Der Beitrag der Pädagogik für eine verantwortbare Gestaltung der Zukunft [Textfassung a]
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Der Beitrag der Pädagogik für eine verantwortbare Gestaltung der Zukunft

[104:1] Das pädagogische Handeln und Denken hat es mit einer merkwürdigen Paradoxie zu tun: einerseits ist es ganz elementar auf Zukunft bezogen; jeder Bildungsschritt des Kindes ist, innerhalb unserer Kultur, überhaupt nicht anders verstehbar als ein Schritt auf das Morgen zu. Andererseits aber verlaufen diese Schritte im Rahmen von Gesellschaftsformationen und kulturellen Beständen, die vorgegeben sind, also nur wiederholen, was bereits der Fall ist; und ebendies, was bereits der Fall ist oder der Fall sein kann, wird, auch soweit es die geschichtliche Bewegung der Gesellschaft betrifft, nicht in der Pädagogik oder in den Schulen entschieden, sondern andernorts.
[104:2] Die Formel, die vor gut 160 Jahren Friedrich Schleiermacher für dieses Dilemma erfand, klingt immer noch einleuchtend, wenngleich sie die Schwierigkeiten auch verdeckt, die sich bei dem Versuch ergeben, ihr zu folgen: Es sei die Aufgabe der Pädagogik, die junge Generation in das
bestehende Gute
einzuführen und sie zugleich zu befähigen, sich an der Verbesserung von Gesellschaft und Kultur
mit Kraft
zu beteiligen. Wie macht man das? Wie macht man das zumal dann, wenn man bereit ist zuzugestehen, daß auch wir, die erwachsene, erziehende Generation, im Gehäuse überlieferter Lebensformen und Urteile sitzen, die nicht schon deshalb das
bewahrenswerte Gute
repräsentieren, weil wir uns darin eingerichtet haben – oder daß nicht schon jeder neue Gedanke, der eine bessere Zukunft verspricht, auch einer sorgfältigen Prüfung seines Versprechens standhalten könnte. Auf die Frage, was der Beitrag der Pädagogik zu seiner verantwortbaren Zukunft sein könnte, gab und gibt es deshalb auch zwei extreme und für unser Problem typische Antworten:
[104:3] Alles, was in einer Gesellschaftsformation unbefriedigend, ungerecht, lebensschädlich, be- oder unterdrückend sei, müsse in der Gestaltung pädagogischer Verhältnisse eliminiert werden; der pädagogische Raum, die pädagogische Provinz müsse die bessere Zukunft vorwegnehmen. Das waren die Antworten Rousseaus und Fichtes, die der Erziehungsreformer der zwanziger Jahre in Schul- und Heimerziehung, das sind heute die Antworten der
antiautoritären
Bewegung, der
Antipäd|a 126|agogik
, der Alternativschulen. – Auf der anderen Seite der Skala liegen die Antworten derer, denen solche Sprünge nach vorn Mißbehagen bereiten, und die, mit Schleiermacher zu sprechen, lieber am bewährten
Guten
festhalten, darauf vertrauen, daß auch die Gestaltung der Zukunft mit den überlieferten Mitteln und Erziehungsformen gelingt. Dieser Meinung waren die frühneuzeitlichen Humanisten, als sie auf die Zukunftsfähigkeit der antiken Schriftsteller vertrauten, war die preußische Unterrichtsverwaltung, als sie die Humboldtschen Reformen stoppte, waren Wiechern und Bischof Kettler, als sie die christlich überlieferten Morallehren für zukunftsfähig hielten, dieser Meinung sind wohl auch jene, die noch an den Sinn unseres dreigliedrigen Schulsystems glauben, an den
guten
alten Curricula festhalten, die Form der bürgerlichen Familie bewahren wollen, dem humanen Gehalt des technischen Fortschritts vertrauen.
[104:4] Auf der einen Seite also spekulative Utopien, auf der anderen nicht minder spekulatives Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des angeblich Bewährten. Wenn nun aber ohnehin das, was die Pädagogik zur Zukunft beizusteuern hätte, und wenn es mehr sein sollte als das pure subjektive Wollen oder Wünschen, dem gesellschaftlichen Geschehen immer hinterherhinkt, wenn sie also immer nur beisteuert, was bereits andernorts entschieden ist – was bleibt dann in der hier interessierenden Frage zu tun? Ich sehe zwei Wege: Den gegenwärtig zumeist beschrittenen will ich abkürzen und pointiert
Modernitäts-Anpassung
nennen, dabei handelt es sich um Versuche, dem öffentlich erreichten Problembewußtsein nach und nach auch im Erziehungs- und Bildungssystem Geltung zu verschaffen. Diese Systemanpassung betrifft beispielsweise die Organisationsstrukturen, die allmähliche Transformation des traditionellen Schulwesens zu gerechteren Formen; sie betrifft curriculare Problemstellungen, wie beispielsweise die Bildung zur Friedensfähigkeit und ökologische Bildung; sie betrifft schließlich auch den gerechteren Umgang mit den, bzw. die echte Integration der sogenannten Randgruppen, etwa in der
Ausländerpädagogik
, in der Jugendhilfe, in der Psychiatrie. Wenngleich es sich bei derartigen Fragen um Elementaria der politisch-pädagogischen Weiterentwicklung unserer Demokratie handelt, möchte ich mich im folgenden auf eine andere Problemschicht konzentrieren. Zu diesem Zweck erzähle ich zunächst zwei Geschichten.
[104:5] Im Jahre 480 vor unserer Zeitrechnung – so jedenfalls erzählt es Herodot – erschienen die Kundschafter Athens beim Orakel von Delphi und baten um eine Wegweisung für die bevorstehende kriegerische Ausein|a 127|andersetzung mit den Persern. Die Weissagung fällt unerfreulich aus (
Nicht das Haupt bleibt ganz, noch der Leib, noch die Füße, / auch nicht die Hände, noch bleibt ein Stück in der Mitte des Rumpfes / übrig, sondern vernichtet wird alles
).
