Marginalien zur Lage der Erziehungswissenschaft [Textfassung a]
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Marginalien zur Lage der Erziehungswissenschaft

[075:1]
Die Pädagogik ist eine rein mit der Ethik zusammenhängende, aus ihr abgeleitete angewandte Wissenschaft
F. Schleiermacher

I

[075:2] Ich weiß nicht, ob es eine wissenschaftliche Disziplin gibt, in der so viel Worte gemacht werden über die Frage, ob es diese Disziplin geben solle; und wenn ja, wie sie sich selbst verstehen solle; was sie tun oder lassen müsse; wie sie das betreiben solle, was sie treibt; welches ihre Grundbegriffe zu sein hätten und auf welche Methoden sie sich vorzugsweise stützen möge. Das alles wird in der Regel mit dem Etikett
Wissenschaftstheorie der Pädagogik
oder auch
Wissenschaftslogik
oder
Methodologie
versehen; und die Zahl derer, die sich an solcher Übung beteiligen, ist beträchtlich. Das hat inzwischen schon die Examensarbeiten der Studenten dieser Disziplin erreicht: Da werden zunächst einmal programmatische Erklärungen abgegeben, sogenannte
Erkenntnisinteressen
formuliert; da grenzt man sich ab und ordnet sich zu; oder es werden wissenschaftstheoretische Positionen
aufgearbeitet
– was häufig, und nicht nur in Examensarbeiten, wenig mehr bedeutet, als Etikettierungen und Umetikettierungen, die rasche Subsumtion von Fällen unter Klassifikationen, die für
bewährt
gehalten werden. Die Gründe für solche Übungen will ich nicht den Studenten zurechnen. Wir, die Lehrenden dieses Faches, haben es ihnen vorgemacht; jedenfalls häufiger als gut war. An Empfehlungen, wie unsere Disziplin zu betreiben sei, gelegentlich auch an dogmatischen, herrscht kein Mangel.
[075:3] Für die Forschungspraxis sind derartige Veranstaltungen denn auch in der Regel – wenn ich recht sehe – relativ erfolglos geblieben. Ich werde den Eindruck nicht los, daß wissenschaftstheoretische Programmatiken in unserem Fach eher der nachträglichen Rechtfertigung vorgängiger Forschungsinteressen dienen, nicht aber Forschung möglich machen, normieren oder modifizieren. Handlungsforscher und Begleitforscher brauchen nicht den Aufwand an Exegesen der
Kritischen Theorie
, um ihre Interessen zu verfolgen und ihre Sache gut zu machen;
klassische
Empiriker können die Ratschläge der Präzeptoren |a 253|des
Kritischen Rationalismus
ganz gut entbehren, sofern sie nur die Gütekriterien der Forschung gebührend berücksichtigen. Zum Zwecke der Immunisierung gegen Einwände erweisen sich allerdings solche Hintergründe als nützlich: Wer sich beispielsweise auf den Kritischen Rationalismus beruft, kann sich für die an ihn gerichteten praktischen Fragen (im Unterschied zu technischen) als unzuständig erklären und sie (beispielsweise) In den Bereich einer Moralphilosophie der Erziehung (was ist das und nach welchen Regeln argumentiert sie?) verweisen. Wer sich auf die Kritische Theorie beruft, glaubt sich gelegentlich entlastet von den heiklen Begründungen im Hinblick auf Repräsentanz und Objektivierbarkeit seiner Verfahren – so als sei der Hinweis auf praktische Interessen, auf die
Bedürfnisse der Betroffenen
, auf
emanzipatorische
Orientierungen schon Begründung genug. Demgegenüber vollzog sich der Erkenntnisfortschritt und der Wissenszuwachs der Pädagogik in den unzähligen Einzeluntersuchungen relativ unabhängig vom Streit um die rechte wissenschaftstheoretische Begründung, unabhängig auch von der Legitimation, um die sich die Autoren solcher Untersuchungen bisweilen jeweils bemühten, jedenfalls aber unabhängig von den häufig abstrakt – ohne Bezug auf diese oder jene bestimmte pädagogische Problemstellung – vorgenommenen Grundsatzüberlegungen.
[075:4] Vermutlich hat diese Diskontinuität zwischen der Gestalt und den Ergebnissen der pädagogischen Forschung einerseits und den Theorien über solche Forschung andererseits etwas zu tun mit der Tatsache, daß die Pädagogik in den letzten zwei Jahrzehnten allzu häufig sich in Zugzwang fühlte, im Vergleich zu den benachbarten Wissenschaften und zum internationalen Standard der Bildungs- und Erziehungsforschung. Das hatte zunächst, angesichts des Defizits an empirischer Erziehungsforschung bei uns, einen guten Sinn. Wohl niemand wird heute mehr bestreiten, daß die Aneignung des erfahrungswissenschaftlichen Instrumentariums zu einer sinnvollen Bereicherung des pädagogischen Wissenskorpus geführt hat. Über pädagogische Beziehungen, Bildungsbarrieren, Lehrstrategien, Verhaltensstörungen, Curriculum-Konstruktionen, Lernprozesse, soziale Bedingungen und Funktionen pädagogischer Einrichtungen usw. läßt sich seitdem mit besseren Gründen reden.
