Wie zukunftsfähig ist unsere Vergangenheit? [Textfassung a]
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Wie zukunftsfähig ist unsere Vergangenheit?

Ein Gespräch mit Klaus Mollenhauer über sein Buch
Vergessene Zusammenhänge

[V61:1] Helga Häsing:
Klaus Mollenhauer bricht mit seiner pädagogischen Vergangenheit. Ideologiekritik und Emanzipation sind passé
, schrieben die Zeitredakteure über Ihr Buch
Vergessene Zusammenhänge
. Trifft diese Einschätzung zu?
[V61:2] Klaus Mollenhauer: Nein – ich fühle mich da mißverstanden. Ich glaube auch, daß Konrad Wünsche, der mein Buch in der
Zeit
rezensiert hat, diese Einschätzung nicht teilt.
[V61:3] Helga Häsing: Sie verstehen Ihr Buch als Antwort auf die Frage, was denn Erziehung heute noch bedeuten könnte. Was war für Sie der Anlaß, diese Antwort zu versuchen?
[V61:4] Klaus Mollenhauer: Die sogenannte Antipädagogik war einer der Anlässe. Die
Antipädagogen
sind leider nicht so genau in ihrem Nachdenken über das, was sie wollen und über die Prämissen ihres Wollens. Sie fragen zwar nach dem Verhältnis der Generationen, aber auf die Frage nach dem Bildungsprozeß der Kinder haben sie keine Antwort, weil sie die kulturelle Problematik nicht aufgreifen, ebensowenig die Frage nach der Auseinandersetzung des Kindes mit den Lebensformen, in denen es groß wird. Ich denke, die Antipädagogen sind im Grunde ihres Herzens leidenschaftliche Pädagogen; nur ziehen sie nicht die intellektuellen Konsequenzen. Braunmühl beispielsweise ist ja die Zukunft der jungen Generation nicht gleichgültig. Er meint, die Zukunft werde besser, wenn wir die Kinder nicht mehr dirigieren. Er vergißt – und das gilt auch für seine Gesinnungsgenossen –, daß wir notwendigerweise, den Kindern eine kulturell bestimmte Form des Lebens vorgeben, die den Inhalt der Bildungsprozesse ausmacht; das Kind und auch der Antipädagoge können dem nicht entfliehen.
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[V61:5] Gerd Wartenberg: Klaus, in Deinem Buch und in Deiner Bemerkung eben wird der Überlieferungsgedanke sehr stark betont. Wohin uns aber unser kulturelles Erbe gebracht hat, das können wir täglich neu erfahren: Giftmüllberge, verseuchte Flüsse, atomare Vernichtungswaffen. Viele Jugendliche wollen mit dieser Welt der Erwachsenen nichts mehr zu tun haben. Ich halte die Antipädagogen als Gegengewicht zur Tradition, in der Erziehung heute immer noch stattfindet, für wichtig, weil sie die Kinder nicht auf den Weg, den die Erwachsenen eingeschlagen haben, bringen wollen.
