Aspekte einer strukturalen pädagogischen Interaktionsanalyse [Textfassung a]
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Aspekte einer strukturalen pädagogischen Interaktionsanalyse. Methodologische Hypothesen zur gesellschaftlichen Formierung von Bildungsverläufen

[062:1] Als Ziel von Interaktionsanalysen finden wir in der vorliegenden Literatur vor allem
  • [062:2] das Interesse an der Wirkung pädagogischer Interaktionen im Hinblick auf gewünschte und definierte Lernresultate (Unterricht, soziales Lernen),
  • [062:3] das Interesse an der Aufklärung von Störungen im Verhalten von Kindern, und zwar vornehmlich in Abhängigkeit vom Interaktionsmodus der Familie (Familientherapie-Forschung),
  • [062:4] das eher phänomenologische Interesse an Verfahren zur zureichenden Beschreibung dessen, was in pädagogischen Interaktionen vor sich geht.
[062:5] Ich möchte im folgenden dieses zuletzt genannte Interesse aufgreifen, und zwar so, daß ich einige Gedanken zu seiner systematischen Erweiterung vortrage. Das von mir vielleicht etwas gewaltsam unter diesem Namen zusammengefaßte
»phänomenologische«
Interesse an Interaktionen scheint mir besonders nahe an denjenigen Fragen zu liegen, die in der Erziehungswissenschaft einstmals im Rahmen einer
»Theorie der Bildung«
, der historischen Rekonstruktion von
»Bildungsidealen«
, besonders aber in der Darstellung der europäischen
»Gesittung«
aufgeworfen wurden1
1Vergl. besonders W. Flitner: Europäische Gesittung, Zürich 1961; aber beispielsweise auch H. Gerth: Die sozialgeschichtliche Lage der bürgerlichen Intelligenz um die Wende des 18. Jahrhunderts, Diss. Frankfurt/M. 1935; Th. Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, Bonn 1958⁵. N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Basel 1939.
. Das waren Fragen, die sich darauf richten, auf welche Weise und nach welchen Maßen das Subjekt im Prozeß seiner
»Bildung«
seine Form bekommt; etwas genauer könnte man sagen: was für den Bildungsprozeß bedeutsam ist, nach welchen Regeln das verschiedene Bedeutsame geordnet wird, wie diese Ordnung auf den Lebenskontext bezogen ist. In der Sprache der Linguistik und der Zeichentheorie könnte man sagen: solche Theorie der Bildung interessiert sich für die Syntax, die Semantik und Pragmatik der inneren und äußeren Form2
2Daß diese terminologische Übertragung sinnvoll ist, zeigt sich beispielsweise bei U. Eco (Einführung in die Semiotik, München 1972), aber auch in den linguistischen Arbeiten D. Wunderlichs (Studium zur Sprechakttheorie, Frankfurt/M. 1976) oder Ch. J. Fillmores (Pragmatik und die Beschreibung der Rede, in: M. Auwärter u. a. (Hg.): Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität, Frankfurt/M. 1976).
von individuellen (oder auch gruppentypischen) Lebensläufen.
[062:6] Bemerkenswert ist nun, daß diese – freilich ehedem in anderer Terminologie vorgetragenen – Problemstellungen neuerdings wieder auftauchen. Nachdem – vielleicht etwas voreilig – der geisteswissenschaftlichen Pädagogik der
»Ausgang ihrer Epoche«
bescheinigt wurde3
3Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger, hrsg. von I. Dahmer/W. Klafki, Weinheim 1968.
, setzte zunächst – durch die Reform-Anstrengungen im Bildungswesen kräftig unterstützt – die Periode der
»Bildungsforschung«
ein, die einerseits im Wesentlichen empirisch-sozialwissenschaftliche Forschung, andererseits zu großen Teilen Sozialisationsforschung ist. Fragen nach dem Bildungsprozeß wurden auf Fragen nach dem Sozialisationsprozeß reduziert4
4Am deutlichsten wurde das in den Theoremen oder Hypothesen zur sogenannten
»schichtspezifischen Sozialisation«
. Die durch diese Forschung erbrachten Ergebnisse – eigentlich ihrerseits nichts anderes als Konstrukte der Wissenschaft – werden zu Klichees der Sekundär-Literatur und teils auch der Praxis. Sie gerieten damit in eine Zone von Ambivalenzen, mit der wir heute – in industrialisierten Massengesellschaften – allenthalben zu tun haben: einerseits
»wahr«
zu sein in dem Sinne, daß sie – sofern zutreffend – notwendige Planungsdaten für die Verbesserung des Ganzen enthalten, andererseits aber auch für
»unwahr«
gehalten werden können, sofern damit etwas über die Bedeutungsstruktur individueller Bildungsverläufe ausgesagt werden soll.
. Parallel zu diesem Trend verlief ein zweiter: Die Publizität der Frankfurter
»Kritischen Theorie«
und das Anwachsen marxistischer Orientierungen in der Pädagogik beförderten einerseits eine – wie mir scheint naive – Rhetorik, nach der
»bürgerliche«