[075:5] Diese Bereicherung aber hat auch problematische Aspekte. Die wissenschaftsgeschichtliche Verspätung, mit der die Pädagogik sich zu einer modernen Sozialwissenschaft zu entwickeln begann, erzeugte bei ihren Vertretern auch den Eindruck, daß nicht nur im Bereich empirischen Wissens, sondern auch im Bereich theoretischer Konstrukte vieles nachzuholen sei. Andere Wissenschaften – so schien es – waren |a 254|immer schon einen oder mehrere Schritte weiter. Die letzten zwanzig Jahre unserer Diskussionen lesen sich in Teilen deshalb wie eine Kette immer neuer
Rezeptionen
, allzu häufig mit der Hoffnung verbunden, nun erst werde die Pädagogik
kritisch
werden, ihre Thematik präzisieren können, einen methodologisch befriedigenden Weg finden: Positivismusstreit, Psychoanalyse, Interaktionismus, Labeling Approach, Systemtheorie, Ethnomethodologie, Strukturalismus, Theorie des Alltags usw.

II

[075:6] Problematisch an solcher Entwicklung erscheint mir nicht, daß eine Auseinandersetzung mit solchen, für die Pädagogik gewiß relevanten Theorie-Traditionen geführt wird, sondern wie sie geführt wird. Ich will dafür zwei Beispiele geben:
[075:7] 1. Die Rezeption der Theorie des Symbolischen Interaktionismus (vor allem Mead, Goffman, Strauss) in der Pädagogik hatte gerade begonnen, da tauchte in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion der
Diskurs
-Begriff auf, angeregt oder ausgelöst durch jenen, eine Wende in den Arbeiten Habermas’ andeutenden Aufsatz
Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz
. Erstaunlich rasch füllen sich nun die Seiten pädagogischer Veröffentlichungen mit Referaten und Erörterungen zu diesem Problem, stoßen im gleichen Zusammenhang auf Watzlawik, dann auf linguistische Arbeiten zur Sprechakt-Theorie, die ersten Veröffentlichungen zur Handlungsforschung erscheinen und integrieren – oder versuchen es zumindest – flugs die so aufgetauchten Problemstellungen und Terminologien in methodische Erwägungen. Innerhalb von circa vier Jahren eine neue literarische Szenerie! Problematisch daran erscheint mir weniger die Tatsache solcher Rezeption selbst zu sein, als vielmehr ihre Schnelligkeit und ihre Motive.
[075:8] Es war doch – sagen wir: im Jahre 1972 – noch überhaupt nicht erwiesen – wenngleich vielleicht plausibel – ob und in welchem Umfang das interaktionistische Vokabular zur empirischen Beschreibung pädagogischer Sachverhalte tauglich und nützlich sein kann (diese Frage scheint mir bis heute offen zu sein). Jedenfalls aber erweckte dieses Vokabular den Anschein, als sei es nicht technologisch, sondern praxeologisch zu beschreiben. Da für eine praxeologische Beschreibung aber die Normativitäts-Dimension (die Legitimation von Handlungszielen) unverzichtbar ist, bot sich rasch der Diskurs-Begriff an. Das Pro|a 225|blem schien gelöst: Der
herrschaftsfreie Diskurs
ist fortan – jedenfalls für mehrere Jahre – das regulative Prinzip für Vorschläge zur Form pädagogischen Handelns und für die Sozialgestalt der Handlungsforschung. Das Problem konnte u.a. auch deshalb gelöst erscheinen, weil inzwischen eine große Zahl von Soziologen in der pädagogischen Forschung und Lehre Fuß gefaßt hatte und weil die Selbstetikettierung der Pädagogik als Sozialwissenschaft einer Orientierung Vorschub leistete, nach der Erziehungsforschung sich in der soziologischen Analyse von Erziehungsverhältnissen erschöpft (die Familien- und Sozialisationsforschung liefert dafür eindrucksvolle Beispiele).
