Zusammenfassung
Ist ästhetische Bildung möglich?1
1.
„Ästhetische“ und
„nicht-ästhetische“ Urteile
2. Ästhetische und nicht-ästhetische Empfindungen
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–[100:15] Die Bedeutung ästhetischer Symbole ist nicht arbiträr, also nicht aufgrund beliebiger Konventionen durch andere Zeichen zu ersetzen – so wie wir etwa im griechischen Alphabet niedergeschriebene Wörter ohne Veränderung der Information auch in lateinischen Buchstaben schreiben, oder wie wir bei der Einrichtung unserer Verkehrsampeln auch andere Farben für die gleiche Bedeutung einsetzen könnten. Das in Ultramarinblau gemalte Gewand einer läßt sich nicht durch Zitronengelb ersetzen, der Totem-Pfahl nicht durch einen Querbalken, das Quint-Intervall am Ende eines Musikstücks nicht durch einen Dreiklang, ohne daß damit auch eine andere Bedeutung gegeben wäre; wenn ein Tanzschritt durch einen anderen ausgetauscht wird, läßt sich durch keine Konvention sichern, daß er für den Tanzenden das gleiche bedeutet; eine Wellenlinie kann nicht, durch Verwendung von Übersetzungsregeln, die gleiche Empfindung hervorrufen wie eine gezackte; auf einem Bild ist jedes Element nur bestimmbar im Hinblick auf alle anderen. Ein„ästhetisches Symbol“würde dann also, folgt man diesem Vorschlag, die leib-seelische Erfahrung eines Menschen auf dem Weg über die Konzentration auf die dabei sich einstellende Empfindung zum Ausdruck bringen, und zwar auf eine vorbegriffliche, vor-rationale Weise. Zugleich würden etwa die Zeichnung eines vierjährigen Kindes, das Bild eines Schizophrenen, die Leibgesten eines Schamanen während einer rituellen Heilungshandlung beim Betrachter derartige Produkte oder Vorgänge – konzentriert er sich nur hinreichend intensiv auf das, was der sinnlichen Empfindung dargeboten wird – die in der ästhetischen Gebärde ausgedrückte Stimmung oder leib-seelische Empfindung hervorrufen können. Mit diesen Hinweisen wird allerdings ein universalistisches Mißverständnis riskiert, so als sei das„Spüren“oder sein„Innengrund“der historischen Bestimmtheit enthoben (vgl. dazu etwa Douglas 1981), als ließe sich in kultur- und bildungstheoretischer Absicht über Leibhaftigkeit überhaupt begründet disputieren.
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–[100:16] Für die Verwendung des Ausdrucks„ästhetisches Symbol“schlage ich deshalb vor, daß geltend gemacht wird, was auch für konventionelle (arbiträre) Zeichen gilt: Symbole sollen eine intersubjektiv geteilte Bedeutung haben. Das ist trivial, |a 451|denn selbstverständlich läßt sich im Hinblick auf einen Ausdruck, der„Bedeutung“nur für den Sich-Ausdrückenden (Sich-Äußernden) hat, gar nichts Symbolisches ausmachen – es sei denn, jede privat-individuell als bedeutungsvoll gemeinte Äußerung solle schon ein Symbol genannt werden. Anders formuliert: Von ästhetischen Symbolen zu reden ist nur sinnvoll, sofern die damit gemeinten Äußerungen/Ausdrücke/Objekte eine verstehbare Mitteilung enthalten. Wenngleich auf„subjektive Empfindung“auf„nicht-konfrontiertes Spüren“und„Innengrund“bezogen, sind sie doch zugleich mit intersubjektiv geteilter Bedeutung verknüpft. Diese aber ist, wie mir scheint, auf keine andere Weise zugänglich als durch die Teilhabe an einem kulturellen und historisch bestimmten Code (dem dann bisweilen freilich, z. B. unter dem Namen„Archetyp“, auch Fremdes einverleibt werden mag). Die Schwierigkeiten, in die etwa eine Theorie der„sinnlich-sittlichen Wirkung“der Farben von (vgl. Schöne 1987) bis zu oder führt, zeigen, ebenso wie die historische Tatsache, daß das neuzeitlich-europäische Musikempfinden mit der Erfindung der Noten-Schrift im späten Hochmittelalter engstens verknüpft ist, wie wenig dieser Frage ausgewichen werden kann. Ästhetische Symbole sind also solche Zeichen, die nicht etwa eine allgemein-menschliche„Subjektivität“mit einem historisch gegebenen Repertoire sinnlich zugänglicher Figurationen verknüpfen, sondern es sind Zeichen, die, kraft ihrer historischen Bestimmtheit und relativen Allgemeinheit, ästhetische Empfindungen überhaupt erst möglich machen, und zwar dadurch, daß sie den„Innengrund“in bestimmbarer Weise, im Lichte des Kulturell-Allgemeinen, interpretieren.