und irgendwie andere Wissenschaft unterschieden wurde; |a 242|die Literatur, die in diesem Umkreis erschien, beschränkte sich häufig auf eine begriffliche Auseinandersetzung mit pädagogisch relevanten sozialwissenschaftlichen Konstrukten, klassentheoretischen Deduktionen oder ökonomischen Analysen, in denen das Kind und pädagogische Erfahrung kaum noch vorkamen5
5Vergl. dazu beispielsweise J. Beck u. a.: Erziehung in der Klassengesellschaft; H. J. Gamm: Das Elend der spätbürgerlichen Pädagogik, München 1972 oder die Zeitschrift
»Erziehung und Klassenkampf«
.
. Andererseits entstand eine dem Anspruch nach sehr erfahrungsnahe Literatur, in der die Praxis selbst zur Sprache gebracht werden sollte, die aber weder dies noch eine erziehungswissenschaftliche Verarbeitung solcher Erfahrung zufriedenstellend leistete.
[062:7] Dies Bild hat sich seit einiger Zeit verändert: In der Sozialisationsforschung macht sich ein auf die historisch ausgeprägte Grundstruktur individueller oder gruppentypischer Bildungsprozesse gerichtetes Interesse immer bemerkbarer6
6Dies trifft vor allem für die Arbeiten Oevermanns zu; vergl. dazu insbesondere U. Oevermann u. a.: Beobachtungen zur Struktur sozialisatorischer Interaktion, in: M. Auwärter u. a., a. a. O.
; das Interesse an der Autobiographie als Quelle für die gesellschaftliche Form eines Bildungsprozesses wird wieder deutlich zum Thema7
7Vergl. die Beiträge von D. Baacke, G. Bittner, W. Gstettner und Th. Schulze in: Die Neue Sammlung, Jg. 1978, Heft 4. In dieser Hinsicht scheint mir bemerkenswert, daß noch vor 15 Jahren die Studien J. Henningssens zur Interpretation von Autobiographien kaum Beachtung fanden.
; die Geschichte der Erziehungswirklichkeit, mindestens im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft, wird wieder wichtig – jedenfalls signalisieren dies die in hohen Auflagen erschienenen Anthologien8
8Beispielsweise K. Rutschky (Hg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Frankfurt/Berlin/Wien 1977; I. Hardach-Pinke/G. Hardach (Hg.): Deutsche Kindheiten 1700–1900, Kronberg/Ts. 1978; M.-L. Könnecker (Hg.): Kinderschaukel, 2 Bde., Darmstadt 1976.
der jüngsten Zeit, die Popularität der Bücher von Aries und De Mause9
9Ph. Aries: Geschichte der Kindheit, München 1975; L. De Mause: Hört ihr die Kinder weinen, Frankfurt 1977.
, die begierige Aufnahme, die die Veröffentlichungen M. Foucaults10
10Vor allem M. Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt 1976.
bei uns finden; ein drei Jahrzehnte lang nahezu verschollen gebliebenes Werk, N. Elias
»Prozeß der Zivilisation«
, tritt wieder an die Oberfläche11
11N. Elias: Der Prozeß der Zivilisation, Frankfurt 1976, Neuauflage des in Anm. 1 genannten Werkes. Vielleicht kann man auch hierin – en passant – ein Indiz für die Tiefe der Schädigung sehen, die uns der Nationalsozialismus zufügte. Die Tradition bildungswissenschaftlicher Forschung, die sich beispielsweise mit Namen wie Elias, Gerth, Weil, Groethuysen verbindet, muß heute mühsam wieder hergestellt werden. Es würde mich nicht wundern, wenn nächstens auch B. Groethuysen: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 2 Bde., Halle 1927 und 1930 als Paperbackausgabe erscheint.
. Den in solcher Forschungs- und Publikationstätigkeit enthaltenen Interessen ist nach meinem Urteil eines gemeinsam: Sie werfen die Frage auf, ob und in welcher Form individuelle Erfahrung und Organisation (einer bestimmbaren Ordnung folgend) von Bildungsverläufen gesellschaftlich-geschichtlichen
»Mustern«
unterworfen ist und welche aktuell-praktischen Fragen sich ergeben, wenn es gelingen sollte, diese Muster zweifelsfrei zu identifizieren12
12K. Mollenhauer: Organisation und Interaktion in pädagogischen Feldern, in: Z. f. Päd., 13. Beiheft, Weinheim und Basel 1977.
.
[062:8] Damit ist ein langer Forschungsweg angedeutet. Auf diesem Weg mag es nützlich sein, verschiedene Hypothesen ins Spiel zu bringen. Meine Hypothese mit Bezug auf diese Frage lautet (in einem ersten Schritt): Bildungsverläufe repräsentieren immer das Insgesamt von Interaktionen, in die das sich bildende Individuum verflochten ist; die Ordnungen, denen es in solchen Interaktionen konfrontiert ist, sind also eine wesentliche Komponente seines Bildungsprozesses, durch die ihm möglicher Lebenssinn tradiert wird (der freilich von ihm selbst aber auch modifiziert oder – gegen die Tradition – produziert wird). Es wäre deshalb von Interesse, welchen epochalen Grundregeln die Interaktionen folgen, in die das Individuum verflochten ist. Es scheint also nützlich zu sein zu überlegen,
  • [062:9] auf welche Weise das in den Interaktionen geschieht,
  • [062:10] welche Merkmale von Interaktionen dies vor allem leisten,
  • [062:11] wie wir Interaktionen beschreiben könnten, um solche Fragen zu beantworten.