[075:9] 2. Das zweite Beispiel entstammt eher den Randzonen erziehungswissenschaftlicher Forschung. Die sozialwissenschaftliche Orientierung hat uns nicht nur den Positivismusstreit, die Rollen-Theorie und ihre Kritik, die Sozialisationsforschung usw. beschert, sondern auch die
Ideologiekritik
. Nun ist die darin angesprochene Problemstellung gewiß und gerade zur Aufklärung pädagogischer Sachverhalte unverzichtbar. Da Erziehung immer und notwendigerweise auch Tradition, d.h. Überlieferung und Erschließung herrschender Lebensformen ist, darf die Erziehungswissenschaft die Frage nach dem
Falschen
, das in solcher Überlieferung sich einnisten kann, nicht ungestellt lassen. Indessen: Wer von
Ideologie
redet, redet auch von
Wirklichkeit
; zumindest unterstellt er ein Konstrukt
wahrer
Darstellung solcher Wirklichkeit. Die Faszination von der vermuteten Leistungsfähigkeit des Ideologie-Begriffs für die Erziehungswissenschaft war offenbar so groß, daß die kritischen Analysen von Schulbüchern und Märchen, von ästhetischen Gegenständen und Phantasie-Welten, von Institutionen und Handlungsmustern schon für Pädagogik gehalten wurden. Gleichsam unter der Hand bildete sich ein Wirklichkeitskonstrukt, das weniger durch den Erfahrungsmodus des Kindes als vielmehr durch den des selektiv analysierenden Sozialwissenschaftlers bestimmt war. Kurz: Es wurde übersehen, daß – der notwendigen Beziehung von
Ideologie
zu
Wirklichkeit
und
Bewußtsein
wegen – eine pädagogisch relevante Ideologie-Kritik nur sinnvoll ist, wenn sie zuvor sich einen Begriff von pädagogischer Wirklichkeit, von der Struktur der Weitsicht und des Bewußtseins des Kindes macht. Nur durch solche Unterlassung konnte es zu jenen Verflachungen und Verfälschungen kommen, die eine Zeitlang in der
kritischen
Analyse beispielsweise der dem Kinde angebotenen Vorstellungsgehalte, seiner Phantasietätigkeit, der Welt ästhetischer Gegenstände im Vordergrund standen. Auch dies war, meiner Vermutung nach, eine Folge falsch verstandener Sozialwissen|a 256|schaft, gewiß aber war es eine falsche Rezeption der Kritischen Theorie in der Pädagogik.
[075:10] Derartige wissenschaftliche Einstellungen zum Objekt der Erziehungsforschung enthalten die Gefahr einer eigentümlichen pädagogischen Perspektivelosigkeit: Die Analyse des Faktischen, wie detailliert und
kritisch
auch immer, begründet keine Handlungsrichtungen, eröffnet keine praktische Perspektive. Aus dieser Verlegenheit wurden in der pädagogischen Praxis und Forschung – wenn ich recht sehe – mehrere Auswege gesucht. Drei davon möchte ich skizzieren.
[075:11] Der erste Ausweg bot sich in der Annahme an, daß jeder pädagogische Akt, aber auch jeder Forschungsakt praktisch relevante Entscheidungen enthält und insofern einen Vorbegriff von der Normativität der pädagogischen Problematik; dem entspricht eine wissenschaftliche Literatur, in der teils die vorliegende Forschung einer peinlichen Befragung auf ihre normativen Implikationen hin unterzogen, teils die eigene Forschung mit einer Explikation der Normativität eigener
Erkenntnisinteressen
versehen wird bis hin zu derjenigen Form von Explikation, die sich in Lernzieltaxonomien ausdrückt. Darin steckt indessen ein eigentümlicher Dezisionismus: So als sei das eigene (oder einer Gruppe zugesprochene) Interesse letzte Begründungsinstanz.
[075:12] Der zweite Ausweg schien sich durch den möglichen konstruktiven Charakter solcher
Interessen
anzudeuten: Wenn nämlich Erkenntnisinteressen praktische Optionen enthalten, dann bezeichnen sie auch pädagogische Handlungsperspektiven; der Begriff
Emanzipation
schien solche Erwartungen erfüllen zu können und also schien auch alles praktisch legitimiert, was sich in irgendeiner Weise diesem Begriff subsumieren ließ.
[075:13] Der Begriff Emanzipation wurde jedoch kaum – wenn ich nicht irre – wirklich und ausdrücklich pädagogisch expliziert. Er blieb eine Art politisches
Lehnwort
, ein Ausdruck zur (relativ unbestimmten) Bezeichnung einer geschichtspraktisch-politischen Perspektive in Richtung auf
freiere
,
gerechtere
,
brüderlichere
Bedingungen des Zusammenlebens. Eine Präzisierung erfuhr diese Pespektive lediglich in solchen politischen Positionen, die ihn auf klassentheoretische und kapitalismuskritische Annahmen hin auslegten oder ihn, mit Bezug auf Bildungsprozesse, didaktisch als
Aufklärung
über die politischen Bedingungen der eigenen sozialen Existenz interpretierten. In beiden Fällen liegt eine unbegründete Verkürzung der pädagogischen Problemstellung vor: Im einen wird die pädagogische Praxis der politischen subsumiert, erscheint (der Tendenz nach) Erziehung nur noch als be|a 257|sondere Form des politischen Handelns – im anderen wird die Erziehungs- und Bildungsaufgabe rationalistisch auf
Aufklärung
verkürzt.
