Ende der Aufklärung? Herausforderungen der Bildungstheorie in der Gegenwart
1. Wie alles anfing
2. Leib
3. Arbeit und Interaktion
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–[093:31] Sie weisen darauf hin, daß die Rückgewinnung eines Typs von Arbeit, die nicht nur mechanisiert und fremdbestimmt ist, immer noch wenigstens denkbar bleibt.
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–[093:32] Sie weisen uns darauf hin, daß – will man das Denkbare ins Machbare übertragen – die Beziehung zwischen Arbeit und Lebenssinn zwar wieder dichter wird, daß diese größere Dichte aber nur um den Preis eines Mehr an Arbeitszeit, eines Weniger an Wohlstand und einer gesellschaftlich-historischen Marginalisierung zu haben ist.
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–[093:33] Sie weisen uns ferner darauf hin, daß dieses Mehr an Zeit nur insofern auch ein Mehr an Sinn mit sich führt, als es mit mehr Kommunikation verbunden ist.
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–[093:34] Sie weisen uns schließlich auf eine archaisch scheinende Figur hin: auf die Annahme nämlich, daß das über gegenständliche Hervorbringungen vermittelte Welt- und Selbstverständnis einen Halt im ökologischen Umfeld, im Verhältnis zur Natur haben müsse, eine ethische Orientierungsdimension also, durch die ein mindestens schonender Umgang mit Tieren, Pflanzen und Materialien nahegelegt wird.
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1.[093:36] Das Verhältnis zwischen Arbeit und Bildung, soweit es überhaupt als praktisch relevante Problemstellung in unser Erziehungswesen Eingang fand, blieb, als Verhältnis zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, immer (mit nur ganz wenigen Ausnahmen) über die Status-Pyramide verteilt. Polytechnische Bildung, Arbeitslehre, Betriebspraktika auf der Sekundarstufe hatten zumeist nur die Funktion, für Hauptschüler künftige Berufswahlen vorzubereiten und für Gymnasial- oder Oberstufen-Schüler die intellektuelle Aufklärung über das, was man später glücklicherweise nicht zu machen brauchte, aber zu wissen nützlich sei, zu besorgen. Sofern der Arbeit, der gegenständlichen Hervorbringung als Tätigkeit, nicht nur als Wissensinhalt, überhaupt eine für die Bildung der Person fundamentale Bedeutung zugesprochen wurde, beschränkte sie sich auf die frühen Stufen des Bildungsprozesses. – In dieser Hinsicht ist nun eine andere Situation entstanden: In dem Maße, in dem intellektuell Ausgebildete sich aus akademischen Positionen entfernen und Positionen im Bereich von Handarbeit aufsuchen, der Anteil von Abiturienten, die ihre Bildungskarriere nicht an den Hochschulen fortsetzen wollen, steigt, eine |a 97|“postmaterialistische”Orientierung zunimmt,24 die Grenzen einer die Natur rücksichtslos ausbeutenden Attitüde wissenschaftlich-technisch-industrieller Zivilisation immer plausibler werden – in dem Maße könnte ein Konzept zum Verhältnis von Arbeit und Bildung aus dem Winkel von Fachdiskussionen und Modell-Projekten herausgeführt werden, das den Prozeß der Bildung des Menschen an die gegenständliche Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und seiner Leibhaftigkeit fundamental bindet.