Als das die Gotteskundschafter hörten, ergriff sie tiefe Trauer
; sie kehrten noch einmal zum Orakel zurück und baten
um einen besseren Spruch
. Der nun ist zwar nicht mehr so niederdrückend, dafür aber vieldeutig. Auf einer großen Versammlung in Athen begann deshalb eine umständliche Diskussion der Frage, wie er auszulegen sei. Wie man weiß, hatten die Athener Glück mit ihrer Auslegung: Sie vertrauten auf die Schiffe und gewannen die Schlacht bei Salamis.
[104:6] Diese Geschichte ist eine der Geburtsurkunden des europäischen Nachdenkens über Bildung, und zwar in mehreren Hinsichten: Die Quelle der Mehrdeutigkeit des Orakelspruchs ist im Arrangement der Orakel-Prozedur symbolisiert, indem nämlich die Pythia während der Befragung auf einem Dreifuß über einem Erdspalt sitzt, aus dem Dämpfe aufsteigen; derart den Kräften der Erde, der vitalen Tiefe, ausgesetzt, ist das Heiligtum aber andererseits Apollon geweiht, dem licht- und maßvollen Gott; dieser Gegensatz erzeugt eine schwer deutbare Rede. Er erzeugt aber auch bei den Athenern einen Akt der Emanzipation: Statt sich auf das Walten der Gottheiten zu verlassen, müssen sie nun ihre eigene Auslegungsarbeit ins Spiel bringen, eine praktische Urteilsfähigkeit ausbilden; hätten sie die Schlacht bei Salamis verloren, dann hätten sie, nach diesem Arrangement, nicht dem Orakel die Schuld geben können, sondern nur dem Versagen ihrer eigenen Auslegungskraft; sie selbst also sind verantwortlich. Wer das akzeptiert, muß sich zunächst der eigenen Bestände versichern; die Mehrdeutigkeit des Orakelspruchs fordert geradezu diese selbstreflexive Bewegung heraus, da dessen Auslegung nun von nichts anderem mehr abhängt als von der eigenen Vernunfttätigkeit. Deshalb stand über dem Tempeleingang von Delphi der Satz:
Erkenne dich selbst
.

Die zweite Geschichte:

[104:7] Der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung schrieb 1910 in einem Brief zum Plan der Gründung eines psychoanalytischen
Ordens
:
Ich denke, man müsse der Psychoanalyse noch Zeit lassen, von vielen Zentren aus die Völker zu infiltrieren, beim Intellektuellen den Sinn fürs Symbolische und Mythische wiederzubeleben, den Christen sachte in den weissagenden Gott der Rebe, der er war, zurückzuverwandeln, und so jene ekstatischen Triebkräfte des Christentums aufzusaugen, alles zu |a 128|dem einen Ende, den Kultus und den heiligen Mythos zu dem zu machen, was sie waren, nämlich zum trunkenen Freudenfeste, wo der Mensch in Ethos und Heiligkeit Tier sein darf
. Der Adressat des Briefes, Sigmund Freud, mochte sich zu derart schwärmerischem Ton nicht entschließen; er antwortete:
Lieber Freund, ja, in Ihnen stürmt und wettert es heute wieder und grollt entfernt zu mir herüber ... Mich aber sollen Sie für keinen Religionsstifter halten, meine Absichten reichen nicht so weit ... An Ersatz für Religion denke ich nicht, dies Bedürfnis muß sublimiert werden. Der Orden sollte so wenig eine Religionsgemeinschaft werden wie etwa eine freiwillige Feuerwehr
(Freud/Jung 1984, S. 136f.)
.
[104:8] In beiden Geschichten drückt sich aus, was wir die Einstellung der
Aufklärung
nennen: Die Möglichkeiten ausschöpfen, die uns zur rationalen Durchdringung unserer Lage gegeben sind; auf mythische und avalisierende Antworten nicht vorschnell vertrauen; die eigenen Bestände sichten. Diese Einstellung steht insbesondere der Pädagogik gut an, denn das erste, mit dem wir allemal Kunden konfrontieren, sind unsere Bestände, nicht unsere Parolen. Und das zweite, mit dem wir sie konfrontieren, sind zwar unsere
Paroles
, d. h. das System gesprochener Bedeutungen, die indessen – so will es die aufklärende Einstellung – Stück für Stück mit den auch empirisch einlösbaren Beständen verglichen werden sollen; das ist der Sinn des Ausdrucks
Kritik
, und das ist der Kern der neuzeitlichen Bildungsaufgabe. Wenn das zutreffen sollte, dann wäre Selbstreflexion die erste Aufgabe einer pädagogisch interessierten Gegenwartsdiagnostik als Grundlage für eine pädagogisch verantwortbare Gestaltung der Zukunft. Welche Schwierigkeiten derartiges mit sich bringt, läßt sich an den vielen gescheiterten Versuchen unseres Jahrhunderts gut ablesen. Daß – wie Ellen Key es vor 88 Jahren nannte – das
Jahrhundert des Kindes
angebrochen sei, hat sich noch am ehesten in der Produkt-Werbung bewahrheitet; die scharfsinnige Analyse Theodor Litts
Führen oder Wachsenlassen
aus den zwanziger Jahren hat weder die autoritäts- oder traditionsgläubigen Schulmänner beeindruckt (bis in unsere Tage) noch bei den
Antiautoritären
Selbstzweifel bewirkt; und blicke ich auf das gegenwärtige Panorama pädagogischer Deutungen, Prognosen und Versprechungen, bin ich nicht minder entmutigt. Deshalb suche ich einen anderen Weg.
[104:9] Einen Fingerzeig finde ich bei Wilhelm von Humboldt. Der schrieb 1796 an Schiller:
Es scheint mir jetzt mehr als je der wahre Zeitpunkt, Rechnung über die Fortschritte zu halten, welche der menschliche Geist |a 129|und Charakter teils gemacht hat, teils noch erst machen muß
. Diese Allerweltsbewertung verliert ihre Trivialität, wenn man den Zusammenhang berücksichtigt, in dem sie gelesen werden muß – denn einerseits bezieht sie sich auf ein Manuskript mit dem Titel
Das achtzehnte Jahrhundert
, an dem Humboldt arbeitete und in dem er sich der zukunftsfähigen Bestände aus der Vergangenheit zu versichern suchte; andererseits begann er damit eine Argumentation, die in der ersten Gesamtschulskizze der deutschen Geschichte endete, dem preußischen Unterrichtsgesetzentwurf 30 Jahre später. Es scheint also hilfreich zu sein, wenn man in die Zukunft blicken möchte, sich der gültigen Traditionen zu versichern. Das will ich nun versuchen.

