und deshalb bin ich da ... also wenn
ich zur Arbeit gehe, deshalb ist es so gut, wenn er von der
Arbeit kommt, daß ich gehen kann. Es gibt ewig
Meinungsverschiedenheiten bei uns. Dann kommt er um halb drei
Uhr nach Hause oder es ist schon oft vorgekommen, daß um fünf,
wenn ich von der Arbeit kam, dann kam er erst nach Hause. Und
das klappt dann eben so ...
[055:82]
Mann:
Na ja, es ist eben auch ...
[055:83]
Frau:
Da bin ich nicht mit einverstanden, sowas ...
[055:84]
Mann:
Aber aufgrund der Tatsache, daß ..., also wenn ich nur
... morgens um sechs aufstehen sollte, meine Arbeit verrichte
und dann abends hierherkomme und hier in der Stube sitze, auf
die Kinder aufpasse, abends vielleicht etwas im Fernsehen sehe
oder lese oder sonst dergleichen und dann ins Bett gehe und das
so Tag aus Tag ein machen sollte, dann ...
[055:85]
Frau:
Also wie gesagt, ... ihr wart alle damit einverstanden,
daß ich arbeiten gehe, also mußt du auch die Konsequenzen daraus
ziehen und zu Hause sein, wenn ich gehe, und auf die Kinder
aufpassen. Das sind nur dreieinhalb Stunden, die ich arbeite,
und ich schaffe ja praktisch den ganzen Tag. Das ist doch die
Gleichberechtigung, du kannst doch auch auf die Kinder
aufpassen.
[055:86]
Mann:
Na ja, als Mann ...
[055:87]
Frau:
Wieso hat ein Mann mehr Freiheiten wie eine Frau, das
versteh’ ich nicht, also das verstehe ich auch
nicht.
[055:88]
Mann:
Na also, ich seh’ es aus dem Grunde, weil ich Kollegen
habe, wo die Frauen nicht arbeiten, weil sie es vielleicht auch
nicht nötig haben, die von zu Hause aus vielleicht recht
begütert sind, die, also ich möchte sagen, weniger, also ein
Kollege hat beispielsweise drei Häuser, also wie gesagt, dem
geht’s sehr gut.
[055:89]
Mann und
Frau:
(sprechen unverständlich
durcheinander)
[055:90]
Mann:
Also, es gibt doch noch welche, die vielleicht
verheiratet sind und noch keine Kinder haben, wo die Frauen zu
Hause sind und die Männer arbeiten, und die können doch noch mal
ein Glas Bier trinken zusammen oder die können Skat spielen
zusammen ... Und das verstehen sie nicht, daß ich immer
grundsätzlich um ein Uhr schnellstens nach Hause muß, um auf die
Kinder aufzupassen.
[055:91]
Frau:
Wenn ich z. B. es so machen würde wie du und würde
sagen, bleibst einfach zwei Stunden länger weg und laß doch die
Kinder mit dem Vater machen, was sie wollen, wenn ich auch so
denken würde ...
[055:92]
Mann:
Hm.
[055:93]
Frau:
Ja, was meinst du, was dann los wär’?
[055:94]
Mann:
Na ja, auf alle Fälle ... bin ich der Meinung, ein
bißchen Freiheit muß man als Mensch schon haben, wenn man das
schon ... sowieso angebunden sein wollte, kommt nach Hause, auf
die Kinder |a 118|aufpassen, arbeiten, abends
vielleicht Fernsehen gucken und dann schlafen gehen, nein, ist
nichts, also ...
[055:95]
Frau:
Das hat doch keiner gesagt ...
[055:96]
Mann:
Also der Meinung bin ich nicht ...
[055:97]
Frau:
Ich mein’, ich würde gern abends einmal in der Woche
ausruhen, wo du mit deinen Kollegen zusammen bist, wo du Karten
spielst und auch einmal ein Bier trinkst, aber das braucht nicht
… auf … auf Dauer zu sein, ich mach es doch auch nicht …
[055:98]
Mann:
Na ja, weg gehen wir sowieso nicht, die Kinder kann man
nicht allein lassen, man könnte zwar ... klar. Nachbarn und so
... würden mal aufpassen, aber erstens, wenn man weggeht, das
kostet nur viel Geld und das kann man sich nicht erlauben, daß
wir jede Woche ein- oder zweimal weggehen, das ginge nicht, denn
wenn man das Geld zusammenrechnet im Monat, da kommt allerhand
Geld zusammen, ne. Und das ist doch, wie gesagt dadurch ... Ich
bin abgespannt von der Arbeit.
[055:99]
Frau:
Du bist abgespannt, weil du morgens um halb sechs
losgehst. Nun frag’ mich mal, wann ich mal abgespannt bin. Das
dürfte ich an und für sich überhaupt nicht sein bei
dir.
[055:100]
Mann:
Na gut, man muß das mit den Schularbeiten anders
regeln, daß der Junge nicht Schularbeiten abends
macht.
[055:101]
Frau:
Das hat mit den Schularbeiten überhaupt nichts zu
tun.
[055:102]
Mann:
Das hat auch damit zu tun. Wenn er von der Schule
kommt, kann er gleich nach dem Essen seine Schularbeiten
machen.