Eine
»ökologische«
Klassifikation von Interaktionsmustern

[062:12] Der amerikanische Sozialisationsforscher Bronfenbrenner hat kürzlich kritisch auf eine Eigentümlichkeit der Sozialisationsforschung, wenigstens der amerikanischen, hingewiesen13
13U. Bronfenbrenner: Ökologische Sozialisationsforschung, Stuttgart 1976, und ders.: Ansätze zu einer experimentellen Ökologie menschlicher Entwicklung, in R. Oerter (Hg.): Entwicklung als lebenslanger Prozeß, Hamburg 1978.
. Er bemängelt an ihr, daß sie am Forschungs-Typus des Labor-Experimentes orientiert sei, einzelne Merkmale des Umgangs von Er|a 243|wachsenen mit Kindern aus dem komplexen Lebensfeld herauslöse und diese dann wiederum auf isolierte Merkmale des kindlichen Verhaltens beziehe. Der Nachteil dieses Verfahrens zeige sich im Kulturvergleich: ein Zusammenhang, der innerhalb der einen Kultur gültig ist, ist es für die andere nicht.
[062:13] Bronfenbrenner folgert daraus seinen Forschungsvorschlag: Man solle künftig stärker
»die Struktur der alltäglichen Umwelt und ihrer wichtigsten Bestimmungsgrößen unter die Lupe nehmen«
14
14U. Bronfenbrenner, a. a. O. (1976), S. 203.
. Das bedeutet zunächst nichts anderes, als daß wir den Begriff
»Struktur der alltäglichen Umwelt«
genauer bestimmen müssen: Was gehört dazu, damit man sagen kann, es bilde eine
»Struktur«
, und von welchen derart bestimmten Strukturen oder Strukturelementen ist sinnvoll, d. h. vorerst nur heuristisch, anzunehmen, daß sie für den Bildungsprozeß des Kindes von Bedeutung sind?
[062:14] Bronfenbrenner schlägt nun – als ersten Schritt in dieser Richtung – eine Klassifikation in drei Umweltschichten und drei Dimensionen vor. Seine Dimensionen sind:
  • [062:15]
    »die Personen mit ihren verschiedenen Rollen und Beziehungen«
    ,
  • [062:16] die Lebensverhältnisse
    »nach ihrer räumlichen und stofflichen Anordnung«
    ,
  • [062:17]
    »die Tätigkeiten, die Personen ausüben«
    .
[062:18] Seine Schichten sind:
  • [062:19]
    »die unmittelbare Umgebung«
    ,
  • [062:20] die Bedingungen dieser Umgebung in der Form von Interaktionen und
    »sozialen Netzwerken«
    ,
  • [062:21] das
    »ideologische System«
    oder – wie ich sagen möchte – das System dominanter gesellschaftlicher Verkehrsformen.
[062:22] Bronfenbrenner will damit – wenn ich recht sehe – zweierlei vorschlagen: Im Hinblick auf die Gegenstände pädagogischer Forschung lenkt er den Blick zwar nicht von den Individuen weg, aber konzentriert ihn ebenso auf die
»Strukturen«
der Lebenswelt; nicht auf einzelne isolierte Merkmale, sondern auf die in ihr enthaltenen Regeln; im Hinblick auf die Methodologie pädagogischer Forschung will er soziale
»Settings«
, wie im Experiment, variieren, und zwar vorzugsweise dadurch, daß diejenigen
»natürlichen«
Settings beobachtet werden, die dem Bildungsalltag des Kindes seine Form geben, sei es im Bezug auf die gegenwärtigen pädagogisch relevanten Umwelten, sei es mit Bezug auf den historischen Vergleich.
[062:23] Dies ist – ich wies schon darauf hin – kein ganz neues Thema. Wenngleich in anderer Terminologie vorgetragen, steckt der Gedanke, den Bildungsprozeß mit Hilfe der Regeln zu beschreiben, denen die Interaktions-Netze folgen, in denen das sich bildende Individuum sich bewegt, bereits in dem schon zitierten Werk von N. Elias. Er untersucht dort die Frage, wie es in der Zeit seit dem Mittelalter zu demjenigen Verhaltenstypus gekommen ist, der für uns heute als der
»zivilisierte«
die Regel ist. Er bezeichnet sein Unternehmen als Darstellung der Soziogenese zwischenmenschlichen Verhaltens. Sein Verfahren besteht darin, daß er über den ihn interessierenden Zeitraum hinweg mikro- und makrosoziale Beobachtungen miteinander vergleicht: beispielsweise die Entstehung des Geldverkehrs, der feudalen Administration, der Konzentration der politischen Macht – mit den Eigentümlichkeiten des persönlichen Verhaltens der Menschen zueinander (allmählicher Rückgang spontaner aggressiver Verhaltensweisen,
»Zivili|a 244|sierung«
der Tischsitten, rational gesteuerter Umgang mit Kindern usw.). Es geht also um die Darstellung von
»Lebensformen«
, der dem Individuum im Bildungsprozeß vorgegebenen Muster für ihre Beziehungen. Von
»Lebenformen«
spricht denn auch W. Flitner; bei deren Geschichte handelt es sich
[062:24]
»um die Ansprüche, welche die Menschen im Zusammenleben an ihr Verhalten zueinander und dann auch an sich selber stellen ... die minimale Erfüllung von Verhaltensregeln, die man in jedem Lebenskreis voneinander heischt ... um die Verhaltensweisen, die im zwischenmenschlichen Verkehr als selbstverständlich gelten«
15
15
W. Flitner: Die Geschichte der abendländischen Lebensformen, München 1967, S. 10
(Neuauflage des Buches in Anm. 1).
.
[062:25] Wiederum ähnlich, wenn auch in der methodischen Durchführung verschieden von Elias und Flitner, ist Ph. Aries
»Geschichte der Kindheit«
. Er beschreibt die Wandlung im Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern im Kontext spezifisch pädagogischer Umwelten, vor allem Familie und Schule. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß die pädagogischen Interaktionsmuster, die sich in der neuesten Zeit durchgesetzt haben, nicht etwa als Fortschritt der
»Zivilisation«
zu begrüßen sind, sondern durch sie dem Kinde gerade mehr Gewalt, wenn auch psychische, angetan wird. Der amerikanische Psychoanalytiker De Mausse wiederum hat eine Psychogenese des Umgangs von Eltern mit Kindern skizziert, die sich nach der Klassifikation Bronfenbrenners ganz auf die mikrosoziale Schicht konzentriert16
16L. De Mause, a. a. O. (vergl. Anm. 9).
. Aufgrund eines breiten Quellenstudiums und detaillierter Interpretation von zeitgenössischen Texten kommt er zu der evolutionistischen These, daß die
»zivilisierte«
Interaktionsstruktur zwischen Eltern und Kindern durch eine Art Akkumulation psychologischer Erfahrung über die Generationen hinweg entstanden sei: Da jede Generation gleichsam zweimal durch den Engpaß der Kindheit hindurch muß, zunächst in der unmittelbar eigenen Erfahrung als Kind und dann als Mutter oder Vater in der Erinnerung an die eigenen Erfahrungen angesichts des eigenen Kindes, entsteht eine immer differenziertere Form dessen, was in der Sprache G. H. Meads
»role-taking«
heißt; ein Interaktionsmuster, für das das Sich-hinein-Versetzen in die Perspektive des anderen wesentlicher Bestandteil ist.
[062:26] Bei aller Verschiedenheit der Thematik und Methodik steckt in solchen Untersuchungen doch eine gemeinsame Frage. Man kann es so formulieren: Lassen sich – gleichsam unterhalb von pädagogischer Absichtlichkeit – Interaktionen ermitteln, die dem Bildungsprozeß der Individuen ihre gesellschaftlich bestimmte Form geben; welche Gründe und Ursachen haben diese Muster; welche Funktionen erfüllen sie; welche praktischen Fragen werden dadurch aufgeworfen, daß man sie ermittelt? Im Folgenden möchte ich einen Vorschlag für die Bearbeitung der ersten dieser Fragen machen.