2. Traditionelle Bestände

[104:10] Von manchen Seiten wird uns heute die sogenannte
Antipädagogik
empfohlen, d. h. ein Verzicht auf reglementierendes Eingreifen, äußerste Zurückhaltung beim Geltendmachen der eigenen Wertüberzeugungen, extreme Bescheidenheit im Umgang mit Zukunftsprojektionen für das Kind – stattdessen Konzentration auf das Hier und Jetzt, Ehrfurcht vor den Bedürfnissen des Kindes, Sensibilität für die Gefühle, aus denen allemal das Verhältnis der Generationen gemacht sei. Therapeuten oder Para-Therapeuten knüpfen hier an: Unsere gesellschaftliche Existenz sei pathologisch oder wenigstens pathogen geworden; die seelische Störung werde allmählich zum Normalfall; die Lebensform der bürgerlichen Kleinfamilie bekräftigte die Pathologie, unsere Schulen nicht minder. Die
Alternativen
(wie man sagt) haben deshalb Konjunktur, zwar nicht faktisch (sie bekommen kaum Geld!), aber doch in der öffentlichen Diskussion; die Frage, ob wir gut beraten waren, als wir die öffentliche Schulpflicht einführten anstelle einer bloßen Unterrichtspflicht, irritiert manch einen mit gutem Grund. – Es scheint, als sei in der jüngeren Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft – Humboldt konnte das noch nicht vorhersehen – einiges verkehrt gelaufen. Das ist der springende Punkt für die Pädagogik, für die erste, die elementare Tatsache des Generationsverhältnisses!
[104:11] Man muß den
Antipädagogen
, Therapeuten und
Alternativen
vielleicht nicht in allem Recht geben. In einer Hinsicht aber treffen sie den Nerv dessen, was Pädagogik genannt wird: Die Güte unseres Umgangs mit der jungen Generation bemißt sich allemal und fundamental an der Güte unserer eigenen Lebensform. Zwei ziemlich ehrliche |a 130|Zeugen unseres Jahrhunderts formulieren das Dilemma, allerdings sehr pädagogisch intim und mit Bezug auf ihre Väter, so:
[104:12]
Es gibt keine guten Väter, das ist die Regel; die Schuld daran soll man nicht den Menschen geben, sondern dem Band der Vaterschaft, das faul ist. Kinder machen, ausgezeichnet; Kinder haben, welche Unbill! Hätte mein Vater weitergelebt, er hätte mich mit seiner ganzen Länge überragt und dabei erdrückt. Glücklicherweise starb er sehr früh; inmitten so vieler Männer, die gleich dem Äneas ihren Anchises auf dem Rücken tragen, schreite ich von einem Ufer zum andern, allein und voller Mißachtung für diese unsichtbaren Erzeuger, die ihren Söhnen das ganze Leben lang auf dem Rücken hocken: ich ließ hinter mir einen jungen Toten, der nicht die Zeit hatte, mein Vater zu sein, und heute mein Sohn sein könnte. War es ein Glück oder ein Unglück? Ich weiß es nicht; aber ich stimme gern der Deutung eines bedeutenden Psychoanalytikers zu: ich habe kein Über-Ich
(J. P. Sartre, Die Wörter, 1965, S. 14 f.)
.
[104:13]
Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs Zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht.
[104:14] Beide Texte demonstrieren, wie dicht die Form des Lebens und ihre physischen intergenerationellen Folgen ineinander verwoben sind. Der erste Beitrag, den also die Pädagogik – oder besser: unser Ich als Pädagoge – für eine verantwortbare Gestaltung der Zukunft beizusteuern hätte, ist also dieses: Richten wir unsere eigene Lebensform so ein, daß unsere Kinder, wenn sie sie nachahmen, nicht in kaum noch lösbare Konflikte verstrickt werden. Das erste, was Kinder tun, ist Nachahmung; das Schlimmste, was die erwachsene Generation tun kann, ist deshalb, ihnen eine nicht nachahmenswerte Kultur zu präsentieren. Die mit dieser Problemlage angelegte ethische Selbstreflexion gehört seit der klassischen griechischen Philosophie, gehörte für Augustinus und Comenius, für Kant und Schleiermacher zu den Elementaria pädagogischen Denkens und Handelns. Ohne sie wird die Pädagogik kaum etwas beizutragen haben zu einer verantwortbaren Zukunft.
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[104:15] Im 16. Jahrhundert kam ein zweiter nach wie vor zukunftsfähiger Grundgedanke hinzu: Daß durch Nachahmung der Kultur der Erwachsenen der Bildungsprozeß des Kindes gelingen könne, wurde zweifelhaft. Die Gründe dafür waren vielfach: Beginnende kapitalistische Ökonomie in den Städten; Universalisierung des Geldverkehrs und damit abstrakter Tauschbeziehung; Buchdruck und damit verbundene Alphabetisierungskampagnen; Notwendigkeit des Erlernens der bürgerlichen Rechnungsarten; die Neuerfindung der Perspektiven in der Malerei und damit die Verlegung des Fluchtpunktes der Weltbetrachtung in das Auge des einzelnen Menschen; ohne Ausbildung eines
diffizilen, theoretisch
werdenden intellektuellen Instrumentarismus zur Deutung der Welt, in dem das Verhältnis zwischen Wort und Sache durch sorgfältige empirische Beobachtung reguliert wird – und ähnliches. Derartiges läßt sich nicht mehr durch pure Imitation, durch Mitleben und Teilnahme erlernen. Überhaupt werden jetzt
Lehren
und
Lernen
zu Schlüsselbegriffen. In der Einleitung zum berühmt gewordenen
Orbis pictus
schreibt Comenius:
Es ist, wie ihr sehet, ein kleines Büchlein: aber gleichwohl ein kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache
. Seitdem gehört es zum neuzeitlichen pädagogischen Habitus, daß wir den Kindern eine zweite, künstliche Welt konstruieren, in der gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeit nur repräsentiert, in der auf sie nur verwiesen wird. Auch in dieser pädagogischen Kunstwelt – Schulbanken, Curricula, die didaktischen Apparaturen unserer Kinderzimmer, Spielplätze, therapeutische Arrangements in Erziehungsheimen usw. – sind Erfahrungen möglich; aber wir müssen nun sehen, daß sie zu den anderen Erfahrungen in der Erwachsenen weit kategorial passen.