[055:103]
Frau:
Ja, wenn der Vater dabeisitzen würde und sagen, nun
hör’ mal A., jetzt machst du mal die Schularbeiten; wenn du
fertig bist, zeigst du sie mir mal, dann guck ich sie mal
schnell nach, dann braucht das die Mutter abends nicht mehr zu
tun, wenn sie von der Arbeit kommt; dann wäre die ganze Sache ja
auch erledigt. Aber du setzt ja mit dem Jungen dich nicht,
beschäftigst dich nicht mit den Schularbeiten, das ist es. Du
guckst ja abends noch nicht mal nach, ob es richtig ist oder ob
er was falsch gemacht hat.
[055:104]
Mann:
Das sollst du doch
machen!
[055:105]
Frau:
Wofür bin ich noch alles da?!
[055:106]
Mann:
Wie gesagt, er kann ja seine Schularbeiten mittags
machen und abends werden sie dann nachgeguckt.
[055:107] Der Interviewer knüpft bei der zuvor im Gespräch erwähnten
Erwerbstätigkeit der Frau (Raumpflegerin in einer Schule) an mit der
Vermutung, daß anhand dieses Themas wichtige Probleme des Ehesystems zur
Sprache kommen. Offenbar bestätigt sich seine Annahme. Nicht nur illustriert
der Text die vielfältige Verflochtenheit mannigfacher Dimensionen des
familialen Lebens, er zeigt auch durch die Intensität der Auseinandersetzung
des Ehepaares, daß so etwas wie ein Schlüsselproblem der Familie zur
Darstellung kommt. Es wird hier von den Gesprächspartnern eine
Dimensionierung ihrer Situation vorgenommen. Wir wollen diese im Text
enthaltene Gliederung des angesprochenen Problemfeldes zu rekonstruieren
versuchen. Da es sich nicht nur um einen, sondern um zwei
«Autoren»
handelt, müssen wir allerdings berücksichtigen, daß die
Dimensionierung von beiden möglicherweise auf unterschiedliche Art vollzogen
und gewichtet wird. Wir rekonstruieren die Dimensionen deshalb für Mann und
Frau getrennt:
[055:108] 1. Die Ehepartner bestimmen (
«definieren»
)
ihre Situation als Aufgabenkonflikt.
[055:109]
Frau:
Mann:
Es ist vornehmlich ihr Konflikt, da
die Familie einerseits
«die Mutter haben muß»
(
«ist doch ganz logisch»
), andererseits
aber durch deren Erwerbstätigkeit Schwierigkeiten für die
Erfüllung der Aufgaben entstehen.
Es ist vornehmlich der Konflikt der Frau, denn
«als Mann kommt man mit drei Kindern nicht
allein zurecht»
. Seine eigene Arbeit und die mit ihr
verbundene Belastung schließt eine intensivere Beschäftigung mit
den Kindern aus.
|a 119|
[055:110] 2. Die Ehepartner bestimmen ihre Situation als Beziehungskonflikt.
[055:111]
Frau:
Mann:
Sie sieht den Konflikt über die Tatsache der
«Meinungsverschiedenheit»
hinaus als Solidaritätsproblem
(
«du bist abgespannt ... nun frag mich mal,
wann ich mal abgespannt bin»
) und zugleich als Problem
der
«Gleichberechtigung»
, als rein
innerfamiliale Aufgabe der Beziehungsregelung.
Ihm erscheint der Konflikt, da er irreversible
Grundeinstellungen (
«na ja, als Mann ...»
)
für sich in Anspruch nimmt, als nicht lösbar. Als Determinante
der Unlösbarkeit führt er seine Bezugsgruppe
«Kollegen»
und die damit verbundenen Verpflichtungen im
Hinblick auf die Außenbeziehungen der Familie an.
[055:112] 3. Die Konflikte werden in der Dimension der familialen
Arbeitsteilung, der geschlechtsspezifischen
Erwachsenenrollen, bestimmt.
[055:113]
Frau:
Mann:
Sie akzeptiert grundsätzlich ihre Rollendefinition als
Hausfrau und Mutter, als Hauptverantwortliche für das
Erziehungsgeschehen; sie interpretiert sich aber der Möglichkeit
nach im Hinblick auf eine andere Rollendefinition (
«nun ja, das könnte ja auch der Mann
machen»
) und gibt dafür eine materielle Begründung (
«wenn ich keines verdienen müßte, würde ich
gern auf hören»
). In anderen Worten: unter der Bedingung
tendenziell gleicher Belastungen durch Erwerbstätigkeit müssen
auch die innerfamilialen Rollenbeziehungen adäquat gestaltet
werden. Andernfalls wird die Rolle der erwerbstätigen Mutter zur
«totalen Rolle»
(
«Wofür
bin ich noch alles da?»
).
Er akzeptiert nicht nur, sondern bekräftigt die
Rollendefinition und wehrt die Problematisierungen seiner Frau
ab. Diese Abwehr vollzieht sich in zwei Dimensionen: Er verweist
auf seine Berufstätigkeit und die mit ihr verbundenen
Belastungen als eines unveränderlichen Datums (
«ich bin abgespannt von der Arbeit»
), und er verweist auf
seine Rolle als Mann, dem die Kindererziehung nicht als Aufgabe
zugeschrieben werden darf (
«das sollst du doch
machen!»
).
[055:114] 4. Die zur Sprache gebrachten Probleme werden immer mit Bezug auf
Arbeit und die materielle Reproduktion
erörtert.