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2.[093:37] Derartige Probleme stellen sich ihrer Art nach im Bereich gesellschaftlich organisierter Arbeit der Erwachsenen anders als im Bereich der Bildung des Nachwuchses. Diese bildungstheoretische Behauptung kann heute darauf hoffen, nicht sogleich in Ideologieverdacht zu geraten. Vor 20 Jahren war das noch schwieriger: Damals spielte in erziehungswissenschaftlichen Argumentationen eine Art soziologischer“Realismus”gelegentlich eine wichtige Rolle, demzufolge vorwiegend die Auseinandersetzung des Kindes mit den gesellschaftlich tatsächlichen Formen von Arbeit, insbesondere der kapitalistischen industriellen Arbeitsteilung, bildend sei. Versuche, die Kinder mit Arbeitsvollzügen vertraut zu machen, die eher dem vorindustriellen Typus zugehören, galten eher als romantisch-volkstümelnd. Durch die Optionen der neuen sozialen Bewegungen hat sich die Argumentationslage verschoben. Es kann nun gleichsam wieder entspannter über den Bildungssinn von Arbeit nachgedacht werden, in sorgfältiger Erwägung der Bedeutung von Alters- und Bildungsstufen und im Hinblick auf eine Bil|a 98|dungspraxis, die nicht nur eine aufgeklärte Kritik des Systems gesellschaftlicher Arbeit zum Ziel hat, sondern zunächst die bildenden Wirkungen lebendiger Tätigkeit, produktiver Handarbeit entfalten will.25 Wenn ein“schonender”Umgang mit Natur zu unseren Bildungszielen gehören soll, dann verdienen gerade diejenigen Arbeitstypen den Vorzug im Hinblick auf den Bildungsprozeß, die – wie immer auch werkzeugvermittelt – Natur als gegenständlich erfahrbar erscheinen lassen. Der soziologisch gemeinte Satz enthält deshalb eine bildungstheoretische Bedeutung:“Die Alternative zum System bürgerlicher Erwerbsarbeit, das uns dumm und einseitig gemacht hat, ist ... der Kampf um die Vervielfältigung und Erweiterung gesellschaftlich anerkannter Formen der Arbeit, die der Eigenproduktion und der Selbstverwirklichung dienen.”26
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3.[093:38] Wenngleich“Selbstverwirklichung”in diesem Zusammenhang und übrigens auch in anderen – kein ganz glücklicher Begriff ist, jedenfalls solange, als eine befriedigende Auskunft darüber fehlt, wie sie sich zu“Selbstbestimmung”verhält, enthält das Zitat im Kontext seines Buches (“Lebendige Arbeit, enteignete Zeit”) doch einen wesentlichen Hinweis, der weiter reicht als nur bis zur Bildungsbedeutung der gegenständlichen Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur: Lebendige Arbeit entfalte ihren Bildungssinn – so verstehe ich – erst dann, wenn sie nicht nur zur Auseinandersetzung mit äußerer Natur nötige, sondern mit einerseits innerer und andererseits – anders läßt sich dies gar nicht empirisch begründet denken – mit der“Natur”der an|a 99|deren, des Alter Ego, mit Interaktion also. Und eben dies scheint mir die pädagogisch relevante Pointe der alternativen Arbeitsprojekte zu sein: Arbeit ist dort eingebunden in vielfältige Kommunikationen, oder auch umgekehrt: sinnvermittelnde Kommunikation hat sich zu bewähren in gemeinsamer Arbeit; ihr Bildungssinn ist also nicht nur fundamental, nicht nur in der gegenständlichen Auseinandersetzung des einzelnen Ich mit den Widerständen der äußeren Natur zu suchen, sondern vor allem in einem“Gespräch”(wenn man mit Bezug auf Arbeit so sagen darf), das seinen materiellen Halt in dem, freilich vom“Du”immer schon mitgebildeten, Vermögen zu produktiver Tätigkeit hat. Das bedeutet für viele Projekte – besonders eindrucksvoll beispielsweise in dem Krippen- und Kindergarten-Projekt in Reggio/Emilia zu studieren27 – in der guten Tradition von Bürgerinitiativen und Gemeinwesenarbeit, daß die Tätigkeit des Kindes nicht nur an die tätige pädagogische Gruppe gebunden wird, sondern an einen Austausch mit dem gesellschaftlich-kulturellen Umfeld, in einem Netzwerk von Verständigungen. Derartige Projekte verknüpfen die Bildungsbemühungen mit einer Idee von politischer Kultur, in der die Tätigkeit des Kindes nicht in eine pädagogische Oase verwiesen wird, sondern als“Moment”des Ganzen erscheint. Das ist freilich nicht die dominante gesellschaftliche Wirklichkeit; aber es hat einen Bildungssinn insofern, als es, innerhalb unserer Kultur, zur Aufgabe des“Projekts Pädagogik”gehört, die Kultur gleichsam“noch einmal von vorn”, aus ihren Elementen und in entwicklungslogischer Reihenfolge zu konstruieren.