[104:16] Damit liegt der nächste Schritt, der nächste pädagogische Grundgedanke eigentlich schon auf der Hand: Wenn nicht mehr den Lebensformen selbst pädagogische motivbildende Kraft zugetraut wird und sich jene Welt von Künstlichkeit zwischen Lebensform und Kind schiebt, dann entsteht die Frage, wie denn unter solchen Bedingungen eine Motivation zu erzeugen sei, zumal ja nun möglichst viele, möglichst alle sich jenes abstrakte Abbild der Kultur aneignen sollen. Die Antriebe, die Möglichkeitsbedingung zur Bildung des Menschen, zum Lernen und zum Lernenwollen mußten also im Individuum selbst, nicht in seinen Umständen gesucht werden. Man mußte unterstellen, daß jeder in gleicher Weise bildbar war, zumal es ja gerecht zugehen sollte, niemand also durch Herkunft aus diesen oder jenen der ständischen Lebensformen vom Zugang zur allgemeinen Kultur ausgeschlossen werden |a 132|sollte. Das 18. Jahrhundert wählte zur Bezeichnung dieser Problemkonstellation die Ausdrücke
Bildungstrieb
und
Bildsamkeit
, um damit sowohl die Spontanitäts-Komponente als auch die Rezeptivitäts-Komponente hervorzuheben. Dies ist eine nicht nur historische, sondern zukunftsfähige Problembeschreibung insofern, als auch für die Zukunft, aus allgemeiner pädagogischer Verantwortung, unterstellt werden muß, daß es diesen Antrieb und diese Plastizität in jedem Menschen gibt, daß sich deshalb die Zuschreibung von unkorrigierbaren Begabungstypen verbietet, gleichviel, ob sie in der Form von psychologischen, kulturellen, rassistischen Urteilen ausgedrückt werden. Am Beispiel eines Sonderschülers hat der Schweizer Lehrer Jürg Jegge den gemeinten Sachverhalt in einer Geschichte so beschrieben, wie eine Theorie es kaum besser könnte:
[104:17]
So kam er zuguterletzt in die Sonderklasse, ein mißtrauischer, ängstlicher Bub, der mit
Autoritäten
(vor allem mit dem Vater) denkbar schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Nun werden auch seine
Rudereien
und seine Aggressionen mir gegenüber verständlich: An mir verarbeitete er seine gemachten schlechten Erfahrungen. In dem Maße, wie es mir gelang, nicht so zu reagieren, wie er es gewöhnt war, in dem Maße, wie es mir gelang, ihm zu zeigen, daß ich ihn trotz allem akzeptierte, kam es bei ihm langsam zu einem Abbau seiner Ängste. Und erst als dieser Angstabbau vollzogen war, waren bei Albert die Voraussetzungen für das Lesenlernen geschaffen. Dann allerdings ging’s rasch voran. Er hat in kurzer Zeit
aufgeholt
. [104:18] Bleibt noch nachzutragen, wie sich bei Albert die Bereitschaft zum Lesenlernen zum erstenmal ankündigte. [104:19] Ich diktierte einer Gruppe irgendeinen Text. Albi saß daneben und störte dauernd. Schließlich nahm er einen Zettel in die Hand und rief:
Ich schreibe auch mit.
Wenig später gab er mir den Zettel zur Korrektur. Eine Kuh war draufgeschmiert, daneben irgendein Gekritzel. Ich schrieb auf den Zettel: ALBI =LÖLI. Gespannt wartete ich. Würde er das lesen können? Er nahm den Zettel an sich und studierte ihn aufmerksam. Dann fragte er mich:
Wie schreibt man das Jegge-J?
Ich zeigte es ihm. Als ich das Blatt zurückerhielt, stand darauf: JEGE SAFSEKEL. Noch kaum je hat mich eine Schülerarbeit so gefreut wie dieses SAFSEKEL
(Jürg Jegge, 1977, S. 37 f.)
.
[104:20]
Lesen-Lernen
ist nicht irgendein beliebiges Beispiel. Es betrifft, wie wir aus den sogenannten Entwicklungsländern, besonders auch aus der Arbeit Paolo Freires in Brasilien, wissen, fundamental die Beteiligungs|a 133|chancen in modernen Demokratien. Der demokratische Diskurs ist literarisch. Wer sich beteiligen will, muß lesen können. Alphabetisierung, so technisch dieses Problem auch zunächst anmuten mag, hat von Anfang an die Mündigkeit des Bürgers im Blick. Lesen- und Schreibenkönnen (und heute vielleicht: einen Personal-Computer für eigene Interessen einsetzen können) symbolisiert oder instrumentiert ein Problem, das in seiner allgemeinsten Fassung, unter dem Erstdruck der bürgerlichen Revolution,
Selbsttätigkeit
genannt wurde. Damit ist ein Verhältnis der Generationen, das noch als Imition, als kindliche oder jugendliche Nachahmung der Kultur der Erwachsenen beschrieben werden könnte, endgültig verabschiedet.
Selbsttätigkeit
heißt nämlich, beispielsweise bei Fichte und den preußischen Erziehungsreformatoren zu Beginn des vorigen Jahrhunderts: die Fähigkeit, den jedem Menschen eingeborenen
Bildungstrieb
im Hinblick auf die Verbesserung des Gemeinwesens zur Geltung zu bringen! Genau dieser Gedanke ist es, der das Motiv darstellt für die von mir eingangs zitierte Formel Schleiermachers, es käme bei der Bildung der jungen Generation darauf an, sie zu befähigen, das bestehende Gute zu erhalten, im übrigen aber
mit Kraft
an der Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse sich zu beteiligen. Das ist – wie wir inzwischen wissen – eine pädagogische Aufgabe, die im Kinderzimmer beginnt und mit dem Abitur immer noch nicht endet. Es ist aber zumal und besonders eine solche Aufgabe, die eine skeptische Selbstkritik jeder pädagogischen Einflußnahme herausfordert. Das gesellschaftlich oder kulturell Verbesserungsbedürftige, das sind ja wir selbst, die Erwachsenen und die Welt, wie wir sie gemacht haben. Wenn also die von Schleiermacher und seinen neuhumanistischen Kollegen gewünschte Selbsttätigkeit, das vernunfts-geleitete Eingreifen also in die Verhältnisse des Gemeinwesens zum Zwecke seiner sittlichen Weiterbildung zu gerechteren Formen, auch künftig in der jungen Generation sich bilden soll – und ich wüßte kein Argument dagegen anzuführen –, dann kommt offensichtlich beim Dialog der Generationen alles darauf an, die Äußerungen jener Selbsttätigkeit zu respektieren und zu unterstützen.