[055:115]
Frau:
Mann:
Sie interpretiert ihre Arbeit als reinen Gelderwerb, als
zusätzliche, aber notwendige Belastung. Ihr Selbstverständnis
bezieht sie nicht aus dieser Funktion, sondern aus ihren
innerfamilialen Aufgaben. Allerdings sieht und akzeptiert sie
auch die Funktion, die die Arbeit für ihren Mann hat und
interpretiert daher Arbeit bzw. Berufstätigkeit als eine
fundamentale Dimension. Sie geht aber dabei davon aus, daß
dennoch Dispositionsspielräume für die Gestaltung des familialen
Lebens verbleiben. Arbeit und Gelderwerb sind zwar fundamental,
aber nicht zwanghaft determinierend.
Für ihn verknüpft sich mit
«Arbeit»
mehr
als nur Gelderwerb: Sie bestimmt einen Aspekt seiner
lebenslangen Rolle. Deshalb bilden die Arbeitskollegen für ihn
auch eine relevante Bezugsgruppe, auf deren Normen er Rücksicht
nimmt und von der er sich seinen Status bestimmen läßt (
«Und das verstehen die nicht, daß ich immer
grundsätzlich um ein Uhr schnellstens nach Hause muß, um auf
die Kinder aufzupassen, das sehen die nicht ein.»
). Für
ihn scheint zwischen seiner Berufsrolle und seinem Verhalten
innerhalb seiner Familie ein zwanghafter Zusammenhang zu
bestehen, der es verhindert, seine innerfamiliale
Selbstdefinition zu verändern. Seine
«Identität»
bestimmt er eher von seiner Berufswelt als
von seiner familialen Lebenswelt her. Für seine Frau indessen
scheint ihm solche Identifikation mit der Erwerbsrolle nicht
bedeutsam (
«... ob sie nun als Raumpflegerin
geht oder sonst dergleichen ...»
).
|a 120|
[055:116] 5. Die Ehepartner bestimmen die Lösungsmöglichkeiten für die
Konflikte in der Dimension der Organisation des
Familiengeschehens.
[055:117]
Frau:
Mann:
Sie erörtert das Problem als eines, das unmittelbar mit ihren
eigenen Interessen verknüpft ist. Sie verweist auf den Konsensus
(
«ihr wart alle damit einverstanden, daß ich
arbeiten gehe»
) und dringt auf die Folgen, die in der
Form neuer Regeln für die familiale Organisation akzeptiert
werden müssen (
«also mußt du auch die
Konsequenzen ziehen ... und auf die Kinder aufpassen»
).
Ihr Organisationsvorschlag enthält indessen im Grunde die
Notwendigkeit einer Neudefinition der Rollen der Ehepartner und
bekräftigt das durch die fiktive Erwägung des Rollentauschs (
«wenn ich z. B. es so machen würde wie du
...»
).
Auch er akzeptiert die Notwendigkeit einer organisatorischen
Lösung (
«Na gut, dann muß man das mit den
Schularbeiten anders machen»
), diese ist für ihn aber
nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Er muß keine Interessen
gegen Widerstände durchsetzen, sondern versucht nur, seinen
gegenwärtigen Status zu behaupten. Sein Organisationsvorschlag
beschränkt sich deshalb auf Details (
«... kann
er gleich nach dem Essen seine Schularbeiten machen»
).
Während das Interesse der Frau an einer befriedigenderen
Organisation des Familienlebens schon an die Familienstruktur,
insbesondere die Struktur der Ehebeziehung rührt, geht das
Interesse des Mannes ganz dahin, gerade diese Struktur zu
verschonen und nur gleichsam
«an der
Oberfläche»
zu organisieren.
[055:118] 6. Beide Ehepartner verwenden in ihren Argumentationen bestimmte
Deutungsmuster.
[055:119] Sie akzeptieren beide die für das Ehesystem
überlieferte Trennung der familialen Funktionen, nach der dem Manne die
materielle Versorgung, der Frau die Sorge für die Kinder obliegt; mit diesem Sachverhalt gehen sie gleichsam wie mit einer
Naturtatsache um, die zwar modifiziert, nicht aber grundsätzlich
geändert werden kann (
«... ist doch ganz logisch»
,
«... das geht nicht»
). Die damit scheinbar grundsätzlich
von beiden akzeptierte Norm ist aber für die Frau gebrochen durch die
konkurrierende Norm der
«Gleichberechtigung»
, und zwar dann, wenn – wie im
vorliegenden Fall und aus der Sicht der Frau – die geltende Arbeitsteilung
gegen die Interessen eines Partners verstößt. Um diesen Verstoß zu
vermeiden, wäre eine Modifikation in den Regeln der familialen Interaktion
nötig. Dieses
«Um-Zu»
-Muster
nimmt bei der Frau die Form eines moralischen Appels an den Mann an, beim
Mann dagegen die Form einer technisch-organisatorischen Empfehlung. Man
könnte auch sagen, daß die Frau ein kommunikatives, der Mann ein
instrumentelles Deutungsmuster für die Lösung des Interaktionskonfliktes
bevorzugt. Beide indessen versuchen auch, sich ihre Situation nach ihren Ursachen zu erklären. Dabei scheint die
Frau in der Konstruktion von erklärenden
«Theorien»
produktiver zu sein als der Mann; in ihrer
«Theorie»
verwendet sie verschiedene
«Variablen»
: ihre eigenen
Motive, die Gewohnheiten des Ehemannes, den Familienkonsens, die Belastung
durch die Erwerbstätigkeit beider Ehepartner, die sozialen Normen, die
Lernfähigkeit. Der Mann hingegen kümmert sich weniger intensiv um
Erklärungen; in seiner
«Theorie»
tauchen fast nur die
Variablen
«sein Beruf»
,
«Arbeitskollegen»
und
«Schularbeiten des Kindes»
auf. Das auf Erklärung zielende Deutungsmuster der Frau ist im Vergleich
erheblich komplexer; vor allem gibt sie zu erkennen, daß sie in ihre
Deutungsversuche noch eine fundamentalere Schicht der Beziehungen mit
einbeziehen möchte (
«das hat mit den Schularbeiten überhaupt
nichts zu tun»
), die in der protokollierten Interaktion noch kaum zur
Sprache kam. Für die ganze Interaktion aber gilt, daß die Deutungsbemühungen
nur einen Teil der möglichen
«Faktoren»
der Situation
erfassen; vor allem zwei Bereiche bleiben nahezu unberührt: Das Gespräch
berührt weder die politischen Aspekte der Situation, noch wird die Form der
Interaktion zwischen den Partnern zum Thema gemacht.