[075:14] Da die Mängel jener Positionen nicht lange verborgen blieben, bot sich ein dritter Ausweg an, der häufig nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis gesucht wurde. Die Formel, unter der er auftritt, sind die
Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen
. Obwohl in der Regel noch ein diffuses Gemenge aus politischen, ökonomischen, psychologischen und anthropologischen Annahmen und Leerformeln, steckt doch in diesem Weg insofern eine pädagogischer Grundgedanke, als in ihm der Versuch intendiert ist, den Bildungsprozeß von der Perspektive des sich bildenden Subjektes her sowohl praktisch zu gestalten als auch theoretisch zu rekonstruieren. Diese Option für die
Perspektive der Betroffenen
– also für Schüler, Lehrlinge, Heimzöglinge, Klienten usw. – hat eine methodologische Entsprechung: Die jüngste Verwendung
ethnomethodologischer
Verfahren auch in der Erziehungswissenschaft, um mit ihrer Hilfe genauer erfahren zu können, wie Menschen ihre je eigene Wirklichkeit konstruieren, ihre Vorstellungswelten ordnen, ihre Handlungen planen. Im Unterschied zu den beiden ersten Auswegen scheint hier der Forscher am ehesten sich einer normativen Reflexion entziehen zu können, es sei denn, er macht sich die Normativität des zu analysierenden Bildungsprozesses zum Gegenstand. Das aber scheint weder über eine Bedürfnis-Analyse, noch über eine
ethnomethodologische
Rekonstruktion von
Lebenswelt
gelingen zu können – es sei denn, der Interpret verfügt bereits über einen kategorialen Rahmen, der eine argumentationszugängliche Bildungstheoretische Reflexion erlaubt.

III

[075:15] Das Gemeinsame jener drei vergeblichen Auswege – und es ließen sich gewiß weitere hinzufügen, die in das gleiche oder ein ähnliches Dilemma führen – liegt meines Erachtens in der Einstellung, die hier zum Gegenstand der Erziehungswissenschaft eingenommen wird, besser noch: liegt in der Definition des Gegenstandes dieser Wissenschaft. Autoren wie beispielsweise D .Benner, H. Blankertz, J. Derbolav, W. Eischer, A. Flitner, H. von Hentig, W. Klafki, P.M. Roeder haben das – freilich jeder auf eigene Weise – gesehen; die Faszination durch die Objektkonstruktionen in Soziologie und Psychologie aber war anscheinend zu groß, die Skepsis wurde häufig eher zögernd eingebracht, die herrschenden szientistischen Paradigmen waren zu domi|a 258|nant. Jedenfalls ist in der Rückschau auf die letzten 15 Jahre unserer Wissenschaft doch wohl bemerkenswert, daß die Frage nach der Autonomie der Pädagogik – und das soll hier heißen: die Frage nach einem eigentümlichen Paradigma zur theoretischen Erschließung dessen, was Bildungs- und Erziehungsprozesse ausmacht – nur noch verschämt gestellt wurde. Ich sehe mehrere Versäumnisse:
[075:16] Blättert man in den Neuerscheinungen der letzten Jahre und der großen pädagogischen Verlage, dann kann man den Eindruck gewinnen, daß in unserer Wissenschaft sich Ähnliches vollzieht, wie in der jungen Generation (die hat vielleicht noch Gründe dafür): der Verlust der Geschichte. Das gilt – wenn ich recht sehe – für den größten Teil der Curriculum-Forschung und Didaktik ebenso wie für die Theorie der Schule, besonders aber für den Bereich der sogenannten Sozialpädagogik. Die Geschichte des pädagogischen Denkens taucht allenfalls in
Abrissen
auf – aus zweiter Hand, versteht sich; die Beteuerung, man berücksichtige den historisch-gesellschaftlichen Kontext, ist zur Beschwörungsformel ohne Kenntnis der Sache, der Historie nämlich, geschrumpft; was in der Geschichte über Erziehung und Bildung gedacht wurde, darf ungestraft mit leichter Hand einer Ideologie zugeschlagen, als spekulativ diskriminiert oder – wie im Beitrag Rössners in diesem Band – überhaupt ignoriert werden. Das heißt aber nichts anderes als: das pädagogische Denken droht geschichtslos zu werden; die Auseinandersetzung mit der Geschichte überläßt man denen, die nach Maßgabe der wissenschaftlichen Arbeitsteilung dafür zuständig sind; oder um es am Beispiel und sehr pointiert zu sagen: In den vielen sozialpädagogischen Veröffentlichungen der letzten Jahre steckt in der Regel wenig Ahnung von den historischen Forschungen beispielsweise Roeders, Herrlitzs, Herrmanns, Tietzes, Rösslers usw.; Sie machen sich ihre pädagogische Geschichte – wenn überhaupt: in Kurzfassung – selbst oder verwenden Anleihen aus anderen Bereichen.
[075:17] Diese
Anleihen
sind gewiß unerläßlich, wenn es sich um Sozialgeschichte der Erziehung handeln soll – und diese scheint hier vor allem wichtig. Aber können wir darüber die Geschichte des pädagogischen Denkens entbehren? Mir scheint, daß in diesem Fall die Soziologie uns ein Beispiel geben kann. Der Fortschritt des Denkens, oder meinethalben auch – mit Foucault zu sprechen – seine diskontinuierlichen Brüche und Wendungen, vollzieht sich zwar auf dem Grunde vieler und geschichtlich namenlos gewordener Einzelschritte, aber doch für uns alle sichtbar im gründlichen Nachdenken Weniger. Es scheint mir deshalb einen guten Grund für sich zu haben, daß in anspruchsvollen soziologischen Arbeiten der Rekurs auf einen begrenzten, aber theo|a 259|retisch je charakteristischen Kanon von Autoren nahezu selbstverständlich ist: Hobbes, Rousseau, Comte, Hegel, Marx, Simmerl, Weber (usw.).