[104:21] Diese vier hier nur knapp skizzierten Argumentationsfiguren zum Umgang der Generationen miteinander – eben das, was wir landläufig
Pädagogik
nennen – scheinen mir Vergangenheit und Zukunft zusammenzuhalten:
  • [104:22] Unsere eigene Lebensform muß, so gut wir es wissen und können, überliefernswert sein.
  • |a 134|
  • [104:23] Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird auch nächstens noch derart komplex bleiben, daß wir einer vereinfachenden pädagogischen Zeichenwelt bedürfen, die zwischen dem Kind und der Lebenswirklichkeit Erwachsener vermittelt.
  • [104:24] Wir müssen die Bildsamkeit jeden Kindes, ohne Ausnahmen unterstellen, um nicht vorschnell und leichtfertig in die Fehler zu verfallen, Kinder und Menschen nur deshalb von der Teilhabe an der ganzen und allgemeinen Kultur auszuschließen, weil sie mit geringen Chancen ins Leben getreten sind.
  • [104:25] Wir müssen schließlich alles daran setzen, daß Selbsttätigkeit und Kreativität sich nicht in privaten Zirkeln, in denen freilich auch
    Selbsterfahrung
    und
    Selbstverwirklichung
    viel gelten mögen, einkapseln, sondern zu Formen der öffentlichen Beteiligung gelangen, also zur Verbesserung der Verhältnisse beitragen.
[104:26] Das ist nun ein ziemlich bescheidenes Ergebnis, jedenfalls ist es nicht mehr, als die abendländische oder europäisch-neuzeitliche Geschichte der Pädagogik hergibt. Insofern sind diese Prinzipien konservativ – obwohl manch ein Bildungspolitiker unserer Tage, der sich selbst so versteht, ihnen vielleicht nicht beipflichtet. Er liebt vielleicht nicht gerade Descartes, Comenius, Diderot, Lessing, Kant, Schiller, Schleiermacher usw., sondern andere. Wen? Jedenfalls ich denke, daß diese Prinzipien – allerdings muß man sie alle zusammen deuten – den Grundkorpus an Argumentationen ausmachen, den wir, die Pädagogen, in die Erörterung einer verantwortbaren Zukunft einzubringen hätten.

3. Gegenwärtige Schwierigkeiten

[104:27] Blickt man nur mit diesem Ensemble von Problemstellungen auf das, was sich gegenwärtig andeutet, und zwar mit der Frage, was denn, über jenen traditionellen Bestand hinaus, in die Zukunft weisen, uns eine Erweiterung oder Veränderung pädagogischer Perspektiven abverlangen könnte, dann stellt sich das Panorama – ich wies eingangs schon darauf hin – ziemlich breit und differenziert dar, breiter und differenzierter jedenfalls, als in einem knappen Vortrag analysierbar. Ich beschränke mich deshalb auf die Skizze von drei Problemen, die vergleichsweise weniger öffentliche Aufmerksamkeit finden als Modernitäts-Anpassungen, curriculose Innovationen, Friedens- und Umwelt-Erziehung, neue Herausforderungen an Moral und Sittlichkeit, die |a 135|aber, so punktuell sie erscheinen mögen, elementare Fragen des Umgangs mit der jungen Generation betreffen, nämlich: Arbeit, Leibhaftigkeit und Ich-Irritationen ...

Bildung und Arbeit

[104:28] Wir haben es heute, in den westlichen kapitalistischen Ländern, mit einer Verschiebung der Frage nach dem Bildungssinn der Arbeit zu tun. Es fällt schwer, die gesellschaftliche Nützlichkeit von Arbeit ohne Umschweife mit einem Bildungssinn für den einzelnen Menschen zu verbinden. Die Welt der Arbeit kann nicht mehr, wie zur Zeit der frühbürgerlichen Stadtkultur oder der Industrialisierungsepoche, eine bessere Zukunft versprechen. Das gilt für die Zukunft unserer Gesellschaft wie für die Zukunft des einzelnen Lebenslaufs. Die Spuren der Arbeitswelt, ihrer Technik und Ökonomie und was sie uns an Künftigem versprechen könnte, finden wir heute am zuverlässigsten nicht mehr nur im Wohlstand und Gewerbefleiß, sondern auch in Arbeitslosigkeit und Vergiftung der Umwelt. Die paradiesischen Hoffnungen, die noch bei Jahrhundertbeginn die Phantasie der Futuristen beflügelten, liegen uns heute ferner als die Befürchtung, der Globus könne zur Ruine werden.
[104:29] Derartige Eindrücke erzeugen eine Stimmung, die sich vom gesellschaftlich geläufigen Typus von Arbeit zunehmend distanziert. Man könnte verführt sein, dies als pubertären oder adoleszenten Hedonismus zu denken. Ich halte eine solche Deutung für falsch, jedenfalls dort, wo es sich um pädagogisch relevante Entwürfe des Verhältnisses von Leben und Arbeit handelt: in den Freien Schulen, in Landkommunen, in alternativen und kollektiv betriebenen Werkstätten mit
sanfter Technologie
, in der Waldorf-Pädagogik, in Sekundarschulkonzeptionen, die Kopf- und Handarbeit und damit auch solche Schüler über längere Bildungszeiten hinweg zu integrieren versuchen, die vom herrschenden Typus unseres Bildungssystems immer noch frühzeitig ausgesondert werden. In Bemühungen dieser Art entdecke ich eine neue Suche nach der Antwort auf die Frage, ob das Verhältnis von Arbeit und Lebenssinn, von Kopf- und Handarbeit, von Produktivität und Rezeptivität, von Wissen und Handeln nicht doch eine fundamentale Bildungsbedeutung hat. Vor allem drei Merkmale sind es, die in solchen Versuchen, wie mir scheint, deutlich hervortreten:
  • [104:30] Der Begriff
    Arbeit
    wird vom System industrieller Erwerbsarbeit gleichsam abgekoppelt. Damit verliert das kapitalistisch-protestantische Arbeitsethos und mit ihm die hohe Bewertung lebenslang gleicher |a 136|Berufstätigkeit, die wohl ohnehin ihrem Ende entgegengehen, an Kraft. Von Bedeutung wird nun vorwiegend, daß es sich um Tätigkeit handelt, die als sinnvoll erfahrbar ist.