[055:120] An späterer Stelle des Interviews heißt es:
[055:121]
Frau:
Mein Mann ist
so ein Typ, der ist sehr, sehr mit seiner Mutter verbunden, also
würde er normalerweise eher auf seine Mutter hören als auf seine
Familie. Darum kommen vielleicht die Streitigkeiten des öfteren bei
uns vor.
|a 121|
[055:122] Die Vermutung liegt nahe, daß der besondere Kontakt des Herrn C.
zu seiner Mutter mit den Schwierigkeiten zusammenhängt, die sich seit der
Aufnahme der Berufstätigkeit durch seine Frau einstellten. Auch hier hat das
Ereignis für jeden der Partner eine ganz unterschiedliche Bedeutung:
[055:123]
Frau:
Ja sicher, du
gehst hoch und holst dir Ratschläge und kommst dann runter und
machst mich dann fertig ... Das ist das gute Beispiel dann
schon.
[055:124]
Mann:
Mann:... nur wenn es gar nicht klappt, sonst
sag’ ich keinen Ton, das wirst du ja schon gemerkt haben, die ganzen
Jahre schon.
[055:125] Was der Frau als Komponente einer herrschaftsbestimmten Kontrolle
erscheint, möchte der Mann eher als Hilfe bei Problemlösungen verstanden
haben; darüber hinaus hat der Kontakt zur Mutter für den Mann offenbar auch
die Funktion, sich aus den Familienkonfliktfeldern teilweise herauszuhalten.
Ein Hinweis darauf ist die häufige Entwertung und Verwerfung der
Selbstdefinition des Mannes durch seine Frau, sobald sie sich auf seine
Rolle als Ehemann bezieht, wie wir weiter unten sehen werden. Dieser
«Rückzug»
des Mannes aus der Familie erfolgt anscheinend
auf dem Hintergrund eines Beziehungskonfliktes zwischen beiden Ehepartnern,
der sich in Inkongruenzen hinsichtlich der Handlungsnormen,
Beziehungsdefinitionen und Rollenzuweisungen ausdrückt und die Folge einer
Bedrohung der gewohnten Interaktionsmuster in einer materiell (berufstätige
Frau) veränderten Situation ist. Bei der Frau kann eine relative Bewußtheit
dieser Lage angenommen werden. Sie scheint sehr genau zu wissen, daß sie im
Grunde immer nur ein Thema haben: ihre Beziehung in Abhängigkeit von den
Rollenzwängen.
[055:126] Auf die Ausweglosigkeit, diesem Beziehungskonflikt durch ein
anderes Thema zu entgehen, deutet folgender Kommunikationsausschnitt
hin:
[055:127]
Frau:
In die Wolle
kriegen ... das möchte ich vermeiden, ... hat keinen Sinn, ... führt
zu nichts ... anderer Leute wegen kriegen wir uns in die Wolle und
verekeln uns die ganze Ehe ... kommen wir auf ein anderes Thema.
[055:128]
Interviewer:
... Kinder, viel Arbeit jeden Tag, nicht?
[055:129]
Frau:
Viel Arbeit ... (lacht) ... Der Mann schläft, und die Kleine läuft
hier rum ...
[055:130] Obwohl Frau C. auf einem Themawechsel besteht, um das
konfliktreiche Schwiegermutterthema zu beenden, geht sie sofort danach auf
die Frage des Interviewers nach den Kindern ein und thematisiert hieran
lediglich den Beziehungskonflikt neu. Zudem war das Thema
«Kinder»
in der zeitlichen Abfolge der Biographie unmittelbar vor dem
Schwiegermutterthema gekommen und hatte hier bereits zu einem Konflikt
geführt, der eben den Wechsel zum Thema Schwiegermutter zur Folge hatte.
Dieses Beispiel deutet an, daß die Entwertung von Selbstdefinition eine
Folge davon sein kann, daß der eine Ehepartner den Beziehungsaspekt bewußt
thematisiert, der andere sich aber weigert, die Probleme auf dieser Ebene zu
diskutieren. Gleichzeitig erschwert eine solche Blindheit gegenüber dem
Beziehungsaspekt die Lösung von Konflikten. Dahinter aber steht
offensichtlich eine
«objektive»
Schwierigkeit: die
Tatsache, daß die Familie ihre Probleme innerhalb eines relativ eng
abgesteckten materiellen Rahmens lösen muß. Dieser Rahmen, innerhalb dessen
die Frau nach produktiven Lösungen sucht, scheint dem Manne von vornherein
Beschränkungen seiner sozialen Phantasie aufzuerlegen, die ihm alle
Alternativen als illusorisch erscheinen lassen.