[V61:6] Klaus Mollenhauer: Ich denke, wir müssen unterscheiden, welche Tradition für uns wichtig ist, so wichtig, daß wir sie für überliefernswert halten. Ich wollte in meinem Buch Orientierungspunkte unserer pädagogischen Kultur herausarbeiten, die bis in unsere Zeit hineinwirken. Ich habe dazu die großen Denker der europäischen Erziehungsgeschichte wie Augustinus, Montaigne oder Pestalozzi herangezogen. Ich habe versucht, Bilder – Rembrandt, Velasquez, Ghirlandajo – daraufhin zu befragen, welche Weitsicht, welche Erziehungswirklichkeit sich in ihnen ausdrückt. Ähnlich habe ich anhand von Texten von Sartre, Kafka oder Thomas Bernhard sichtbar zu machen versucht, in welch große Schwierigkeit wir als Erwachsene heute geraten, wenn wir historisch-biographische Erfahrung in ein Verhältnis zu unseren zukunftsfähigen Beständen setzen wollen. Zur Überlieferung gehört doch, daß es
progressive
und
konservative
Traditionen gibt. [V61:7] Die Frage ist, was es zu erhalten gilt, was zukunftsfähig für unsere Kinder wäre. Beispielsweise die Art, in der Sokrates in den platonischen Dialogen Fragen stellt: Diese Haltung zu Wahrheitsproblemen ist für mich überliefernswert. Oder die unglaubliche Genauigkeit und Intensität, mit der Augustinus darüber nachdenkt, wie er die Sprache der Erwachsenen lernt. Oder Kafkas Brief an seinen Vater; diese Auseinandersetzung mit einem vielleicht schlimm gewesenen Vater; Kafka bemüht sich, sich in seinen Vater hineinzuversetzen und dennoch seine Kritik unnachgiebig vorzutragen. In solchen kulturellen Produkten ist der Zusammenhang mit unseren aktuellen Problemen sehr dicht. [V61:8] Die Alternativen dieser abendländischen Perspektive von Humanität sind für mich eher erschreckend. Das verrät freilich Voreingenommenheit, denn gewiß kann man fragen, ob es nicht vielleicht sentimental sei zu glauben, der
Computer-Mensch
sei keine humane Möglichkeit mehr, die Kritik an der technisch-nuklearen Zivilisation sei abendländisches Getue, eine Frage der Zeit und Gewöhnung.
[V61:9] Gerd Wartenberg: Weil wir gerade beim Computer-Mensch sind – mich fasziniert, wie die Jugendlichen versuchen, in ihrer Musik und im Tanz, die Computer-Welt zu imitieren. Man könnte das fast als archaische Beschwörungstechnik bezeichnen. Im bizarren, akrobatischen Tanz versuchen die Jugendlichen die Computer-Welt, die ihnen Angst macht, in sich hineinzunehmen, und vielleicht versuchen sie so, das wäre dann die Utopie, die darin steckt, eine differenziertere Form der Bewältigung der Computer-Welt zu finden.
[V61:10] Helga Häsing: Ich möchte nochmal auf die Frage zurückkommen, ob es sinnvoll ist, an unserer Tradition anzuknüpfen und sie der jüngeren Generation zu überliefern. Gerd hat angedeutet, wohin uns diese Tradition geführt hat. Mir fällt dazu noch der Untertanengeist ein, der in den Schulen gezüchtet wurde. Ich denke, es reicht nicht, nur an die positiven Seiten der Tradition zu erinnern, sondern wir müssen die Geschichte doch auch darauf untersuchen, was ist in der Vergangenheit nicht entfaltet worden. Was wurde z.B. durch Erziehung, die gesellschaftliche Machtmechanismen, Vorherrschaftsstellungen widerspiegelt, verhindert?
[V61:11] Gerd Wartenberg: Für mich ist die Frage entscheidend, wie ich mich mit der Tradition auseinandersetze. Und wenn wir schon was überliefern wollen, dann müssen wir herausfinden, warum Menschen in der Vergangenheit gescheitert sind, warum einige Menschen in der Geschichte erwähnt werden und andere nicht, warum Menschen dem gesellschaftlichen Prozeß ohnmächtig ausgeliefert waren. Ich finde es wichtig, die Jugendlichen gerade mit diesen negativen Seiten unseres kulturellen Erbes zu konfrontieren, um ihnen die Auseinandersetzung mit den heutigen Problemen zu erleichtern.