[075:18] Diese immer erneuerte Auseinandersetzung hat einen historischen und einen systematischen Sinn: Das Denken wird nicht unhistorisch-naiv und stellt sich den Grundfragen, die so rasch sich nicht ändern, wie ein naives Bewußtsein sich das vorstellen mag. Und wie steht es in der Pädagogik? Man darf bei uns heute über Bedürfnisse, Selbsttätigkeit, Bildungsziele usw. schreiben, ohne auch nur eine Zeile Rousseau, Pestalozzi oder Schleiermacher gelesen zu haben; von Hegels Gymnasialreden, von Dilthey, S. Bernfeld, W. Flitner, Th. Litt will ich gar nicht erst reden; sie tauchen allenfalls als Zitatbrocken auf. Historisches Bewußtsein glaubt zu haben, wer sich einige Kurzformeln über den Verlauf der letzten hundert Jahre angeeignet hat.
[075:19] Mit dem dünn gewordenen Kontakt zur Geschichte des pädagogischen Handelns und Denkens hängt – so vermute ich – der drohende und allmähliche Verlust eines begründbaren Begriffs von der Sache zusammen. Diese Hypothese ist nicht leicht zu erhärten; mir scheinen indessen doch verschiedene Beobachtungen dafür zu sprechen, sie wenigstens in Vorschlag zu bringen:
  • [075:20] In der erziehungswissenschaftlichen Literatur des letzten Jahrzehnts – so scheint mir – wurde das, was einst Herbart
    einheimische Begriffe
    der Pädagogik nannte, zunehmend aufgegeben. Dieser Vorgang war nicht sogleich zu bemerken, da es zunächst so schien, als würden die
    einheimischen Begriffe
    nur erfahrungswissenschaftlich präzisiert: beispielsweise
    Bildsamkeit
    durch
    Lernfähigkeit
    ,
    Bildungsprozeß
    durch
    Sozialisationsprozeß
    ,
    pädagogisches Handeln
    durch
    Lehr-Lern-Strategien
    usw.
  • [075:21] Der unbestreitbare Vorteil der erfahrungswissenschaftlichen Präzisierung von Problemstellungen, die sich in solchen terminologischen Verschiebungen ausdrückt, hatte aber doch wohl zur Folge, daß der Begriff von der Sache
    Erziehung
    sich änderte. Zwei Beobachtungen scheinen mir das anzuzeigen: einerseits haben wir ein erziehungswissenschaftliches Wissen angesammelt (objektiv, reliabel, valide), das für durchschnittlich zu erwartende Fälle gültig sein mag, das für die Lösung eines konkreten pädagogischen Handlungsproblems angesichts eines einzelnen Falles – wenn ich recht sehe – indessen wenig erbringt; das Wissen taugt eher für die Organisation größerer institutioneller Settings, für die auf große Fall-Zahlen abgestellte Planung, für die Randbedingungen des pädagogischen Handelns. |a 260|Andererseits vermehrt sich das handlungsstrategische Wissen: Kenntnisse also über Modelle oder Muster pädagogischen Handelns, die – vom einzelnen Fall unabhängig – bestimmbaren Erfolg versprechen. In beiden Fällen muß von der konkreten Lebenssituation, in der pädagogisch gehandelt wird, abgesehen,
    abstrahiert
    werden.
  • [075:22] Mit diesem Wissenstypus hängen – auf eine hier nicht zu explizierende Weise – einige Professionalisierungsprobleme zusammen. Während nämlich die Erziehungswissenschaft (seit Herbart und Schleiermacher) sich aus der praktischen Philosophie löste (jedenfalls in ihren dominanten Versionen) und sich in ihren Problemstellungen und Methoden immer weiter von ihr entfernte, entfaltete sie zugleich ihre heute herrschende Differenzierung und Arbeitsteilung. Es hat mindestens den Anschein, als setze sich darin gegenwärtig eine Klassifikation durch, die auf berufliche Spezialisierung zielt. In dieser beruflichen Spezialisierung – eine Komponente des Professionalierungsprozesses – treten an die Stelle der
    einheimischen Begriffe
    , die auf die Struktur des pädagogischen Handelns bezogen sind, soche Begriffe und Wissensbestände, die der gesellschaftlichen Sicherung von Berufsrollen dienen; das Erziehungssystem wird von
    Sozialingenieuren
    (vgl. das Plädoyer für diese Entwicklung bei L. Rössner in diesem Band) bevölkert und nach den entsprechenden Berufssparten sektioniert: Lehrer der verschiedenen Schularten; Erwachsenenbildner; Sozialpädagogen, diese wiederum spezialisiert – möglichst schon in den Grundstudiengängen – nach Vorschulerziehern, Heimerziehern, Gemeinwesen-Arbeitern, Jugend-Arbeitern usw.; Freizeitpädagogen; Museumspädagogen; Entwicklungspädagogen; Verhaltenstherapeuten, Gesprächstherapeuten, Gestalttherapeuten usw. usw.. An den therapeutischen Berufen – obschon am Rande der Erziehungstätigkeit gelegen – wird besonders deutlich, daß eine solche Entwicklung problematisch sein könnte: So droht beispielsweise in der Heimerziehung und in der Beratungspraxis eine sowohl innere als auch äußere Differenzierung nach therapeutischen Techniken, die die pädagogischen Aufgaben nur noch als
    Restfunktionen
    übriglassen, als das alltägliche Geschäft der Gewöhnung der Kinder an Ordnung und Stetigkeit.