Dimensionen der Beschreibung bildungsrelevanter Interaktionsmuster

[062:27] Die von mir ins Auge gefaßte
»Dimensionierung«
von Interaktionsmustern – man könnte auch sagen: die Klassifikation relevanter Komponenten eines solchen Musters – ist hypothetisch in doppeltem Sinne: einerseits ist es noch ungewiß, ob die Anwendung dieser Beschreibungsdimension tatsächlich konsistente und relevante Ergebnisse erbringt über ihre bloße Plausibilität hinaus; anderer|a 245|seits ist die Wahl der Dimensionen noch nicht zwingend begründet17
17Ein wenigstens partieller Begründungsversuch liegt vor bei M. Parmentier: Die Struktur der kindlichen Interaktion, Diss. Göttingen 1978.
; auch sie kann sich also vorerst nur auf Plausibilität berufen. Kurzum: Mein Vorschlag umfaßt eine Unterscheidung der folgenden
»Schemata«
als Dimensionen der Beschreibung typischer pädagogischer Interaktionen:
  • [062:28] das Klassifikationsschema,
  • [062:29] das Raumschema,
  • [062:30] das Zeitschema,
  • [062:31] das Werkzeugschema,
  • [062:32] das Interpunktionsschema.
[062:33] Dieser Wahl liegt folgende Überlegung zugrunde: Blicken wir auf die frühen Phasen des Bildungsprozesses – und zwar gleichviel ob er sich in der Gegenwart, zur Zeit Pestalozzis oder zur Zeit des Erasmus abspielt – dann scheint es, als gäbe es eine prinzipiell begrenzte Klasse von Grundentscheidungen, die geschichtlich teils bereits getroffen sind, die anderenteils zunächst der Edukator, später auch der Edukandus zu treffen hat im Hinblick auf die gesellschaftliche Form von dessen Bildung: Die Welt ist immer schon
»geordnet«
, mindestens durch den lexikalischen Bestand der Sprache (Klassifikation); sie hat aber auch in Raum und Zeit eine bestimmte Form; für das Kind und seine dingliche Erfahrung gibt es oder gibt es nicht
»Sachen«
und
»Werkzeuge«
, mit denen es umgeht und die eine bedeutungsvolle Beziehung sowohl zur Welt wie auch zum Ich haben; zwischenmenschliche Beziehungen orientieren sich an Zuschreibungsregeln, in denen Anfang und Ende, Ursache und Folge, Schuld und Unschuld bestimmt werden (Interpunktion); schließlich enthält der Bildungsprozeß Antizipationen im Hinblick auf den Wert des Erworbenen im Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenhangs, für die Sicherung der materiellen Existenz. Dieser Katalog von Dimensionen ist gewiß nicht vollständig; einerseits erfaßt er weder die affektiven Merkmale pädagogischer Beziehungen, noch die ethische Dimension pädagogischen Handelns; andererseits bezieht er sich nur auf eine mittlere Schicht zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen pädagogischem Mikro- und gesellschaftlichem Makrosystem. Das soll nun an den einzelnen
»Schemata«
erläutert werden.