[055:131] Um das bisher Gesagte abzurunden, möchten wir die Metaperspektive
der Frau (die |a 122|Vermutung über das Bild des Mannes von
ihr) anführen, in der sie den Konflikt zugleich als Rollen-, Beziehungs- und
Herrschaftsproblem darstellt:
[055:132]
Frau C.:
Also die
Frau ist dazu da, um den Haushalt zu machen, sich um die Kinder zu
kümmern, Mittag zu kochen, mittags wegzugehen, dann zu arbeiten,
dann nach Hause zu kommen, um die Kinder zu beaufsichtigen und noch
mal den Haushalt machen ... und wenn man sich dann auch nun mal eine
Stunde hinsetzen will und sagt, so jetzt will ich auch ... mal Ruhe
haben, dann hat sie das noch nicht gemacht, und das mußt du noch
machen!
»
[055:133] Herr C. sieht lediglich solche Konfliktslösungsmöglichkeiten, die die Beziehung zu seiner Frau nicht verändern, d. h. keine
Neudefinition der Beziehung und keine neue Selbstdefinition von ihm
verlangen. Als erstes schlägt er vor, daß seine Frau die Schularbeiten
abends nur noch nachsehen solle, während der Junge sie nachmittags allein
anfertigen könne.
[055:134]
Frau:
Mach das
alleine oder warte, bis die Mutter kommt! Du hast eben keine Ruhe
dazu, du kannst es einfach nicht.
[055:135]
Mann:
Wenn ich Zeit habe ...
[055:136]
Frau:
... Die Kinder sind nun einmal da, da hat man auch eine
Verantwortung dafür. Nicht daß man jetzt sich so auf sich allein
hinstellt, also das gibt’s ja nun nicht!
[055:137]
Mann:
Ja, jetzt geht es noch nicht, diesen Monat noch nicht und
den nächsten Monat auch nicht, erst wenn ich meine Prüfung hinter
mir habe ...
[055:138] Frau und Mann reden
gleichzeitig und unverständlich. [055:139]
Mann:
... spielt ja keine Rolle, ich habe auch noch anderes zu
tun. Zweimal in der Woche Unterricht ...
[055:140] Es ist erstaunlich, mit welcher Genauigkeit und Differenziertheit
die Ehepartner ihre Situation diagnostizieren. Das Beziehungsproblem wird
nun nicht mehr als eine Frage der Beziehungen im Ehesystem allein
betrachtet, sondern als Strukturproblem der Familie:
–
[055:141]
«Die Kinder sind nun einmal da»
oder:
wir sind keine Addition von einzelnen oder von einzelnen Beziehungen,
sondern eine Familie mit gemeinsamen Problemen;
–
[055:142]
«... da hat man auch eine
Verantwortung»
oder: in dieser Situation ist es moralisch
unzulässig, die Lösung von Problemen, die an irgendeiner Stelle des
familialen Beziehungsnetzes auftreten, nicht auch als die eigenen zu
definieren;
–
[055:143]
«Nicht, daß man sich jetzt so auf sich
allein hinstellt, also das gibt’s ja nun nicht!»
oder: da die
Familie als ein soziales System betrachtet werden muß, handelt es sich
nicht nur um ein moralisches Problem; jedes Familienmitglied ist
notwendigerweise, auch wenn es sich anders zu definieren versucht, ein
Element dieses Systems und beeinträchtigt mit allem, was es tut, die
anderen Elemente; wird dieser Sachverhalt von einem Familienmitglied
geleugnet, dann entstehen mit Notwendigkeit Konflikte, die innerhalb des
Systems nicht mehr in einer von allen Mitgliedern akzeptablen Weise
lösbar sind.
[055:144] Die Reaktion des Mannes ist zweideutig: Auf
der Inhaltsebene scheint er zuzustimmen, auf der Beziehungsebene indessen
vollzieht er eben jene Leugnung – später vielleicht, aber
«jetzt geht es noch nicht»
.
[055:145] Wir wollen nun der Fragestellung nachgehen, in welchen Bereichen
der Familie sich der Beziehungskonflikt am rigidesten zeigt, d. h., wo die
Möglichkeit seiner Lösung am geringsten ist, und daraufhin die
Ehepartnerkommunikation untersuchen. Inhaltlich orientieren wir uns dabei an
den Themen Haushaltstätigkeiten und Erziehung der Kinder und illustrieren
das wiederum mit Hilfe einiger angeführter Interaktionssequenzen.
|a 123|
[055:146] Aus den in der
«Dissens-Diskussion»
beantworteten Fragen geht hervor, daß der Mann ohne Rücksicht auf die durch
die Erwerbstätigkeit der Frau veränderte Situation an der
«traditionellen Rollenteilung»
festgehalten hat. Er überläßt die
Beschäftigung mit den Kindern ausschließlich der Frau (Ausnahme: mit den
Kindern spielen); ebenso die Haushaltstätigkeiten (Ausnahme: Mülleimer
leeren und Schuhe putzen), während er die
«typisch
männlichen»
Tätigkeiten, wie Rechnungen zahlen und den Außenkontakt,
beispielsweise zum Hauswirt, für sich beansprucht.