[075:23] Dieses allmähliche Verblassen des Gegenstandes der Erziehungswissenschaft und seine Auflösung in eine häufig unverbundene Vielzahl besonderer Gegenstände in einem Spektrum zwischen Bildungsökonomie und Therapie drückt sich, wie mir scheint, auch In der Methodologie aus. Ich weiß nicht, ob die Behauptung übertrieben ist, daß es der|a 261|zeit noch keine eigentümlich pädagogische Methodologie gibt. Die Einführungen in Forschungsmethoden für Pädagogen sind in der Regel erfahrungswissenschaftliche Methoden-Lehren, die lediglich durch die Wahl der Beispiele sich von anderen sozialwissenschaftlichen Methodenlehren unterscheiden (von Gründlichkeit und Genauigkeit hier einmal abgesehen). Vielleicht gibt es daran nichts zu beklagen; vielleicht waren die Anläufe von W. Flitner vor 30 Jahren oder von Bittner/A. Flitner vor 10 Jahren schon damals wissenschaftstheoretische
Verspätungen
; vielleicht ist das Unbefriedigende meines eigenen Versuchs in dieser Richtung ebenfalls ein Symptom der notwendigen Vergeblichkeit solcher Bemühungen. Dennoch geben einige Beobachtungen aus jüngster Zeit zu denken:
[075:24] Warum eigentlich hat die Handlungsforschung so viele Fürsprecher unter den Pädagogen gefunden? War es wirklich nur ein schlecht reflektiertes praktisches Interesse, ein Ausweichen vor der Mühe sorgfältiger empirischer Forschung, ein kurzatmiger Solidarisierungs-Wunsch mit den
Betroffenen
? Spielte vielmehr nicht auch das Motiv eine Rolle, die Methoden erziehungswissenschaftlicher Erkenntnis von der praktischen Gestalt des Gegenstandes her zu begründen und zu entwickeln?
[075:25] Warum hat sich die Neigung, Erziehungs- und Unterrichtsforschung als Interaktions- bzw. Kommunikations-Analyse zu betreiben so rasch verbreitet? Liegt der Grund dafür nur darin, daß die Konzentration auf das mikro-pädagogische Detail Entlastung von gesellschaftstheoretischen und politischen Reflexionen verspricht; daß die dafür zweckmäßigen Verfahren anspruchsvollere statistische Datenverarbeitung überflüssig erscheinen lassen; daß sie ein praktisch relevantes Wissen insofern erwarten lassen, als durch dieses Wissen die Selbstreflexion des Erziehers/Lehrers gestützt werden könnte? Oder liegt ein Grund dafür nicht auch in der Hoffnung, sich auf solchem Wege wieder der spezifischen pädagogischen Thematik nähern zu können, eine Methodologie zu finden, die dieser Thematik adäquat ist?
[075:26] Warum finden neuerdings ethnomethodologische und sogenannte
Alltags-Theorien
so bereitwillige Aufnahme in der Pädagogik? Liegt das nur daran, daß eine gewisse Müdigkeit sich breit macht, die gelegentlich vielleicht zu hoch gespannten Erwartungen an
substanzielle
sozialwissenschaftliche Theorien (Rollen-Theorien, psychoanalytische Theorie, Lerntheorie, Devianztheorie usw.) weiterzuverfolgen; liegt es daran, daß hier die Hoffnung entsteht, auf diese Weise der Erziehungswissenschaft größere Praxis-Nähe zu sichern oder ist ein Ausweg aus der eigenen normativen Schwäche, der Unsicherheit im Hinblick auf die Begründbarkeit pädagogischer Forderungen, Aufgaben, Ziele ge|a 262|sucht? Oder zeigt sich nicht auch hier der – freilich noch nicht explizierte – Versuch, im Hinblick auf den Vorgefundenen
alltäglichen
, aber doch auch historisch rekonstruierbaren Handlungszusammenhang pädagogischer Felder, die Problemstellungen der Erziehung zu entwikkeln, und zwar gleichsam unterhalb derjenigen Konstrukte, die in der Regel den empirischen Einzelwissenschaften entlehnt sind? Methodisch bedeutet das beispielsweise: Favorisierung von Feldstudien und Fall-Analysen – Verfahren also, die sich nach Auskunft vieler Methodenlehrbücher weniger zur exakten Hypothesenprüfung eignen als vielmehr zum Finden von Hypothesen (wenn sie nicht nur in illustrativer Absicht verwendet werden).