  • [104:31] Sinnvoll ist eine Arbeit oder Tätigkeit dann, wenn sie in einem überschaubaren
    Oikos
    lokalisiert ist.
    Selbstverwirklichung
    – um dieses modisch strapazierte Wort hier einmal zu verwenden – wird nicht von materieller, mühevoller und schweißtreibender Arbeit erwartet, sondern von
    vergesellschaftetem Tätigsein
    (Zimmerli), von
    lebendiger Arbeit
    (Negt), von einer Art der Tätigkeit also, die mit sinnorientierter Kommunikation verbunden ist – sei der Ort solcher Kommunikation nun ein Haushalt, eine Nachbarschaft, eine dem Leben geöffnete Schule, eine
    Alternativ
    -Werkstatt ... Etwas zugespitzt könnte man sagen: Schwarzarbeiter, Hausfrauen, Entwicklungshelfer, auf niedrigem materiellem Niveau tätige Kommunen, Drogen-Therapie-Einrichtungen, Windmühlen-Bauer sind die Vorhut einer neuen Arbeitsmoral, die der menschlichen Tätigkeit jenen Bildungssinn zurückgibt, den sie im Laufe der expandierenden Industriegesellschaft verloren hat.
  • [104:32] Das führt noch einmal auf die fundamentale Frage nach dem Verhältnis von Kopf- und Handarbeit zurück. Daß Kinder und Jugendliche etwas mit ihren Händen tun, daß sie Gelegenheit zu Tätigkeiten haben, durch die sie in die gegenständliche Welt gestaltend eingreifen, ist keine Marotte von Reformpädagogen oder Philanthropen. Es hat einen anthropologischen Sinn. Paläontologen belehren uns darüber, daß es in der Evolution unserer Gattung offenbar ein Wechselspiel gibt zwischen der sensumotorischen Tätigkeit der Hände und der Ausbildung des Zentralnervensystems. Und auch für die Ontogenese wird dem von Gehirn-Physiologen nicht widersprochen. Die Tätigkeit der Hände – über das Drücken von Knöpfen und das Führen von Kugelschreibern hinaus – ist für die Zukunft der Bildung unserer Kinder vielleicht wichtiger als diese oder jene Arbeits- und Leistungsmoral.

Bildung und Leibhaftigkeit

[104:33] Über den Leib gibt es nun freilich mehr zu sagen als nur, daß manuelle Tätigkeit mit Hand und Gehirn verbunden und wegen dieser Verbundenheit ein Bildungsthema ist. Seit mehreren Jahren schon wird, innerhalb und außerhalb der Pädagogik, die sogenannte
Wiederkehr des Körpers
diskutiert. Was ist das? Zunächst könnte man geneigt sein, dieses Thema einer der neo- oder paratherapeutischen Moden, den hedonistischen oder narzißtischen Fluchttendenzen zuzurechnen, einer |a 137|postmodernen Attitüde im pädagogischen Feld, die sich nun, da die technologisch-rationalistischen Engführungen unserer Kultur zweifelhaft, ungewiß und ungemütlich zu werden scheinen, den Gewißheiten des Leibes und seiner Gemütlichkeit zuwendet. Indessen: So einfach ist das Thema nicht. So suggestiv sich die Apologeten einer
neuen Sinnlichkeit
ins Spiel bringen, das Thema enthält Schwierigkeiten, die dem Thema
Arbeit
entgegengesetzt sind: Droht im Hinblick auf Arbeit eine Zukunftsunfähigkeit eher durch allzu strenge begriffliche Festlegung auf überlieferte Konzepte der bürgerlichen Gesellschaft, so kann man im Falle des Leibes und seiner Sinne eher sagen: Gerade die begriffliche Diffusität, der Mangel an Unterscheidungen, die fehlende oder nur in sentimentalen Rückgriffen bestehende Bezugnahme auf Geschichte erschweren eine Zukunftsperspektive.
[104:34] Dennoch aber dürfen wir aus solcher Herausforderung lernen. Das Thema nämlich – die Wiederentdeckung des Körpers oder die Sinnlichkeit des Menschen – formuliert ein Schuldensaldo der überlieferten Aufklärungskultur. Das allerdings hatte schon Schiller als die Aufgabe
ästhetischer Erziehung
, Karl Philipp Moritz als das psycho-physische Leiden des Kindes, der Maler Goya in seinen
Capriccios
als die Sprachlosigkeit der Vernunft in bezug auf ihren Leib angemahnt. Die pädagogische Behandlung des Themas im
Zögling Törleß
Robert Musils blieb für das öffentliche Bildungsdenken ohne Folgen. In diesen Jahrzehnten erst bricht es als Thema wieder auf, nun nicht mehr nur für eine bildungsbürgerliche Elite. Grund genug, das Thema ernstzunehmen, zumal es an die Leibhaftigkeit des delphischen Orakels, an seine vitalen Quellgründe und Irritationen erinnert.
[104:35] Aber ich will nicht von der Trieb-Natur des Kindes reden. Es ist ein merkwürdiger Sachverhalt, daß, obwohl der allseits und unverdrossen und immer wieder hochgelobte Friedrich Schiller die ästhetische Erziehung zum Kernstück einer an gesellschaftlichem Fortschritt interessierten Bildungsbemühung erklärte und seitdem keiner unserer Kulturminister ihm offen und ausdrücklich widerspricht, seit 200 Jahren die ästhetische Bildung nach wie vor ein Schattendasein führt. Es gibt sicher viele Gründe dafür. Einer liegt darin, daß die klassisch-neuhumanistische Bildungstheorie zwar einen utopischen, in die Zukunft weisenden Begriff einer freien und vernunftgemäßen Gesellschaft hatte, die in der ästhetischen Erfahrung, so Schiller, antizipiert werden könne; aber gerade dies stellte andererseits die Möglichkeit bereit, den schönen Schein als Ornament der nicht so schönen Wirklichkeit zu mißbrauchen. Ästhetische Erziehung ist in unserem Bildungsdenken ein solches |a 138|Ornament geblieben, das Adolf Loos schon am Jahrhundertbeginn für ein
Verbrechen
hielt.