1. Das Klassifikationsschema

[062:34] Eine der elementaren Operationen bei der
»Konstruktion der Wirklichkeit«
ist das Klassifizieren. Levi-Strauss hat diesen Gesichtspunkt bei der Analyse primitiver Kulturen, Foucault bei der Analyse von Wissensstrukturen der Neuzeit relativ erfolgreich angewandt. Für die pädagogische Interaktion läßt sich das folgendermaßen erläutern:
[062:35] Grundbestandteil jeder Interaktion sind Ordnungen, die im Hinblick auf die Objekt- und Sozialwelt vorgenommen werden und die zugleich die Bedingungen der Möglichkeit darstellen, Probleme zu formulieren, Handlungen zu planen, definierte Beziehungen aufzunehmen usw. Ein Beispiel dafür sind die Klassifikationen, die im Hinblick auf Lebensalter jeweils in Geltung sind. Wir haben uns an die gesellschaftlich eingespielten Altersklassifikationen derart gewöhnt, daß bis|a 246|weilen der Anschein erweckt wird, es handele sich dabei um gleichsam in der Natur des Menschen liegende Sachverhalte: Frühe Kindheit, Vorschulalter, Kindheit bis zur Pubertät, Adoleszenz. Noch bis ins 17. Jh. hinein waren Klassifikationen dieser Art weniger dominant. Den Altersklassifikationen nebengeordnet waren solche, die den sozialen Status und die Integration in den Arbeitsprozeß betrafen. Anschauliche Dokumente dafür sind alte bildliche Darstellungen. Die Kinder sind den Dienstboten gleich, man kann häufig nicht erkennen, um wen von beiden es sich handelt. Es ist einleuchtend, daß eine solche Art der Klassifikation unmittelbar relevant für das pädagogische Handeln, die Interaktion mit den Kindern, ist. Spätestens mit der konsequenten staatlichen Schulpolitik gibt es innerhalb der Altersdimensionen die folgenreiche feinere Klassifikation nach Jahrgängen. Auch in anderen Hinsichten müssen wir mit historischen und kulturellen Variationen der Klassifikationsschemata rechnen. Häufig diskutiert und offenbar auch innerhalb einer Kultur in gewissen Grenzen variabel sind die Definitionen des gewünschten, gebilligten und mißbilligten Verhaltens; ihnen liegen vermutlich die
»stabileren«
Unterscheidungen von
»normal«
und
»anormal«
zugrunde18
18Vergl. G. Devereux: Normal und Anormal, Frankfurt 1974.
. Wie stark sind die Grenzen, die zwischen diesen Klassen gezogen werden19
19Einen ähnlichen Gedanken verfolgt B. Bernstein: Beiträge zu einer Theorie des pädagogischen Prozesses, Frankfurt 1977.
, und mit welchen anderen werden sie assoziiert, wann finden sie vornehmlich pädagogische Anwendung, in welchen Lebensaltern, in welchen Situationen? Gibt es in einer bestimmten historischen Lage überhaupt die Klasse
»pädagogische Situationen«
usw. Ich denke mir, daß es für bestimmte historische Texte und Kontexte20
20Damit ist freilich nicht nur Geschriebenes gemeint. Als Text bezeichne ich – dem ursprünglichen Wortsinne nach – alles, was als verstehbarer Zusammenhang der Beobachtung und Deutung zugänglich ist. Auch die
»stumme«
Spielhandlung eines Kindes ist demnach ein pädagogischer
»Text«
.
möglich sein müsse, das grundlegende und relativ stabile Raster von Klassifikationen zu ermitteln, das die elementare Herausforderung an jeden Bildungsprozeß darstellt.

2. Das Raumschema

[062:36] Die Konzentration der erziehungswissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf die pädagogisch-intentionale Handlung, ihre psychischen Implikationen und die sozialen Formen ihrer Institutionalisierung hat die Frage nach der Bedeutung des gebauten Raumes für den Bildungsprozeß zurücktreten oder gar nicht erst aufkommen lassen. Eine Architekturgeschichte in pädagogischer Absicht ist – soviel ich weiß – noch nicht geschrieben worden20a
20aEinen materialreichen Anfang hat gemacht H. Lange: Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit, Weinheim/Berlin 1967.
. Dabei liegt es nahe anzunehmen, daß das räumliche
»Setting«
nicht nur Ausdruck architektonischen Willens, ökonomischer Kalkulationen, von Nützlichkeitserwägungen oder Herrschaftsinteressen ist, sondern daß in ihr Lebensformen gleichsam vorstrukturiert, Bedeutungen festgelegt, Interaktionstypen reguliert werden. Ich möchte das an einem speziellen Fall erläutern: den Wohnungsgrundrissen21
21Vergl. beispielsweise St. Baumeier: Das Bürgerhaus in Warendorf. Ein volkskundlicher Beitrag zur Geschichte des Profanbaus in Westfalen, Münster 1974.
. Um 1600 dominierte ein Wohnungs- oder Haustyp, der nur ein Minimum an innerer Gliederung enthielt. Essen, Arbeiten und Geselligkeit fanden im gleichen Raum statt, sehr häufig sogar das Schlafen. Die Raumaufteilung folgte, so könnte man mit einem von Bernstein zur Beschreibung didaktischer Planungen verwendeten Begriff sagen, einem
»Integration Code«
: Lebensfunktion und Interaktionsstile wurden nicht getrennt, sondern auch räumlich zu einer Sinn-Einheit verbunden. Das entspricht wirtschaftsgeschichtlich einem noch geringen Grad der Arbeitsteilung und interaktionsgeschichtlich einem geringen Grad der Differenzierung in verschiedene |a 247|institutionell gestützte Stile oder Segmente des interpersonalen Handelns. In der Folgezeit beginnen die Leute, ihre Häuser umzubauen, ein Prozeß, der gegen Ende des 18. Jh. im wesentlichen abgeschlossen ist: Es entsteht eine Art Teilung der Lebensfunktionen, eine analytische Aufgliederung in Interaktionstypen, was sich darin ausdrückt, daß funktionsgerechte Räume eingerichtet werden für das Schlafen, das Arbeiten, den Feierabend (Wohnstube), das Kochen und Essen. Die alte Halle, der Saal oder die Diele werden immer kleiner, schrumpfen zum Flur, der nur noch Verteiler-Funktion hat. Das letzte Glied in der Kette ist das Kinderzimmer. Dieser Entwicklung parallel verläuft die Geschichte der Konstruktion von Lernräumen, deren Prinzip – wenigstens eine Zeit lang – der Korridor und seine Verteilerfunktion, die Zerlegung und Sortierung des homo educandus zu sein scheint22
22Quellenmaterial zu dieser Frage findet sich bei K. Rutschky, a. a. O.; M. Foucault interpretiert diesen Sachverhalt vor allem im dritten Kapitel des Buches
»Überwachen und Strafen«
.
.