IV

[075:27] Da ich mich nun schon einmal auf riskante Deutungen eingelassen habe, will ich noch einen Schritt weitergehen: Mir kommen Erscheinungen wie die Handlungsforschung, die unzähligen Kommunikationsanalysen, der Griff nach Alltagstheorie und Strukturalismus, die Propagierung der
Bedürfnisse der Betroffenen
, die Wege in Fall-Analysen und Feldstudien, besonders aber auch in die vielen Therapien usw. wie Symptome einer frustrierten Zukunftsperspektive vor (die Aufzählung soll noch einmal deutlich machen, daß ich eine Analogie sehe zwischen der Thematik der Erziehungswissenschaft, den methodischen Problemen und den praktischen Entwicklungen). Die Hoffnungen, daß unser Erziehungs- und Bildungswesen rasch und gravierend würde verbessert werden können, haben sich nicht bestätigt. Mit dieser Erfahrung müssen heute vermutlich nicht nur die Vertreter einer
kritischen Erziehungswissenschaft
, sondern auch die
Macher
empirisch-analytischer Herkunft leben. Diese abgeschnittene oder nur noch auf kleinste Spielräume verengte Perspektive markiert – wenn die Behauptung zutreffend sein sollte – einen wissenstheoretisch schwerwiegenden Sachverhalt; denn: ohne einen Vorgriff auf Zukünfiges ist eine praktische Theorie von der Erziehung nicht möglich. Fallen solche Vorgriffe aus der wissenschaftlichen Reflexion heraus, dann drohen – neben vielen anderen Peinlichkeiten – zwei mir defizient erscheinende Modi des Erziehungshandelns und -Denkens: der Rückzug auf eine ritualisierte Zukunft, die nichts als die Wiederholung des Vergangenen ist; so z.B. in den konservativen Versuchen, Erziehung nur noch als Einübung |a 263|zu betreiben. Andererseits droht ebenso ein Verlust reflektierter Zukunft in den gegenwärtig beobachtbaren praktischen Tendenzen, sich zwar auf den Zustand des Educandus ernsthaft einzulassen, ihm gegenüber aber auf Vorgaben, Forderungen, Regeln, Aufgaben, Normen zu verzichten, d.h. aber sich selbst als historisches Subjekt mit Vergangenheit und Zukunft zu verleugnen. Das hat – wenn ich recht sehe – eine Entsprechung in der Theorie: die Konstruktion des Erziehers als
Sozialingenieur
auf dem einen und als
Interaktionist
auf dem anderen Ende der Skala. Beide Positionen sind pädagogisch falsch (das hatte schon vor 50 Jahren Th. Litt zu zeigen versucht); und sie erzeugen eine
schiefe
Theorie.
[075:28] Die Begründung für diese Behauptung sehe ich zunächst nicht in irgendeinem Wissenschaftsbegriff, sondern in der Struktur des Bildungsprozesses selbst. Da ich an dieser Stelle keine begründete Theorie des Bildungsprozesses entwickeln kann, beschränke ich mich auf eine Dimension dieses Prozesses, die Zeit. Diese Dimension hat den Vorteil, daß ihre Bedeutsamkeit – schon aus analytischen Gründen nicht bestritten werden kann, jedenfalls dann, wenn überhaupt von
Prozeß
geredet wird. Für diese Dimension gilt, daß sie – im Erleben des Heranwachsenden – durch die Antizipation von Zukunft konstituiert wird, gleichviel ob es sich dabei beispielsweise um eine
leere
um eine durch Wünsche, Träume, Phantasien oder durch empirische Prognosen angereicherte Zukunftsantizipation handelt. Nun
haben
Kinder und Jugendliche nicht nur solche Antizipationen, sondern sie stellen sich zu ihnen in ein bestimmtes Verhältnis.
[075:29] Dieser Sachverhalt sollte für den Interpreten von pädagogischen Ereignissen Anlaß sein, jeden Bildungsmoment im Hinblick auf die in ihm enthaltene Zukunftsperspektive zu interpretieren. Das ist freilich keine neue und originelle Aufforderung: Schleiermacher hatte diese Frage bereits, wenngleich knapp, so doch von der Sache her – jedenfalls in der Form, in der sie dem bürgerlichen Denken erscheint – als unabweislich exponiert. Er hatte dieses Problem allerdings auch – was in vielen gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Arbeiten nicht mehr explizit vorkommt – als ein Problem des Erziehens selbst, des Erwachsenen dargestellt. Auch wir, die Pädagogen, also die Erzieher und die Theoretiker der Erziehung, stehen in einem solchen Zukunftsbezug; der praktische Sinn unserer Handlungen, auch der Forschungshandlungen, erschließt sich erst dann zureichend, wenn die in ihr enthaltenen Zukunftsantizipationen zu Sprache gebracht werden: Die Dialektik von
Erhalten
und
Verbessern
wird zu einem päda|a 264|gogischen Problem, weil und sofern es ein Problem des Erwachsenen ist.