[055:147] Die interpersonellen Taktiken, mit denen der Mann seine
Selbstdefinition zu schützen und gegen Problematisierung abzusichern sucht,
werden bei der Erörterung von Haushaltsfragen deutlich:
[055:148] Als die Frau vorschlägt, der Mann könne ja
mal anfangen zu lernen, wie man Reparaturarbeiten ausführt, antwortet er,
daß er dazu nicht geschickt genug sei. Diese Art der Rechtfertigung der
Beziehungsdefinition gegenüber seiner Frau und der Rollenzuweisung (
«leider geht es aus unveränderlichen Gründen nicht, daß ich
dir im Haus helfe»
) schränkt er dann etwas ein, indem er z. B. sagt:
«Wenn ich eine Kleinigkeit sehe, mache ich das auch.»
Das führt ziemlich regelmäßig dazu, daß seine Frau seine Selbstdefinition
sofort entwertet:
«Haha, du meinst wohl den Teppich
festkleben, ne?»
Oder, Mann:
«Ich bin da etwas
ungeschickter»
. Frau:
«Ja, das stimmt. Du kannst
nicht einmal einen Nagel in die Wand schlagen, na ja ...»
Diese fast
ironische Zuspitzung der vom Mann gegebenen Selbstdefinition erscheint als
eine Taktik, die eine Umdefinition provozieren soll. Er beeilt sich deshalb,
seine Qualifikation zu betonen:
«Ich kaufe auch mal ein, ich
kenne nämlich die Preise besser.»
Frau:
«Ja, ja, das
hab’ ich gesehen, wenn du mit den großen Taschen kommst ...»
Das
führt bei einigen Wiederholungen zu regelrechter symmetrischer Eskalation,
in der es nur noch darum geht, in jedem Bereich
«gleicher»
als der andere zu sein. Mann:
«Deine
Salate schmecken mir nicht, meine sind besser!»
Frau:
«Du hast eben andere Vorstellungen ...»
Mann:
unverständlich; Frau:
«Und außerdem lass’ ich mir ins Kochen
nicht hineinreden.»
Durch die symmetrische Eskalation wird die
Unterhaltung so paradox, wie das letzte Beispiel zeigt, daß beide Partner
für sich mit Nachdruck Rollen in Anspruch nehmen, die sie gerade vorher mit
Nachdruck zurückgewiesen haben.
[055:149] Körperliche Strafen als Erziehungsmittel werden von beiden
Ehepartnern abgelehnt. Sie werden lediglich situationsabhängig toleriert, z.
B. wenn es in der Schule durch den Lehrer geschieht (so die Mutter) oder in
einer affektiv angespannten Situation, z. B. wenn das Kind den Vater grob
beschimpft und er selbst in unausgeglichener Verfassung ist (so der Vater),
wobei sich diese Situation allerdings für den Vater nicht als
«Erziehungssituation»
darstellt, sondern als spontane
Reaktion auf einen ernst empfundenen Angriff des Kindes. Auf die Frage:
«Stellen Sie sich vor, Ihr Kind würde heimlich Geld aus der
Haushaltskasse bzw. Ihrem Geldbeutel nehmen; was würden Sie tun?»
antwortet die Frau:
«Verbieten und klarmachen, warum.»
Und der Mann:
«Ich würde das Kind nicht schlagen, sondern
sagen, daß man so etwas nicht macht.»
Dies ist gleichsam die Kurzform
für den Typus elterlicher Kontrolle des kindlichen Verhaltens, den die
Eltern anstreben. Dabei scheint – auf einer gedachten Skala
«control versus autonomy»
– die Mutter stärker dem
«Kontroll»
-Ende zuzuneigen:
[055:150]
Mutter:
...
würde es bestrafen ...
[055:151]
Vater:
Aber da ist doch keine Absicht dahinter.
[055:152]
Mutter:
Aber das Kind überlegt sich doch etwas, bevor es das Geld
nimmt, wozu, für Bonbons oder ...
[055:153]
Vater:
Aber die Kinder denken doch nichts Schlechtes dabei.
[055:154]
Mutter:
Deswegen muß man es ihnen ja sagen, daß es nicht geht!
[055:155]
Vater:
Ja, gut, ich würde auch ...
|a 124|
[055:156] Das Bestrafen scheint sich also sowohl an den Absichten wie an
den Folgen auszurichten und über das Erklären der Folgen auf die
Herausbildung einer Selbstkontrolle beim Kind abzuzielen. Diese Vermutung
läßt sich durch das Material des offenen Tonbandprotokolls stützen.
[055:157] Bei der Interviewfrage:
«Stellen Sie sich vor, daß Ihr Kind Sie im Zorn beschimpft, wie würden
Sie reagieren?»
stellen sich die Verhältnisse in umgekehrter Richtung
dar. Da in diesem Falle die Folgen für sie anscheinend weniger schwerwiegend
sind als fehlendes Geld, würde die Frau mit dem Kind lediglich über die
Beschimpfung sprechen und fragen, warum es sich so verhält. Demgegenüber
nimmt der Vater ein solches Verhalten des Kindes als persönliche Beleidigung
wahr und nicht als eine Erziehungssituation. Er würde eventuell mit
«einer Ohrfeige»
reagieren. Zusätzlich würde er das Kind
mit
«Stubenarrest»
,
«keine Bonbons
kriegen»
und
«kein Kaugummi»
bestrafen.