[V61:12] Klaus Mollenhauer: Ich stehe zu dem, was ich geschrieben habe. Ich meine, der erste Schritt der bewußten Hinwendung zu unserem kulturellen Erbe darf nicht die Verunsicherung sein, sondern sollte der Hinweis auf zukunftsfähige Traditionsinhalte sein. Die Konfrontation mit den negativen Seiten unseres kulturellen Erbes ist für mich der zweite Schritt. [V61:13] In meinem Buch habe ich die Schattenseiten der Kultur nur in kurzen sozialhistorischen Rekursen angedeutet: Stadtentwicklung, Geldverkehr, der Einfluß der Naturwissenschaften auf die Erziehung, Zergliederung der menschlichen Ganzheit usw. Die Folge der Entwicklung des Konzepts von Selbsttätigkeit in der Erziehung war ein systematisches Schwächerwerden von Konzepten der Empathie im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Menschen. Oder die Eröffnung der Zeitperspektiven, die einerseits große Produktivität im Spätmittelalter freigesetzt, dann aber immer mehr zu einer Mechanisierung des Lebensalltags geführt haben. Ich lese die Geschichte nicht nur als Fortschritt, beispielsweise als technisch-zivilisierender Fortschritt oder als Fortschritt der Warenproduktion, sondern eher im Lichte der Gegenbewegungen.
[V61:14] Helga Häsing: Noch einmal das Stichwort der Zeitredakteure:
Ideologiekritik und Emanzipation sind passé
. In der Tat scheint sich ja in der Ausbildung von Sozialarbeitern und Pädagogen ein Trend abzuzeichnen, daß die Analyse sozialstruktureller Bedingungen, unter denen Erziehung oder Sozialarbeit stattfindet, nicht mehr im Vordergrund steht. Eine Rückbesinung auf die Geschichte ist zu beobachten. Oral history, die biographische Methode ist gefragt. In der Sozialarbeit spielen Therapie und Beratungskonzepte eine wichtige Rolle. Hängt das vielleicht mit der politischen Entwicklung zusammen? Aus der Reformeuphorie der 70er Jahre wurden Reform-Illusionen. Die Hoffnungen, in dieser Gesellschaft etwas verändern zu können, wurden politisch frustriert.
[V61:15] Klaus Mollenhauer: Ich kann die Frage nur aus dem engen Kreis meiner Erfahrungen beantworten. Ich glaube, daß die Frustrationen nicht nur durch die politische Rückentwicklung zu erklären sind. Dieser Fortschrittsenthusiasmus, der Mitte der 60er Jahre begann, der auf politischer Ebene den Bildungsrat mit diesen schönen gelben Bänden hervorbrachte – jeder, der wissenschaftlich produktiv war, wollte damals in dieser Reihe ein Gutachten veröffentlichen – ich glaube, daß dieser Fortschrittsenthusiasmus auch bald ein wissenschaftliches Problem offenlegte. Angefangen hatte ja alles um 1966 mit der Technologie- und Technokratiekritik, mit dem Reden von
Sozialisation
, es entstanden die Konzepte für soziales Lernen, wer wissenschaftlich etwas auf sich hielt, eignete sich die sozialwissenschaftliche Terminologie an usw. Später stellte sich heraus, daß die sozialwissenschaftliche Orientierung der Pädagogik auch zu ihrer Instrumentalisierung führte und daß damit die Emanzipationskonzepte in eine neue technokratische Richtung gerieten. [V61:16] Als die ersten Gesamtschulen beispielsweise mit ihrer barbarischen Architektur entstanden und als dann auch die ersten Evaluationsuntersuchungen Vorlagen, merkte man erst, was man sich da eingehandelt hatte. Man hatte über Chancengleichheit und offene Schulsysteme nachgedacht, aber nicht über die
Räume
, in denen Schule stattfand. [V61:17] Ich muß hinzufügen: es gab auch damals schon einige Leute, die sensibel wa|a 48|ren oder über entsprechende Erfahrungen verfügten und diese Entwicklung vorausgesehen haben. Heydorn sah schon Mitte der 60er Jahre, in welche Schere sich dieses Egagement für eine fortschrittliche Pädagogik hineinbegibt. Denen, die dann unsicher wurden, hat später die Ökologiebewegung Denkanstöße gegeben, eine Reinintegration der Pädagogik in Umweltprobleme zu versuchen. Alltagstheorien kamen in Mode, und man kam wieder auf den Gedanken, daß das, was sich pädagogisch abspielt, nur dann richtig verstanden werden kann, wenn es in den kulturellen Lebenszusammenhang eingebettet wird. [V61:18] Also: das Unbehagen an der technischen Zivilisation, wenn sie sich ungebremst in Erziehungsverhältnissen Geltung verschafft, erzeugt für mich plausibel die Rückfrage, woher eigentlich diese
fortschrittlichen
Paradigmen stammen, die uns im Augenblick so zu überwuchern scheinen.