[104:36] Seit einiger Zeit scheint sich die Lage zu ändern, und zwar von zwei Seiten her: In den Diskussionen zur Reform des Curriculums – und das ist ja für den herrschenden Begriff von Bildung immer ein signifikanter Testfall – ist seit mehr als 10 Jahren schon eine Ausweitung und Akzentuierung der ästhetischen Bildungsaufgaben zu beobachten. Dem entspricht auch in der Wissenschaft eine neue, breite, über Fachgrenzen hinausgehende Erörterung von Problemen der ästhetischen Theorie, so als sei die Art der künstlerischen Produktivität der Gegenwart der interessanteste Testfall für die Zukunftsfähigkeit unserer kulturellen Bestände. Dem scheint – auf den ersten Blick und gleichsam am anderen, nicht-theoretischen Ende der Problemskala – die schon erwähnte neue Vorliebe für Körper- und Leiberfahrungen, häufig auch etwas undifferenziert
Sinnlichkeit
genannt, zu entsprechen: eine Konzentration auf das Hier und Jetzt des mir gegebenen Leibes, sein Verhältnis zum Seelischen, das Erfahren oder Spüren des je eigenen Selbst, die besondere Aufmerksamkeit für die Nahsinne. Das alles wird, bisweilen subtil, inszeniert in Gruppendynamik, Encounter-Übungen, Selbsterfahrungs-Seminaren, Meditation, hinterläßt seine Spuren in den vielen Varianten von ästhetischer Alltagsproduktion bis zur Kunst-Therapie einerseits und zu den bisweilen die Sprachlosigkeit der primären Sinnesempfindungen zum Thema machenden theatralischen Inszenierungen andererseits.
[104:37] So unbezweifelbar sich in derartigen Erscheinungen Neues ankündigt: Warnungen erscheinen mir angebracht – wenn es um Konsequenzen für Erziehung und Bildung gehen soll. Die curriculare Dimension der ästhetischen Bildung wurde ziemlich rasch dem Begriff der Kommunikation zugeschlagen: Sprechen, Hören, Sehen, Sich-Bewegen, Tasten – alles galt als Kommunikation; Kunstunterricht gar sollte fortan
visuelle Kommunikation
heißen. In dieser Umbenennung aber wird das Problem verschenkt, vergeudet, vernichtet. Freilich gibt es auch eine
Ästhetik
des Waren-Marktes, der Werbung, der politischen Inszenierung innerhalb und außerhalb der Staatsgewalt, in öffentlicher und privater Kommunikation. Aber die Eigentümlichkeit ästhetischen Urteilens und ästhetischen Hervorbringens geht in solcher Perspekte verloren. Soll die ästhetische Seite unserer Leib-Existenz für die Bildungsaufgaben wirklich zukunftsfähig sein, dann – so scheint mir – ist es nützlich, sich an Kant und Schiller zu erinnern, oder an die im Hinblick auf die Leibhaftigkeit unserer Existenz exponierten Produkte Goyas, |a 139|van Goghs, Francis Bacons oder Arnulf Rainers, die beides zugleich herausfordern: Empfindung und Urteil.
[104:38] Die Nivellierung ästhetischer Problemstellungen zur Seite der Kommunikation hin ist die eine, ihre Nivellierung zur bloßen subjektiven Empfindung hin die andere Gefahr. So richtig es ist, den Ausgang jeder Art von Bildung bei der Leibhaftigkeit des Menschen zu suchen, so problematisch scheint mir der Egozentrismus der
neuen Sinnlichkeit
zu sein. Die anthropologisch gegebene Dialektik von Fern- und Nahsinnen (Auge und Ohr versus Getast, Geruch usw.) setzt ja gerade dem Hier und Jetzt der Nahsinne das Dort und Dann der Fernsinne entgegen (durch das in die Ferne blickende Auge und durch das vergangene und erwartete Töne ins Verhältnis bringende Ohr). Das ist der Grund dafür, daß sich aus den Nahsinnen keine großen Künste entwickelt haben. Und eben dies ist unmittelbar bedeutsam für bildungstheoretische Fragen. Bildung ist immer – jedenfalls so lange wir an ihrem Begriff festhalten – ein dynamischer Vorgang in Raum und Zeit. Er nimmt zwar im Hier und Jetzt, bei diesem meinem Leib und seinen unmittelbaren Empfindungen, seinen Anfang, aber er wäre keine Bildung, wenn er diese Leibgrenzen nicht transzendieren würde. Ästhetische Erziehung, wenn sie nicht in Kommunikation verflachen oder in nostalgischer Leibzentriertheit verkümmern will, hätte nur in derartiger kritischer Perspektive eine Zukunft.

Die Irritation des Ichs

[104:39] Das nun hat etwas mit dem zu tun, was wir uns als unser
Ich
vorstellen. Die traditionelle Bildungstheorie hatte damit keine besonders großen Schwierigkeiten. Sie konnte sich darauf verlassen, daß die räumliche Umwelt menschenfreundlich bleiben, die geschichtliche Zukunft besser werden würde. Die Autobiographien des 15. bis 19. Jahrhunderts lesen sich zwar nicht wie pure Erfolgsmeldungen, aber sie zeigen doch, daß das frühbürgerliche Ich sich in den Dimensionen Raum und Zeit zuverlässig entwerfen konnte.
[104:40] Seit der Literatur von Baudelaire und Nietzsche, den Bildern van Goghs und Francis Bacons und der Musik Weberns ist das anders. Die Bildungstheorie hat zwar einige Jahrzehnte lang sich mit dem Verlegenheitsbegriff
Identität
aus derartigen Krisen herauszuhalten versucht. Zwar wurden vielerlei Identitäts-Probleme gemacht, die wir mit uns und besonders die Jugendlichen mit sich haben; der Taschenbuchmarkt zu dieser Frage ist kaum noch zu überschauen. Aber: Daß der Heranwach|a 140|sende in irgendeiner Weise mit sich (Was ist das?) und seinen Bezugspersonen übereinstimmen solle, bleibt die scheinbar zweifelsfreie Unterstellung. Warum eigentlich?