3. Das Zeitschema

[062:37] Auch die Art, in der
»Zeit«
zu einer strukturierenden Komponente von Interaktionen wird, ist veränderlich. Am ehesten plausibel wird diese Tatsache, wenn man sich vergegenwärtigt, was sich im Verlauf der Neuzeit in den pädagogischen Verhältnissen dadurch geändert hat, daß die Erziehungs- und Bildungsvollzüge im Sinne eines
»mechanischen Zeitschemas«
strukturiert wurden. Auch an diesen Umstand haben wir uns offenbar derart gewöhnt, daß er in der pädagogischen Forschung kaum noch zum Thema gemacht wird: wir definieren – unabhängig von den subjektiv bestimmten Lernrhythmen – Lern- und Interaktionseinheiten in Zeitintervallen: Schulstunden und -Jahre, biographische Lernphasen mit jeweils zugeordneten Leistungen, sogar Therapiestunden mit festgesetzter Länge und dies offenbar in Analogie zu den Prinzipien, denen auch die Zeitschemata der industriellen Produktion folgen. Daß dies nicht nur eine Bedingung, sondern auch ein Merkmal von Interaktionen selbst ist, scheint mir einleuchtend: Zur
»Situationsdefinition«
– um einem Terminus des symbolischen Interaktionismus zu verwenden – und damit zur Strukturierung einer interpersonalen Beziehung gehört es, einerseits
»innere Zeit«
zu realisieren, d. h. den Verlauf der Interaktion als Prozeß zu erfahren und zu gestalten – andererseits aber auch
»äußere Zeit«
zu antizipieren und in der Interaktion zur Geltung zu bringen. Wie dicht dies mit den alltäglichen Lebensformen und ökonomischen Komponenten zusammenhängt, möchte ich an einem historischen Beispiel erläutern:
[062:38] Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gab es eine bestimmte Gruppe von Gewerbetreibenden, die immer wieder dem gleichen Strukturproblem ausgesetzt war: Ländliche Familien, die sich von Hausindustrie ernähren mußten. Die Bedingung dieser Nötigung lag einerseits im makrosozialen Bereich: im Entstehen einer zahlreichen, permanent unterbeschäftigten, kleinbürgerlichen und landarmen Schicht23
23H. Medick: Zur strukturellen Funktion von Haushalt und Familie im Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zum industriellen Kapitalismus: die proto-industrielle Familienwirtschaft, in: W. Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976. Die folgenden Ausführungen schließen eng an diesen Aufsatz an.
und in der Ausdehnung des vom Handelskapital beherrschten Weltmarktes. Andererseits lebten diese Familien – und das ist ein mikrosoziales Datum – von Hausindustrie, die an die Dynamik oder Eigengesetzlichkeit von Haushalt und Familie gebunden war. Im Hinblick auf diese Gruppe und mit Bezug auf das Problem der Zeitstruktur von Interaktionen scheint mir nun die folgende Beobachtung von Historikern interessant zu sein: Diese Familien – |a 248|gleichsam auf der Grenze zwischen agrarischer und industrieller Produktion, vorkapitalistischen und kapitalistischen Verhältnissen angesiedelt – verhalten sich auf eigentümliche Weise
»unökonomisch«
; ihre ökonomische Ratio ist nicht am Gewinn, sondern an einer Arbeit-Konsum-Balance orientiert. Obwohl vom Kapitalmarkt abhängig, verhalten sie sich familienwirtschaftlich: Sinken die Erträge der Familienwirtschaft, so steigert diese ihren Arbeitsaufwand, und zwar prinzipiell unbegrenzt. Mit Bezug auf das Problem der Zeitschemata ausgedrückt, könnte man sagen: diese Familien geraten in Konflikt zwischen einem Zeitschemata, das nach den Rhythmen von Arbeit und Verbrauch, ausschließlich nach dem Kontext der eigenen Lebenswelt, bestimmt ist und einem Zeitschema, daß sich aus der Tatsache ergibt, daß die Arbeitskraft und ihre Verausgabung in Relation zu Zeiteinheiten beginnt, Warencharakter anzunehmen. Auf dieses Dilemma reagieren die Familien mit vermehrter Kinderzahl; die Kinder wiederum, da für sie im Unterschied vielleicht zu ihren Vorfahren Erbfolge in nennenswertem Ausmaß nicht mehr in Frage kam, heirateten wesentlich früher als Bürger und Bauern. Die wertvollste, weil die relative Haushaltsgröße, d. h. das Verhältnis von Produzenten zu Konsumenten verbessernde Mitgift der Frauen war ihre handwerkliche Fähigkeit, die Folge professionelle Endogamie. Eine andere Folge war die relativ frühe Einführung der Kinder in die Produktionstechniken. Der Zeit-Zyklus einer Familie bekommt auf diese Weise eine eigentümliche Struktur: Mit der Geburt der Kinder wird die Familie arm, die Anstrengung richtet sich auf die Ausbildung in den produktiven Fertigkeiten; mit dem Heranwachsen der Kinder wird die Familie reich, die Kinder projektieren eigene Familiengründung; die Eltern werden wiederum arm; das erzeugt einen weiteren Effekt: die Erweiterung des Haushalts um familienfremde Mitglieder. Es läßt sich denken, daß dieser der Familie durch ihre Produktionssituation aufgenötigte Zyklus nicht nur das gleichsam äußere Zeitschema darstellt, in dem die Rhythmen für Geburt und Heirat, Phasen der Knappheit und des (relativen) Wohlstandes vorgezeichnet sind, sondern auch Bedeutung für die Interaktionen im familialen Binnenraum für das Lernmilieu des Kindes hat. Für die Mikro-Ebene beispielsweise läßt sich vermuten, daß solche Zeitschemata auch den Rhythmus von Bedürfnis und Befriedigung und damit die Interaktion zwischen Mutter und Kind regulieren. Daß dies wiederum folgenreich für die Form der individuellen Bildung sein kann, hat die Sozialisationsforschung am Beispiel des
»Deferred Gratification-Pattern«
plausibel machen können24
24Die unterschiedliche Ausprägung dieses Musters in Abhängigkeit von der sozialen Situation oder Position verweist vermutlich nicht nur auf das mikro-pädagogische Datum verschiedener Umgangstechniken in der unmittelbaren Beziehung zwischen Eltern und Kindern, sondern auch auf verschiedene kulturspezifische Zeitschemata der Handlungs- und Lebensorientierung überhaupt. Vergl. dazu G. Kasakos: Zeitperspektive, Planungsverhalten und Sozialisation, München 1971.
.