[V61:19] Helga Häsing: Aber warum hat man auf die Kritiker der damaligen Entwicklung nicht gehört, warum war Heydorn nicht so populär wie Adorno oder Habermas? [V61:20] Sie haben in Ihrem Buch immer wieder darauf hingewiesen, daß die ersten Ansätze von Didaktik in der Erziehung schon lange zurückliegen. Der Orbis pictus des Comenius war ja schon so etwas wie ein didaktisches Erziehungskonzept. Sie zeichnen in Ihrem Buch nach, wie Erziehung im Laufe der Gechichte immer mehr das Machbare wurde. In der späteren schwarzen Pädagogik wird das dann besonders deutlich, man glaubte Menschen wie Spalierobst heranziehen zu müssen. [V61:21] Mich interessiert, wie es zu erklären ist, daß vergessen werden konnte, wie schnell fortschrittliche Erziehungskonzepte sich in ihr Gegenteil verkehren lassen.
[V61:22] Klaus Mollenhauer: Wir haben Adornos Dialektik der Aufklärung wohl nicht gründlich genug gelesen. Vielleicht haben wir deshalb Heydorn nicht verstanden. [V61:23] Die Verstehensmöglichkeiten des Menschen hängen doch ganz eng mit der zeit und dem Thema dieser Zeit zusammen. Ich habe damals ganz auf die empirische, sozialwissenschaftliche Pädagogik gesetzt, gerade weil ich aus einem anderen Stall kam. Ich wollte mich aus der Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, in der ich groß geworden bin, emanzipieren. Da hieß es, Empirie, die können wir in der Pädagogik entbehren, und Soziologie muß auch nicht unbedingt sein. Man muß nur die großen Pädagogen der Vergangenheit lesen und sie auf die Gegenwart übertragen, um sich alles Wissenswerte anzueignen.[V61:24] Soziologie, so wie sie am Frankfurter Institut für Sozialforschung betrieben wurde, habe ich erst nach meiner Promotion kennengelernt. Ich fing an mich umzugucken: Piaget, Horkheimer, Adorno, Fromm. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik erschien mir aus dieser Perspektive nur noch als Harmoniesoße. Die empirische Forschung, also nur sogenannte Tatsachen und ihre gesellschaftliche Formierung, zählte. Es sind allemal die historischen Konstellationen, in denen man zu denken und wissenschaftlich zu arbeiten beginnt, auch die Richtung der Arbeit bestimmen.
[V61:25] Gerd Wartenberg: Man könnte ja sagen, Du bist in gewisser Weise wieder zu dem zurückgekehrt, was Dich im Studium beschäftigt hat, den Grundfragen der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik.
[V61:26] Klaus Mollenhauer: Mein erstes Buch,
Erziehung und Emanzipation
, ist ein Sammelband mit Aufsätzen, die ich nach der Promotion geschrieben habe, also in einer Phase, in der ich versucht habe, mich von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wegzuorientieren. Als ich dann 1972 die
Theorien zum Erziehungsprozeß
beendet hatte, ist mir klar geworden, daß da etwas an wissenschaftlich historischer Bearbeitung fehlt. All diese Arbeiten waren noch ein Versuch, einen politisch-pädagogischen Standpunkt zu finden, wobei gerade die politisch-gesellschaftliche Verortung unserer Theorien und Praktiken wichtig war. [V61:27] Danach kam für mich die Zeit des Unbehagens an meiner bisherigen wissenschaftlichen Arbeitsweise. Dieses Unbehagen setzte sich aus mehreren Komponenten zusammen: Einmal, der Eindruck, daß, manches in der Emanzipationspädagogik über ein pädagogisch zu verantwortendes Ziel hinausschoß; diese Einsicht hing mit meinen praktischen Erfahrungen zusammen; wir dachten viel zu doktrinär über Erziehung nach, viel zu wenig
kindgemäß
. Dann die Vernachlässigung dessen, was wir zusammenfassend
Verstehen
nennen, den kritischen Vergleich von Lebensäußerungen der jungen Generation und der Kultur in ihren verschiedenen Produkten. Schließlich auch, wie mir scheint, der Verlust an Geschichte. Damit fingen für mich auch neue Suchbewegungen an.