[104:41] Von den noch behutsam vorgetragenen Destruktionsphantasien Rousseaus bis zu den Jugendkrawallen unserer Tage zieht sich deshalb die Linie einer Zerstörungsmetapher, die das Ich aus allen relevanten sozialen Bezügen herauslöst und schließlich auch die punktuellen Gewißheiten dieses Ichs selbst ergreift. Sozialgeschichtlich konkret beginnt diese Bewegung im Proletariat des 19. Jahrhunderts: räumlich von den neuen Industriezentren abhängig und zeitlich-zukünftig auf bloße Lohnarbeit angewiesen, schien ein befriedigender Ich-Entwurf nur als revolutionäre Zukunft möglich zu sein. Inzwischen hat sich diese Lage weit über die Ränder der sozialen Bewegungen hinaus verbreitert. Nur daß heute selbst die revolutionäre Utopie uns nicht mehr als bessere Alternative erscheint. Mit dem Verzicht auf produktive Erwartung würde allerdings dem traditionellen Bildungsdenken der Boden entzogen: Bildung nämlich – so glaubten wir, und so haben wir von Fichte, Humboldt und Schleiermacher, auch noch von der Reformbewegung des Jahrhundertbeginns gelernt – ist als dynamisches Geschehen in der Zeit davon abhängig, daß das bildende Ich sich als neue Möglichkeit in die Zukunft hineindenkt – einer der Kerngedanken im Werk Robert Musils übrigens. Ein kulturelles Klima, daß Veränderungen in der Zeit nicht mehr erkennen, neue Möglichkeiten nicht mehr denken läßt, vernichtet nicht nur substantielle Vorstellungen unserer gesellschaftlichen Zukunft, sondern nimmt, auf der Ebene des einzelnen jungen Menschen, seiner Bildungsbewegung jeden Sinn. Es bleibt dann nur noch: Ich, hier, jetzt.
[104:42] Unter solchen Umständen ist es eigentlich gar nicht besonders erstaunlich, wenn die Ich-Entwürfe sich zunehmend auf die eigenen Leiberfahrungen konzentrieren (sei es in der Selbsterfahrung des bloßen Steinewerfens, der Meditationsübung, des sentimental-ästhetischen Augenblicksgenusses) und sich aus den sozialen Beziehungen, die auch zukünftige Zuverlässigkeit erheischen, eher heraushalten (tauschbare Kontakte, wechselnde Bezugsgruppen, vermiedene Verpflichtungen). Was gilt, ist dann nur noch die Echtheit, die Authentizität der Selbstdarstellung, das augenblickliche Spüren meines Selbst, die Gewißheit, daß ich, trotz allem, wenigstens noch lebendig bin.
[104:43] Aber was heißt
lebendig
? Vielleicht liegt hier die schwierige Herausforderung unseres Bildungsdenkens.
Lebendig
nennen wir solche |a 141|Phänomene oder Ereignisse, denen eine Möglichkeit innewohnt; das unterscheidet den Samen vom Stein. Auf die menschliche Kultur angewandt, hieße das: Nur eine solche Kultur, eine solche Schule können wir lebendig nennen, die über ihren gegenwärtigen Zustand hinaus eine Bewegung in die Zukunft hinein zu entwerfen vermag. Dem entspricht die individuelle Bildungsbewegung des Kindes. Ohne Vorgriffe auf seine lebensgeschichtliche Zukunft würde es zwar auch
Ich
sagen. Aber was für ein Ich wäre das, das nur noch sich selbst empfindet und darüber hinaus vielleicht nur noch seine verschiedenartigen Funktionsweisen in diesen oder jenen gesellschaftlichen Kontexten?
[104:44] Hier liegen die Grenzen meines Vorstellungsvermögens. Zugleich sind es aber auch Grenzen einer noch als lebendig denkbaren gesellschaftlichen Formation. Das Individuum kann, auf Dauer, nicht aus sich heraus erschaffen, wofür es in der Gesellschaft keinen Rückhalt gibt. In einer Gesellschaft, die partout so bleiben will, wie sie ist, und sei es um den Preis der Selbstzerstörung, gibt es für Bildungstheorie, für Pädagogik keine Chance mehr. Es wäre dann aufrichtiger, sie umzubenennen, beispielsweise in
Adaptions-Strategien
, an was auch immer das Kind dabei angepaßt werden soll. Auch in dieser Frage also bin ich entschieden konservativ. Ich mag nicht die Idee aufgeben, daß, um zu einer befriedigenden lebenslangen Existenz zu gelangen, dreierlei notwendig ist: eine Selbstlokalisierung im sozialen Raum, in verbindlichen Beziehungen also, ein Ich-Projekt im Bezug auf eine bessere Zukunft, und ein wahrhaftiges Selbstverhältnis. In Shakespeares
Hamlet
sagt Polonius, als er seinen Sohn verabschiedet:
Dies über alles: sei dir selber treu. / Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage, / Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.
Ludwig Wittgenstein hat, ohne sich auf Shakespeares hervorragende Formel zu beziehen, den gleichen Gedanken gedacht. Er notierte:
Sich über sich selbst belügen, sich über die eigene Unechtheit belügen, muß einen schlimmen Einfluß auf den Stil haben, denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht Echtes von Falschem unterscheiden kann ... Wer sich selbst nicht kennen will, der schreibt eine Art Betrug.
Inwiefern darin nicht einfach eine ältere Tradition fortgesetzt, sondern dem Bildungsbegriff auch ein anderes Verhältnis zur geschichtlichen Zeit zugemutet wird, deutet sich in einer fast gleichzeitig geschriebenen Passage Walter Benjamins an, der diesen Gedanken gleichsam weiterdenkt in der Vorstellung vom
destruktiven Charakter
:
Weil er (der destruktive Charakter, Anm. d. Hrsg.) überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg. Kein Augen|a 142|blick kann wissen, was der nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.