4. Das Werkzeugschema

[062:39] Jede Interaktion enthält etwas, das ich ihre
»Instrumentierung«
nennen möchte. In der gegenwärtigen Interaktionsforschung analysieren wir für gewöhnlich sprachliche Vorgänge. Das ist auch naheliegend in einem kulturellen Kontext, der jene eigentümlichen pädagogischen Institutionen hervorgebracht hat, die nicht nur durch ihre Vorläufigkeit im Bezug auf den
»Ernst des Lebens«
sich auszeichnen, sondern geradezu definiert werden können durch die ihnen eigenen pädagogischen Sprachspiele. Obwohl also die Interaktionsanalyse als Analyse von Sprechakten oder – nach Maßgabe anderer theoretischer Positionen – symboli|a 249|scher Kommunikation o. ä. gewiß ihre Berechtigung hat, könnte es doch ein Fehler sein, wenn dadurch unsere Aufmerksamkeit von den anderen möglichen
»Instrumentierungen«
der Interaktionen von Kindern ganz abgelenkt würde, zumal eine solche Beschränkung einen Kultur- oder Ethnozentrismus enthalten könnte, der die kritische Distanz zu dem, was wir selber sind und tun, erschwert. In diesen Zusammenhang gehört, daß bei uns Geschichte der Pädagogik nahezu ausschließlich als Geschichte ihrer Texte, nicht aber auch als Geschichte ihrer Bilder geschrieben wird.
25Neuerdings deutet sich da eine Wende an. Man merkt es daran, daß immer mehr wissenschaftliche Veröffentlichungen zu pädagogischen Fragen auch bebildert sind, wenngleich noch spärlich und ohne daß die Bilder selbst zum Gegenstand der Interpretation gemacht werden.
Blättert man in alten bildlichen Darstellungen pädagogischer Situationen – aber eigentlich genügte schon eine aufmerksame Beobachtung von Kindern beim Spiel – dann scheint der folgende Gedanke sinnvoll: Die Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Kindern untereinander enthalten eine Vielzahl verschiedenartiger Werkzeuge, mit deren Hilfe Interaktion bewerkstelligt wird; die Sprache ist nur eines von ihnen; andere sind die Körpergesten, die Werkzeuge der Tätigkeit Erwachsener (Hammer und Spinnrad, Webstuhl und Kugelschreiber, Papier und Farbe usw.), die alten Spielgeräte (wie Ball und Reifen) die pädagogisch erdachten Gegenstände (wie Puppenstuben, Baukästen, Lernspiele), die Möbel unserer oder früherer Wohnungen (Badezuber oder Wanne, Tische, Stühle und Betten), die pädagogischen Apparate (Schulbank, Tafel, Sprachlabor).
[062:40] Auf Anhieb mag es schwer fallen, in diese Vielfalt eine Ordnung zu bringen, in ihr so etwas wie eine Regel zu entdecken26
26M. Parmentier (a. a. O., Anm. 17) hat einen Versuch dazu in Anlehnung an die Zeichentheorie U. Ecos unternommen. Er klassifiziert die
»Instrumente«
pädagogischer Interaktion danach, ob sie
»präsentierend«
oder
»repräsentierend«
und danch, ob sie
»digital«
oder
»analog«
sind. Auf diese Weise erhält er 4 Klassen, von denen jede eine besondere pädagogische Funktion erfüllt (S. 146 ff.).
. Mir scheinen indessen doch die folgenden Vermutungen plausibel: Es macht einen wesentlichen Unterschied im
»objektiven Sinn«
einer Interaktion27
27Zum Terminus
»objektiver Sinn«
vergl. U. Oevermann, a. a. O. (Anm. 6).
, ob in ihr symbolische (z.B. sprachliche) oder Tätigkeiten bezeichnende (z. B. die Geräte des täglichen Hantierens) Werkzeuge dominieren; es macht ferner einen vielleicht wesentlichen Unterschied, ob die Instrumentierung der pädagogischen Interaktion vorwiegend über die unmittelbare Teilhabe an dem Leben der Erwachsenen verläuft oder von diesem separiert wird und eigenen Konstruktionsregeln folgt; es macht schließlich – so vermute ich – einen wesentlichen Unterschied, ob die pädagogische Instrumentierung dem Prinzip einer weiteren Differenzierung nach Lernarten, Lernzielen und zu trainierenden psychischen Fähigkeiten folgt oder ob sie solche Ausbildung der Individualität den möglichen Regulierungen im Lebensfeld des Kindes überläßt. Es könnte sein, daß die kulturspezifischen, und je sicher auch für die Gesellschaftsformation im Ganzen funktionalen Ausprägungen bestimmter Werkzeugschemata pädagogischer Interaktion mehr über die gesellschaftliche Form eines Bildungsprozesses zu erkennen geben, als die nur auf symbolische Gesten konzentrierte Interaktionsanalyse.