[V61:28] Helga Häsing: Das ist ein interessanter Aspekt, wie kommt es zu zeitlichen Verschiebungen in der Wahrnehmung dessen, was schon einmal wissenschaftlich erarbeitet worden ist. Inwieweit wird Vergessen durch politische Zeitströmungen verursacht, inwieweit durch die eigene Biographie? Könnten Sie das vielleicht noch etwas näher erläutern?
[V61:29] Klaus Mollenhauer: In der Geschichte des Denkens spielen manchmal ganz merkwürdige Weichenstellungen eine Rolle. Wenn man mich fragt, wie ich dazu kam, zu einem bestimmten Zeitpunkt dies oder jenes zu denken, dann sollte auch gleichzeitig die Frage gestellt werden, wie Menschen einer bestimmten Generation dazu kommen, dieses oder jenes zu denken. [V61:30] Ich bin Jahrgang 1928. Ungefähr zu diesem Jahrgang gehören aus der Pädagogik auch Klafki, Blankertz, Röder, um nur einige zu nennen. Wir sind alle Ende der 50er Jahre promoviert worden. Wir waren alle Hitlerjungen, mehr oder weniger engagiert mit der NS-Ideologie. Als Fünfzehnjährige wurden wir dann als Luftwaffenhelfer eingezogen. Wir leisteten Militärdienst. Gegen Ende des Krieges wurden wir in den Endkampf einbezogen. Bei Kriegsende kamen wir in Gefangenschaft. Als wir nach Hause kamen, waren wir siebzehn. [V61:31] Diese wichtigen Jahre in der Entwicklung waren für uns
verlorene
Jahre. Als ich eingezogen wurde, wurde ich noch gefeiert, als wir nach Hause kamen, hat man mich in der viel zu großen Uniform ausgelacht:
Mit Dir also wollte Hitler den Krieg gewinnen
, sagten sie. Mit diesem Trauma fing für uns alle eine neue Entwicklung an. [V61:32] Nach 1945 versuchte ich mich in die Welt der neuen Demokratie hineinzufinden. Ich hatte keine Ahnung von Links und Rechts, wußte kaum, was Sozialismus ist. Die Freunde meiner Eltern waren Kommunisten, Juden und religiöse Sozialisten, auch einige von der Grün|a 49|dergeneration der CDU. CDU und KPD galten mit gleichviel im demokratischen Engagement. [V61:33] Wir mußten ganz neu lernen. Die Frage
bin ich vielleicht doch noch ein Nazi
war bohrend. Auch jedes Wort, das die ältere Generation sagte, wurde daraufhin abgeklopft. Vor diesem biographischen Hintergrund muß unsere intellektuelle Entwicklung verstanden werden.
[V61:34] Gerd Wartenberg: Du mußtest in einer bestimmten Zeit mit der Vergangenheit brechen, weil sich die Geschichte als Irrtum erwies. Nun meinen ja die Psychoanalytiker, daß heute die Problematik der verleugneten Adoleszenz viel zentraler ist als die der verleugneten Kindheit. Mir scheint, daß Du diese Zeit noch immer verdrängst. Zumindest findet sie keinen Eingang in Deine wissenschaftliche Arbeit.