3. Die Verschiedenheit der Sinne
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1.[100:27] Das Sehen. Wenn der Mensch sich aufrichtet, sei es am Anfang seiner Gattungsgeschichte, sei es im Kleinkindalter, eröffnet sich ihm das„Auge-Hand-Feld“. Der Augensinn löst sich aus der Verbundenheit mit den Nah-Sinnen und kann nun horizontal in die Weite schweifen und nach Belieben willkürlich die Richtung wechseln. Da er in der Kombination von Reichweite und Zielgenauigkeit (gelegentlich reicht das Ohr weiter als das Auge, dann aber mir geringerer Zielgenauigkeit) allen anderen Sinnen überlegen ist, übernimmt er jetzt die Führung: Hand- und Geh-Bewegungen vermitteln zwischen dem Leib und den fernen Objekten. Der Begriff einer„Handlung“wird denkbar, auf ein fernes Ziel gerichtet. Deshalb heißt es immer wieder, wo in historischen Zeugnissen der Anthropologie vom Auge die Rede ist, daß es„strahlig“oder„strahlend“sei. Im„Strahlen“des Auges wird seine Gerichtetheit zur Sprache gebracht, die Idee der geraden Linie und alles dessen, was darauf folgt – Winkelbrechung, Dreieck, Parallele, Perspektive, Wandern von Punkt zu Punkt (ebd., S. 258ff.). Der Gesichtssinn enthält als seinen„Logos“(deshalb spricht in diesem Zusammenhang von einer„Ästhesiologie“) aber nicht nur die Idee der Geometrie; er registriert auch Flächen und das heißt Farben, da alle Farben ausgedehnt, also keine Punkte sind. Der Bildungssinn des Auges müßte also mindestens in diesen beiden Hinsichten bestimmt werden.
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2.[100:28] Das Hören. Nicht nur das Auge, sondern auch das Ohr ist ein Organ (Werkzeug) des Fernsinns. Aber es enthält eine gänzlich andere Idee, einen anderen„Sinn“seiner Tätigkeit. Zunächst – man kann es an sich selbst erproben – ist das Gehör, im Unterschied zum Gesicht, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen hin empfänglich. Das Ohr läßt sich, genau genommen, nicht schließen wie das Auge. Schließe ich das Auge, dann sehe ich – vom„Nachhall“der Lichtempfindungen abgesehen – nichts;„schließe“ich dagegen das Ohr, höre ich mich (Blutrauschen, Pulsschlag u. ä.). Die propriozeptive (selbstwahrnehmende) Fähigkeit des Ohres korrespondiert mit der Tatsache, daß Töne, wie es metaphorisch heißt, rascher„zu Herzen gehen“als optische Empfindungen ( hat das immer wieder |a 454|bekräftigt, und meinte, daß das Gehör„die eigentliche Tür zur Seele“„Tonraum“etwas durchaus anderes bezeichnet als den Raum, der dem Gesichtssinn zugänglich ist oder von ihm konstruiert wird. Überhaupt verweisen die Metaphern zur Bezeichnung akustischer Ereignisse – Tonraum, Tonhöhe, Klangfarbe, Tonleiter usw. – nicht etwa auf den Eigen-Sinn des Gehörs, sondern deuten eher die Verlegenheit an, diesen Sinn gehörig zur Sprache bringen zu können. Die spezifischen Sensationen (Sinnesereignisse) des Gehörs haben es denn auch eher mit dem Intervall, dem Volumen (aber auch dies sind räumliche Metaphern) und mit der Zeitlichkeit akustischer Phänomene zu tun (ebd., S. 221ff., 343ff.). Das Auge kann, gerichtet und strahlig, beliebig auf einem Punkt oder einer Fläche verweilen; das Ohr aber – entsprechend den akustischen Objekten, die es wahrnimmt – muß naturgemäß in der Zeit von Ton zu Ton weitereilen, innerhalb des Tons seine Veränderungen wahrnehmen, das Verhältnis der Töne zueinander registrieren. Diese – gemessen am Gesichtssinn – höchst„abstrakte“Leistung vollbringt das Gehör nur mittels seiner Zweiseitigkeit als fremd- und selbstwahrnehmendes Organ: Die Tonfolge, in dieser oder jener zeitlichen, voluminösen und Intervall-Struktur wahrgenommen, kommt zu ihrem„Sinn“in der inneren Bewegung des Leibes.