[075:30] Nimmt man einen solchen Gesichtspunkt für die Erziehungswissenschaft ernst, dann gerät man in Schwierigkeiten mit einer Vorstellung von Wissenschaft, nach der die Sicherheit des Wissens über Zweck-Mittel-Relationen das dominante Kriterium der Wissenschaftlichkeit einer Aussage ist. Da das für pädagogisches Handeln bereitgestellte oder bereitzustellende Wissen sich, seinem praktischen Sinne nach, immer nicht nur auf vergangenes Handeln bezieht, sondern mindestens ebenso auf das Handeln von morgen (der Lehrer möchte dieses Wissen verwenden, um seinen nächsten Unterricht zu planen), ist es wennschon nicht der Absicht des Wissensproduzenten (der Forschers) so doch der faktischen Funktion dieses Wissens nach,
prognostisches
Wissen. Nun besteht aber gewiß Einigkeit darin, daß eine Prognose nur gilt, insofern die in ihr formulierten Bedingungen konstant bleiben. Das ist der analytisch notwendige Konventionalismus jeder empirischen Behauptung, die als Prognose ins Spiel gebracht wird. Würde sie indessen nicht als Prognose ins Spiel gebracht, verlöre sie ihren Handlungssinn. Man kann also das Problem so formulieren: Einerseits impliziert jede zielgerichtete Handlung – und sei es in schematisierter Form – empirisch-prognostische Annahmen, andererseits ist in solchen Annahmen Bedingungskonstanz über den Moment hinaus gesetzt; diese Bedingungen aber können gewollt oder nicht-gewollt sein; Schleiermacher scheint zu meinen, daß es für die pädagogische Handlung spezifisch sei, zwischen gewollter Bedingungs-Konstanz und gewollter, aber inhaltlich nicht präzisierbarer, Bedingungs-Variation in der pädagogischen Handlung eine Balance herzustellen. Folgt man dieser Ansicht der Sache, dann sind für die Erforschung von Erziehungshandlungen zwei mögliche Positionen auszuschließen: die Beschränkung der Forschung auf das Ziel, empirisch-prognostisches Wissen zu erstellen einerseits und der Verzicht auf ein solches Ziel andererseits zugunsten einer radikalen Annahme von Nicht-Vorhersehbarkeit, die unterstellt, pädagogisches Handeln ließe sich aus dem Augenblick heraus entwerfen, sofern der Erzieher nur sensibel genug die Interaktionsschritte des Educandus interpretiere. Aus Gründen ihrer logischen Ungereimtheit ist die zweite Position unhaltbar, denn jeder Deutungsakt impliziert empirisch-hypothetisches Wissen und jede Reaktion des Erziehers impliziert eine mindestens schematisierte Annahme über die prognostizierbare Wirkung der Reaktion auf den Educandus. Die erste Position ist aus ethischen Gründen problematisch, wenn gelten soll, daß aus dem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann und wenn ferner gelten soll, daß die Umdeutung |a 265|von empirisch ermittelten Bedingungen in prognostisch gewollte Bedingungen keiner empirischen, sondern nur einer praktischen Argumentation zugänglich ist.
[075:31] Diese Problemstellung kann nicht an den
Diskurs
der an der Erziehungshandlung beteiligten Personen abgegeben werden, denn das pädagogische Verhältnis ist seiner Natur nach asymmetrisch. Ich sage mit Bedacht
seiner Natur nach
; ohne jene Asymmetrie würde es sich nicht um ein Erziehungsverhältnis handeln, dessen Ende ja gerade dann erreicht ist, wenn Symmetrie hergestellt ist. Die Problemstellung und ihre Bearbeitung ist deshalb zunächst ausschließlich Sache der Pädagogen und ihres praktischen Diskurses. Eitel ist deshalb auch die Erwartung, das Problem ließe sich durch hermeneutischen Nachvollzug der Perspektiven, Lebenswelten oder Kommunikationsstrukturen der Educandi lösen – so unerläßlich solches Hilfswissen auch sein mag. Diese Problemstellung aber sollte ebensowenig an eine Moralphilosophie der Erziehung abgegeben werden; denn es handelt sich hier ja nun um nichts weniger, als um eine Klasse von Relevanzkriterien der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Indessen: Was für die erziehungswissenschaftliche Forschung eine bedeutsame Problemstellung ist, das sollte – grob gesprochen – mindestens in zwei Dimensionen diskutabel sein: im Hinblick auf die Theorie-Traditionen dieser Disziplin und im Hinblick auf die Handlungsprobleme, die Erzieher/Lehrer ihren eigenen praktischen Optionen nach haben. Für mich hat diese zweite Dimension Vorrang, denn prinzipiell ist es zu jedem beliebigen historischen Zeitpunkt eine offene Frage, ob die bis dahin angesammelten wissenschaftlichen Konstrukte tauglich sind, bei der Lösung praktischer Probleme für morgen hilfreich zu sein. Die praktische Argumentation sollte deshalb ihren Ort genau an der Stelle haben, wo die theoretischen Probleme und also auch die Forschungsfragen formuliert werden. Aber was folgt daraus?