[V61:35] Klaus Mollenhauer: In den 60er Jahren war ich in Berlin, hatte Kontakte zum SDS und fühlte mich dieser Bewegung zugehörig. Es gab in diesem Klima, in dem ich später mich politisch und wissenschaftlich entwickelt habe, keine Aufforderung, sich mit seiner eigenen Biographie auseinanderzusetzen, geschweige denn sie öffentlich zur Diskussion zu stellen. Das ist sicher ein Manko unserer Generation. Was aus der eigenen Erfahrung in eine breitere Öffentlichkeit eingeht, ist doch auch verbunden mit den Interaktionszusammenhängen, in denen man sich bewegt. Ich kann mich an Situationen erinnern, in denen ich gern etwas aus meinen früheren Erfahrungen erzählt hätte. Mir kam das aber damals wie ein Kokettieren mit der eigenen Vergangenheit vor. Also habe ich geschwiegen. [V61:36] Inzwischen ist das Interesse und die Sensibilität für eigene Erfahrungen auch wissenschaftlich gefragt. Nur stellt sich jetzt für mich die Frage: kann ich gut genug schreiben, um diese Erfahrungen mitzuteilen und sie dann auch noch in verallgemeinerte Gedankengänge einzufügen.
[V61:37] Helga Häsing: Mich interessiert noch, wie schätzen Sie diese Entwicklung ein, die Hinwendung zur Biographie-Forschung, die Abwendung von der empirischen, soziologischen Forschung in der Pädagogik, die Besinnung auf Alltagstheorien und die Rückbesinnung auf die Geschichte?
[V61:38] Klaus Mollenhauer: Ich finde diese Entwicklung wichtig, weil sie die Pädagogik ein Stück weit dahin geführt hat, zu fragen, was mit einem Kind geschieht, wenn es versucht, sich mit dieser Welt auseinanderzusetzen und sich zu ihr in Beziehung zu setzen. Andererseits sehe ich auch die Gefahren dieser Entwicklung. Wieder werden Zusammenhänge vergessen, z.B. das, was durch die soziologische Aufklärung erarbeitet und gelernt wurde. Es ist doch enorm wichtig zu wissen, wie das individuell Biographische immer wieder überformt und verformt wird durch die sozialstrukturellen Bedingungen, in denen sich das Leben abspielt, wo die Verwirklichungsgrenzen des pädagogisch noch so gut Gemeinten liegen.
[V61:39] Gerd Wartenberg: Das wäre, dann ein Wiederholungsfehler. Als man endlich die sozialstrukturellen Bedingungen in den Blick der Pädagogik bekam, würde unter dieser Blickrichtung die innere Entwicklung des Menschen vergessen, wurden die unbeantworteten Grundfragen der Pädagogik vergessen. Nur die soziologischen und politischen Fragestellungen waren wichtig.
[V61:40] Helga Häsing: Ja, wichtig wäre doch, diese verschiedenen Ansätze und Erkenntnisse zusammenzubringen.
[V61:41] Klaus Mollenhauer: Ich glaube nicht, daß man die Grundprobleme der Bildung des Menschen lösen kann, auch wenn man alle Erkenntniswege zusammenbringt; man kann nur den Versuch machen, diese Fragen immer neu und so zuverlässig wie möglich zu formulieren, ohne larmoyante Schuldzuweisungen an unsere Mütter und Väter, ohne sentimentalen Historismus oder aktionistische Naivität. [V61:42] Dabei fällt mir ein, daß ich in meinem neuen Buch eine mir für die Pädagogik ganz wesentlich erscheinende Frage nicht oder nur sehr unzureichend beantwortet habe, nämlich: wie muß man heute schreiben, wenn man
aufgeklärt
über Erziehung schreiben will? Ich denke, das müßte eine
Schreibe
sein, die den argumentierenden Diskurs mit der Verständigung über die eigenen Bildungs- und Erziehungserfahrungen verbindet – etwas, das die hermeneutische Tradition eigentlich immer im Blick hatte. Aber so etwas konnten immer schon Autoren besser, die keine
Erziehungswissenschaftler
waren. Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, das noch zu lernen.
[V61:43] Klaus Mollenhauer:
Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung
, Juventa Verlag, München 1983, 184 S.
, 22,-- DM.