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3.[100:29] Bewegung. Im Unterschied zu optischen und akustischen Empfindungen scheint der Bewegung kein Sinnesorgan zu entsprechen. Dennoch soll ihr hier ein„ästhesiologischer“Eigenwert zugesprochen werden. Zwar scheint sie merkwürdig„zwischen“den verschiedenen Sinnesorganen zu liegen – nicht nur zwischen Gehör und Gesicht, denn auch Muskelreize, Gleichgewicht, libidinöse Empfindungen sind beteiligt –, aber gerade diese Zwischenstellung zeichnet sie aus: Bewegung ist, darin dem Gehör mindestens ähnlich, auf sehr dichte Weise sowohl fremd- als auch selbstwahrnehmend (apperzeptiv und propriozeptiv)! Das wird bereits in der Ursprungssituation des Gehens deutlich:„Der gehende Mensch bewegt sich so, daß der Körper vorgeschwungen wird. Dem Schwerpunkt wird für einen Augenblick die Unterstützung entzogen. Das vorgestreckte Bein ist es, das den drohenden Fall aufzufangen hat... unser Gehen ist eine Bewegung auf Kredit“(Straus 1960, S. 228)„Bewegung auf Kredit“bedarf weiterer Erläuterung: Der Sachverhalt wird nirgends deutlicher als beim gerade Gehen lernenden Kind: Gegen die äußeren Widerstände, gegen Stolpern und Fallen, den Zug der Schwerkraft zurück auf die Knie, bietet das Kind den Gleichgewichtssinn und die nach oben gerichtete Streckbewegung des Oberkörpers auf, riskiert, den einen Fuß anzuheben, im Glauben oder zweifelnden Vertrauen (Kredit) darauf, daß es gelingen möge. Die Widerstände kommen zugleich von außen (Stolpern) und innen (die Tendenz zum Fallen wird in der Schwere des eigenen Körpers verspürt); gegen sie werden Arme, zur Unterstützung der Balance-Problem-Lösung, und Augen, zur Regulierung der Reichweiten und Richtungen, ins Feld geführt. Wir brauchen das Kind gar nicht darüber zu befragen: Seine Körperbewegungen teilen uns alles mit; |a 455|sie sind unmittelbar symbolischer Ausdruck des Sinnes der Bewegung. Die Bedeutung der Formel„ich bin mein Leib“kann in der Bewegung am intensivsten erfahren, am wenigsten verborgen werden. Die Unbefangenheit der Körperbewegungen, die wir an Kindern beobachten, verliert sich bald aus eben diesem Grund: In der nichtroutinierten Bewegung, in expressiv-freien Tanzbewegungen etwa, geben wir unwillkürlich viel von uns den anderen preis. Aber selbst noch in den routiniert-standardisierten Bewegungsformen – im rituellen Tanz, dem Schlenderschritt in Einkaufsstraßen, den Bewegungsgesten in Klassenzimmern und auf Pausenhöfen, im Menuett des 18. und dem Walzer des 19. Jahrhunderts, in den Tanzstilen der Discos heutzutage – offenbart sich zwar nicht das je individuelle Ich, aber das Leib-Ich-Projekt eines Kollektivs.
