Vorwort des Herausgebers [zu Tietgens, Die Erwachsenenbildung] [Textfassung a]
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Vorwort des Herausgebers

[V57:1] Wer heute ein Buch über
»Erwachsenenbildung«
schreibt – oder, wie immer häufiger gesagt wird: über
»Weiterbildung«
oder den
»quartären Sektor«
des Bildungswesens hat es schwer. Der Gegenstand ist sozial weniger präzise definiert und durch Rechtsformen gestützt als etwa Schule und Jugendhilfe; der Stand der Professionalisierung von Mitarbeiter-Rollen ist heterogen und keinem Ausbildungsgang eindeutig zuzuordnen; soweit die Praxis der Erwachsenenbildung sich auf wissenschaftliche Forschung stützen will, muß sie für viele ihrer Fragen auf Ergebnisse zurückgreifen, die in anderen Kontexten gewonnen wurden. Die weltweite Propagierung und die allerorts unbestrittene Bedeutung der Erwachsenenbildung steht also in einem gewissen Mißverhältnis zu ihrer faktischen gesellschaftlichen Gestalt und dem Zustand der wissenschaftlichen Begründung ihrer Handlungsformen.
[V57:2] Unter welchen Bedingungen entsteht denn überhaupt ein Interesse an der Reflexion des Handlungsfeldes Erwachsenenbildung? Wann ist jene Heterogenität beunruhigend? Wann überhaupt ist dafür wissenschaftliche Theorie nötig? Ist es nicht hinreichend, im Hinblick auf Wissenschaftlichkeit, die Zuverlässigkeit der in der Erwachsenenbildung vermittelten Informationen zu sichern? Braucht man also wirklich mehr als die Fachwissenschaft, die je für die angebotenen Veranstaltungen, Lehrgänge, Kurse usw. zuständig ist? Bedarf es wirklich einer
»Theorie«
der Erwachsenenbildung?
[V57:3] Die Antwort läßt sich vielleicht nicht mit gewünschter Zuverlässigkeit geben. Indessen spricht doch einiges dafür, eine Reihe von Problemen zu bedenken: Darf wirklich die Arbeitsteilung unter den Wissenschaften Kriterium sein für die Bildungsinteressen Erwachsener? Hat
»life long learning«
es nicht mit den Bildern und Theorien des Lebenslaufs zu tun? Sind solche Lebensläufe nicht Teile sozialer Erfahrungsfelder? Sind solche Erfahrungsfelder nicht eingebettet in soziale und historische Prozesse? Muß dies alles – und freilich noch weiteres – nicht in die Rekonstruktion von Bildungserwartungen Erwachsener einbezogen werden, in den – wie Tietgens sagt –
»Modus der Auslegung«
dessen, was heute die Bildung der Erwachsenen sein kann? Eine Theorie der Erwachsenenbildung müßte derartige Fragen zuverlässig beantworten können. Aber leider ist |a 8|die große Studie von Strelewicz/Raapke/Schulenberg (1966) ohne Fortsetzung und Nachfolge geblieben, sind wir heute nicht wesentlich näher an einer solchen Theorie als vor 15 Jahren. Die Ansätze von damals sind liegen geblieben, weil in der Zwischenzeit Teilprobleme wie Ideologiekritik und Arbeiterbildung, Gruppendynamik und Mediendidaktik, Programm- bzw. Verbandspluralismus und rechtlich-institutionelle Sicherung wichtiger schienen.
[V57:4] In dieser Situation, in der also allenfalls zu partikularen Problemen theoretische Zugänge erarbeitet wurden, will es das vorliegende Buch riskieren, eine systematische Einführung in die Probleme der Erwachsenenbildung zu geben. Dabei bleibt vorerst nicht viel anderes zu tun, als Schneisen zu schlagen: Gibt es einen Kanon von Grundproblemen hinreichender Allgemeinheit und hinreichender praktischer Konkretion, dessen sich eine Theorie der Erwachsenenbildung anzunehmen hätte? Welche wissenschaftlichen Zugänge stehen uns dafür derzeit zur Verfügung und inwiefern wären sie dem Gegenstand angemessen? Ein solcher Weg ist – zumal für den Studienanfänger – mühsam, weil das einzelne empirische Detail häufig hinter der Reflexion auf den Sinn einer Fragestellung zurücktreten muß. Es wird aber auf diese Weise ein Problempanorama entfaltet, das produktives praktisches und wissenschaftliches Weiterdenken ermöglicht und anreizt.