[055:158] Diese situationsspezifische Differenz der elterlichen
Verhaltensplanung ist in zwei Hinsichten interessant. Da es sich bei der
ersten Situation um die
«Haushaltskasse»
der Frau
handelt, ist der finanziell begrenzte Rahmen der Familie direkt
angesprochen; die Lösung des Problems erfordert im Grunde zwei
Legitimationsketten, eine
«pädagogische»
(Rücksicht auf
das Kind, seine Intentionen, sein Verhalten) und eine
«ökonomische»
(Rücksicht auf die materiellen Rahmenbedingungen der
Familie, die durch pädagogische Strategien nicht überschritten werden
dürfen). Bei der zweiten Situation dagegen sind materielle Bedingungen
dieser Art nicht angesprochen; hier geht es vielmehr um die innerfamiliale
soziale Struktur, um das affektive Gewicht der Tatsache, daß zwischen Eltern
und Kindern ein Dominanzverhältnis (Autorität) besteht (
«statusorientierte»
Legitimationskette). Das jeder der beiden
Situationen zugrunde liegende familiale Thema (finanzielle Ressourcen im
einen, Herrschaftsstruktur im anderen Fall) ist also die Folie, auf der sich
sowohl Beziehungsproblematik wie pädagogische Verhaltensplanung
entfalten.
[055:159] Für den Gesamtzusammenhang der Familie haben indessen die beiden
Situationen nicht das gleiche Gewicht. Es scheint, als liege die zweite
Situation eher auf der eigentlichen Konfliktlinie der Familie. Jedenfalls
wird diese Vermutung nicht nur durch die oben ausführlich interpretierten
Beziehungen im Ehe-Subsystem gestützt, sondern auch durch die Art, in der
die Ehepartner die Gehorsamserwartung gegenüber den Kindern erörtern:
[055:160]
Frau:
Wenn wir
jetzt abends z. B. hier sitzen, und jetzt möchtest du irgend etwas
haben. Das erste ist: A. hol mir das mal.
[055:161]
Mann:
Kann er ruhig
machen.
[055:162]
Frau:
Ja, wieso?
[055:163]
Mann:
Ja, so, er ist der Älteste, er muß schon mal ...
[055:164]
Frau:
Das war früher
vielleicht so, aber heute nicht mehr!
[055:165]
Mann:
Er begreift ja schon eher und muß
auch.
[055:166]
Frau:
Du stellst
einfach jeden an und fragst ihn nicht irgendwas.
[055:167]
Mann:
Ja, was soll ich denn
fragen?
[055:168] Das Beziehungsmuster zwischen Mann und Frau wiederholt sich hier
in seinen Grundzügen in der Beziehung Vater-Sohn. Und so wie dort meldet
auch hier die Frau Kritik an ihm an. Im Vergleich mit dem entschiedenen
Festhalten des Mannes an den eingespielten Regeln familialer Rollentrennung
und Herrschaftsausübung plädiert die Frau für mehr Flexibilität. In ihren
Begründungen allerdings hält sie sich ganz im Rahmen innerfamilialer
Regelveränderung, plädiert für Selbstkorrektur und Neuanpassung,
Neudefinition, ohne dabei mögliche externe Bedingungen zu kalkulieren. |a 125|Was sie für sich in Anspruch nimmt, nämlich die
Berücksichtigung ihrer Erwerbstätigkeit, verwendet sie nicht zugleich auch
als ein Erklärungsmuster für die möglichen Verhaltensspielräume ihres
Mannes. Aber auch ihm ist diese mögliche Erklärungsweise für sein Handeln
nur partiell verfügbar. Als er im Fragebogen die Frage nach den für seinen
Beruf wichtigsten Anforderungen beantwortet und die Antwortmöglichkeit
«sich Anordnungen und Vorschriften fügen zu können»
ankreuzt, kommentiert er:
«Ja, ja, ist überhaupt das
Wichtigste bei uns!»
Berufliche Erfahrung und die
Alltagsanforderungen der familialen Organisation verschmelzen für ihn so
anscheinend zu einer abstrakt-normativen Perspektive, die dann als
«Traditionalismus»
oder
«Unterschichten-Autoritarismus»
erscheinen mag.
[055:169] Versuche, einzelne Situationen derart
«auf den
Begriff»
zu bringen bzw. derart eindeutig zu interpretieren, geraten
in die Gefahr, die Komplexität der Komponenten und möglichen Aspekte einer
Situation und des familialen Geschehens überhaupt zu stark zu reduzieren.
Wir wollen deshalb noch einige Beispiele eines anderen Materialtyps
heranziehen: Beobachtungen während einer freien, von den Interviewern nicht
strukturierten Interaktionssituation, in der die Familie in den Abendstunden
ihren gewohnten Verrichtungen nachgeht. Wie hat der Vater in dieser Lage
sich verhalten? Die nachfolgenden acht Kontakte ereigneten sich während
eines Zeitraumes von ca. 100 Minuten zwischen Vater und Kindern:
1.
[055:170] Die Mutter spült in der Küche Geschirr, A. macht dort
Schularbeiten, N. hält sich auch dort auf. Der Vater möchte in der Stube
seine Aufgaben machen (für den Fortbildungskursus) und fordert Torsten auf, seine
Malsachen wegzuräumen.
2.
[055:171] Situation wie oben. Torsten kommt ins Wohnzimmer, wo
der Vater seine Aufgaben macht. Der Vater gibt T. ein Märchenbuch zu
lesen mit den Worten:
«Das Buch da, kannst du
reingucken, hier so kannst in den Bildern gucken, ne.»