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4.[100:30] Die Nahsinne: Bewegung hegt zwischen den Fern- und den Nahsinnen. Auge und Ohr sind zwar für sie nützliche Hilfsmittel; zugleich aber ist sie dicht mit der selbstempfundenen Leiblichkeit verbunden, mit dem Spüren von Schwerkraft, Balance, Muskelreizen. Schmecken, Riechen, Tasten sind demgegenüber anders zu lokalisieren. Daß es an unseren Schulen Unterricht im Zeichnen/Malen, Hören/Musizieren, in Bewegen/Tanzen/Rhythmik/Leibeserziehung gibt, aber keinen Unterricht für Tasten, Riechen oder Schmecken ist kein Produkt unserer Erziehungsgeschichte, das mit diesen oder jenen Merkmalen„bürgerlicher“oder gar„abendländischer“Vereinseitigungen erklärbar wäre. Diese Vernachlässigung der Nahsinne hat einen anthropologischen Grund: In ihnen läßt sich schlechterdings kein organisierbarer Bildungssinn finden. Zwar haben auch sie eine ihnen eigene„Ästhetik“; zwar können wir auch mit ihrer Hilfe ästhetisch genießen; zwar lassen sich Geruch, Getast und Geschmack verfeinern, differenzierter ausgestalten. Aber: Sind sie zu Symbolbildungen fähig? Kann irgendeine Sinnesempfindung dieser Art über den Wahrnehmungsmoment hinaus Dauer beanspruchen, dergestalt, daß sie, für andere mitteilbar, situationsunabhängig objektiviert wird? Andererseits operiert die Sprache (und wohl auch unsere Vorstellung)„synästhetisch“, das heißt wirbelt die verschiedenen Sinne in Metaphern zusammen: süße Töne, duftige Farben, rauhe Bewegungen usw. Die prinzipielle Unsagbarheit der ästhetischen Empfindung, jedenfalls im Sinne der diskursiven Rede, des„bestimmenden Verstandesurteils“, führt uns offenbar dahin, durch metaphorische Anreicherung des Redens über ästhetische Empfindungen das Vokabular der je anderen Sinne zu Hilfe zu nehmen. Diese (im übrigen noch lexikalisch zu überprüfende!) wechselseitige Vertausch- oder Vertretbarkeit zwischen den verschiedenen Sinnen suggeriert eine„Einheit“der ästhetischen Erfahrung, die womöglich gar nicht existiert, sondern deren Konstruktionen lediglich der Schwierigkeit des ästhetischen Aussagens geschuldet sind. Jedenfalls gibt es diesen wichtigen Unterschied zu Auge und Ohr: Evolutionsgeschichtlich verloren die Nahsinne an lebenserhaltender Bedeutsamkeit; für die Konstruktion von Kulturen, für die Objektivation dauerhafter Sinnentwürfe also, traten sie deshalb zurück. Es entspricht dieser kulturellen Logik, wenn der Roman über den Geruchssinn,„Das Parfüm “, in einem tierischen Desaster endet. Dennoch ist die heute gelegentlich anzutreffende Schwärmerei für die Nahsinne (sie liegen ja auch der Sexualität näher als die Fernsinne) ein nachdenkenswertes Indiz für eine wichtige ästhesiologische Eigentümlichkeit: Die Nahsinne vermitteln dichten Kontakt der lebendigen Organismen; sie sichern rasche und unwillkürliche Reiz-Reaktions-Muster; sie sind ganz an das |a 456|Gegenwärtige, das raumzeitliche Hier-Jetzt gebunden. Allerdings lassen sich zwar die entsprechenden ästhetischen Empfindungen erinnern, aber nicht in ihrem eigenen Medium dauerhaft repräsentieren. Sie sind das Verbindungsglied zwischen Natur und Kultur und verweisen, in ihrer„natürlich-biologischen“Ästhesiologie, voraus auf Kultur, und zwar insofern, als sie die primären Sinne der Selbstwahrnehmung sind. Bei heißt es:„Wenn etwas meine Haut berührt, kommt sofort ein Mein- und Michton ins Spiel“„Wir“. Im besten Fall vermittelt es die Empfindung dyadischer Symbiose oder leibhafter Trennung, auch von„Einverleibung“oder„Einstimmung“, aber es vermittelt keinen in die Welt ausgreifenden Gestus, der dauerhafte kulturelle Produktionen ermöglichen könnte. Die Nahsinne sind ästhesiologisches Fundament; aber sie machen den Bau nur möglich, sie können ihn nicht ausführen. Deshalb auch haben sich in ihrem Medium keine„Künste“entfaltet, ebensowenig wie ihre Vorform, eine intersubjektiv mitteilbare Symbolik; sie erfüllen ihren Sinn„in bloßer Leibvergegenwärtigung“(Plessner 1980, S. 273)