5. Interpunktionsschemata

[062:41] Bei den vielen Versuchen der letzten Jahre, die Theorie menschlicher Kommunikation Watzlawicks für die Pädagogik nutzbar zu machen, war – im Vergleich zu den anderen
»Axiomen«
dieser Theorie – seltener von dem die Rede, was die
»Interpunktion«
zwischenmenschlicher Beziehungen genannt wird28
28P. Watzlawick/I. H. Beavin/D. D. Jackson: Menschliche Kommunikation, Bern 1969, S. 61 ff.
. Ich nehme gerade dieses Axiom in meinen Gedankengang auf, weil es mir besser als die anderen geeignet scheint, sowohl Merkmale der Umwelt als auch kognitive Merk|a 250|male der individuellen Handlungsplanung hervorzuheben. Unter
»Interpunktion«
möchte ich, im Anschluß an Watzlawick, solche Kausalattributierungen verstehen, die sich auf die Erklärung von Interaktionen beziehen. Solche Erklärungen werden zwar in besonderen praktischen Situationen aktualisiert, aber sie entstammen – jedenfalls in der Regel – nicht diesen Situationen. Sie repräsentieren vielmehr situationsunabhängig und überindividuell geltende Schemata, gleichsam kulturell gebilligte Deutungen menschlicher Handlungen.
[062:42] Dazu einige Beispiele: Die immer größere Verbreitung, die gegenwärtig psychologisch-therapeutische und paratherapeutische Verfahren in der Pädagogik finden, wird u. a. ermöglicht durch ein
»Interpunktionsschema«
, nach dem die Ursache für Verhaltensprobleme und Interaktionsstörungen in bestimmten Merkmalen der Psychogenese des Individuums gesehen wird; an diesen Merkmalen orientieren sich die Interaktionen im therapeutischen Prozeß; aber nicht nur diese: Da das Schema zum zuhandenen gesellschaftlichen Wissen gehört, können solche Attributierungen auch in der alltäglichen Erziehungspraxis auftauchen. Interpunktionsschemata können sich also danach unterscheiden, wo die Bedingungen für den Verlauf einer Interaktion, die Quellen für eine Störung lokalisiert werden: in den beteiligten Individuen, in externen sozialen Variablen, in institutionalisierten Interaktionssystemen. Sie können sich ferner danach unterscheiden, ob die an der Interaktion Beteiligten Gründe für ihr Verhalten intentional geltend machen, oder ob sie sich und ihre Partner als
»Opfer«
von Determinationen interpretieren. Die Geschichte der Erziehung könnte so als die Geschichte jeweils anderer die Erziehungsverhältnisse leitender Interpunktionsschemata geschrieben werden. Unter welchen Bedingungen, zu welchem Zweck und mit welchen Folgen entstand beispielsweise das heute verbreitete Schema psychologischer Kausalattributierungen29
29Vergl. dazu D. Ulich/K. Haußer: Methodologische Probleme bei der Untersuchung kognitiver Kontrolle (Kausalattributierung und Coping), vervielfältigtes Manuskript 1978.
; repräsentiert es – oder irgend ein anderes – zugleich die Interpretationsgewalt von pädagogischen Institutionen; wie verhalten sich Kinder und Jugendliche zu solchen Interpretationen; variieren die herrschenden Schemata – beispielsweise in der Familie – mit dem Alter der Kinder; wodurch behalten die Schemata ihre Geltung und wie können sie verändert werden?
[062:43] Erwägungen dieser Art könnten den Eindruck erwecken, als seien sie nur von akademischem Interesse, Theorie ohne praktische Bedeutsamkeit, für das pädagogische Handeln keine Entscheidungshilfe. Einige Beobachtungen aus jüngster Zeit lassen es mir indessen plausibel erscheinen, daß dem nicht so ist: Jugendliche Subkulturen und Wohngemeinschaften suchen nach neuen Interpunktionsschemata, experimentieren mit religiösen Vorstellungen, lesen Castaneda und Tolkien, um andere in die Zukunft hinein offenere Erklärungen zu finden. Neue Initiativen im Beratungswesen, im Bereich der psychosozialen Versorgung versuchen, sich von etablierten Klassifikationsschemata von gesund und krank, normal und anormal zu trennen. Das ist der Sinn der Antipsychiatrie. Bei Neugründungen von Kleinheimen und der Reform bestehender Einrichtungen, gelegentlich auch in Schulen, beginnt die Suche nach neuen Raum- und Zeit- Schemata; hier, besonders aber auch in den Versuchen,
»Freie Schulen«
einzurichten, in der Waldorfpädagogik schon seit langem, erleben wir darüber hinaus das praktische Experimentieren mit Werkzeugschemata, die die gegenständliche Handlung des Kindes, seine Beteiligung an den Tätigkeiten des Erwachsenen, die |a 251|Objektwelt, mit der es umgeht, ernster nehmen. Das alles betrifft eine besondere Komponente der pädagogischen Handlung, ihr eigentümlich zugehörend. In Anlehnung an Levi-Strauss möchte ich sagen: Erziehen ist (auch) eine
»strukturale Tätigkeit«
. Was das heißen und welche Fragen dann die Erziehungsforschung bearbeiten könnte, habe ich versucht zu skizzieren. Ob ein solcher Weg indessen erfolgreich und für die Praxis nützlich ist, steht freilich noch dahin.