3.
[055:172] Andreas holt seine Schultasche aus dem Kinderzimmer, nimmt
sein Heft aus der Schultasche und zeigt es dem Vater, der gerade die
Aufgaben für den Fortbildungskursus rechnet. Dieser wirft das Heft des
Jungen auf den Fußboden, weil er dessen Schrift angeblich nicht lesen
kann.
4.
[055:173] Der Vater läßt sich von Torsten die Fernsehzeitschrift
holen.
5.
[055:174] Der Vater holt sich eine Likörflasche und ein Glas. Als er
feststellt, daß das Glas gesprungen ist, läßt er Andreas das Glas wegbringen,
und Torsten muß
die Aschenbecher ausleeren.
6.
[055:175] Nicole und Torsten räumen in der Küche Geschirr weg. Andreas räumt
seine Schulsachen weg und verläßt dann die Küche. Die Mutter stellt die
Waschmaschine an. Der Vater geht in die Küche, um zu kontrollieren, daß
die Kinder kein Geschirr kaputt machen.
7.
[055:176] Die Mutter und Nicole sind in den Keller
gegangen, um Wäsche aufzuhängen. Der Vater holt Legosteine und fordert Torsten und Andreas auf,
damit zu spielen:
«So, nun bauen wir ein Haus.»
Sohn:
«Wir haben doch schon ein Haus gebaut.»
Vater:
«Ach, rede nicht.»
8.
[055:177] Mutter und Nicole sind im Keller. Der Vater hilft Andreas und Torsten beim Bau
eines Legohauses.
[055:178] Die beiden letzten Situationen, obwohl als
«spielerisch»
inszeniert, lassen sich jedoch nur sehr eingeschränkt
als spielerische Interaktion bezeichnen, da der Hausbau ein wenig den
Anschein einer Beschäftigung eigens für die Interviewsituation hatte. Das
lassen die Äußerungen des Vaters vermuten:
«Ihr sollt doch
zusammen eins bauen, zusammen hab’ ich gesagt, nicht jeder eins.»
Oder:
«Na, nun los, nun baue los, daß es fertig wird, das
Haus.»
Oder:
«Nun los, was machst du denn da?»
Oder:
«Ich zeige euch das mal. Nun los, du machst rote, und
du machst weiße, du machst weiße, sag’ ich!»
[055:179] Eine Durchsicht der Mutter-Kind-Kontakte während desselben
Zeitraums ergibt zusammengefaßt:
|a 126|
–
[055:180] Nicole (2 J.) schmust mit der Mutter sehr häufig, wird nur
ein einziges Mal abgewiesen.
–
[055:181] Alle drei Kinder wenden sich spontan zunächst an die
Mutter, wenn sie ein Anliegen haben.
–
[055:182] Die Kinder halten sich fast ständig mit der Mutter im
gleichen Raum auf.
–
[055:183] Die lacht und scherzt wiederholt im Umgang mit den
Kindern.
–
[055:184] Sie verwendet, neben kurzen Anweisungen und befehlsartigen
Aufforderungen, verstärkt erklärende und fragende Sätze; das hängt
augenscheinlich davon ab, wie sehr sie durch die Situation
«eingespannt»
ist. Wäscht sie z. B. gleichzeitig
Geschirr, paßt auf Nicole auf und beaufsichtigt die Schularbeiten des Andreas, greift
sie stärker zu befehlsartigen, kurzen Anweisungen (
«Wenn
du ... dann machst du das nochmal!»
)
[055:185] An diesen Situationen wird unseres Erachtens deutlich: Einerseits scheint tatsächlich die Annahme
gerechtfertigt, daß der Umgang von Eltern mit ihren Kindern eine Art
sozialer Kurzformel ihrer eigenen Beziehungs- und Handlungsprobleme
darstellt. Was jedoch andererseits die
«Formel»
so schwer interpretierbar macht, will man sich nicht mit oberflächlicher Kategorisierung begnügen, das ist ihr formaler Charakter: Die das Verhalten der Erwachsenen bestimmenden Inhalte und Probleme sind in der Eltern-Kind-Beziehung nicht ohne weiteres zu erkennen. Wofür also jene Kurzformel steht, auf welche Probleme sie verweist, was mithin in einer Familie bewältigt werden muß, wenn ein Interesse an der Veränderung der pädagogischen Interaktionen besteht, das ergibt sich erst aus der Rekonstruktion der im ganzen Familiensystem repräsentierten Lebens- und Lernwelt. Davon ist auch unsere Fallinterpretation nur ein Ausschnitt. Der Interpretation selbst ist gewiß teils noch zu grob, sofern nämlich die die Interpretation leitenden Kategorien der Erweiterung, aber auch besserer Präzisierung und Differenzierung bedürfen. Sie ist aber auch schon zu feinmaschig, sofern nämlich das Forschungsinteresse sich nicht nur auf einzelne Fälle, sondern auch auf quantitative Aussagen richtet, da derart umständliche Verfahren nur schwer oder in nur sehr langwierigen Forschungsprozeduren zu erhalten sind. Uns scheint jedoch, daß der hier angedeutete Weg für eine pädagogisch interessierte Sozialisationsforschung nützlich ist.3
3Vgl. weiterführende
Überlegungen und Materialien bei Mollenhauer/Brumlik/Wudtke
1975; Mollenhauer (Hg.) 1975;
Hess/Handel 1975; Schütze 1975.