[110:1] Im Jahre 480 vor unserer Zeitrechnung – so jedenfalls erzählt es
Herodot – erschienen die
Kundschafter Athens beim Orakel von Delphi und baten um eine Weissagung für
die bevorstehende kriegerische Auseinandersetzung mit den Persern. Die
Weissagung fällt unerfreulich aus (
„Nicht das Haupt bleibt ganz, noch der Leib, noch
die Füße,/auch nicht die Hände, noch bleibt ein Stück in der Mitte
des Rumpfes,/übrig, sondern vernichtet wird alles“
).
„Als das die Gotteskundschafter hörten, ergriff sie
tiefe Trauer“
; sie kehrten noch einmal zum Orakel zurück und baten
„um einen besseren Spruch“
. Der nun ist zwar nicht mehr so niederdrückend, dafür aber
vieldeutig. Auf einer großen Versammlung in Athen begann deshalb eine
umständliche Diskussion mit der Frage, wie er auszulegen sei. Wie man weiß,
hatten die Athener Glück mit ihrer Auslegung: Sie vertrauten auf die Schiffe
und gewannen die Schlacht bei Salamis.
[110:2] Diese Geschichte ist eine der Geburtsurkunden des europäischen
Nachdenkens über Bildung und Erziehung, und zwar in mehreren Hinsichten: Die
Quelle der Mehrdeutigkeit des Orakelspruchs ist im Arrangement
der Orakel-Prozedur symbolisiert, wo nämlich die Pythia, während der
Befragung, auf einem Dreifuß über einem Erdspalt sitzt, aus dem Dämpfe
aufsteigen; derart den Kräften der Erde, der vitalen Tiefe ausgesetzt, ist
das Heiligtum aber andererseits Apollon geweiht, dem licht- und maßvollen Gott; dieser Gegensatz
erzeugt eine schwer deutbare Rede. Er erzeugt aber auch, bei den Athenern,
einen Akt der Emanzipation: statt sich auf das Walten der
Gottheiten zu verlassen, müssen sie nun ihre eigene Auslegungsarbeit ins
Spiel bringen, eine praktische Urteilsfähigkeit ausbilden; hätten
sie die Schlacht bei Salamis verloren, dann hätten sie, nach diesem
Arrangement, nicht dem Orakel die Schuld geben können, sondern nur dem
Versagen ih|a 130|rer eigenen Auslegungskraft; sie selbst
also sind verantwortlich. Wer das akzeptiert, muß sich zunächst der eigenen
Bestände versichern, die Mehrdeutigkeit des Orakelspruchs fordert geradezu
diese selbstreflexive Bewegung heraus, da dessen Auslegung nun von nichts
anderem mehr abhängt als von der eigenen Vernunfttätigkeit. Deshalb stand
über dem Tempeleingang von Delphi der Satz:
[110:3] Das delphische Orakel enthielt freilich kein Erziehungsprogramm; es
war eine staatstragende politische Einrichtung; in Herodots Version aber auch eine Institution der
Selbstaufklärung der Erwachsenen. Zwischen diesen
Selbstaufklärungsbemühungen einerseits und dem, was in der pädagogischen
Wirklichkeit der Fall war, blieb zumeist, in der europäischen Geschichte,
eine große Distanz. Die Weisen des Umgangs mit der nachwachsenden Generation
orientierten sich an einer Technik des Alltagshandelns, aus der theologische
oder philosophische Selbstzweifel ausgespart blieben. Gelegentlich gab es
Ausnahmen, wie Augustinus zum
Beispiel, der die autobiographische Erinnerung an seine Kindheit zum Anlaß
nahm, an die Frage nach der Entwicklung/Bildung des Kindes die
philosophischen Themen der Selbstaufklärung Erwachsener zu knüpfen; oder im
Hochmittelalter manche Franziskaner-Prediger oder der Mönch Salimbene, der das
„fröhliche Gesichterschneiden“
und
„Händepatschen“
der Kinder als einen eigenständigen Seinsmodus des
Kindes beschreibt, der zerstört würde, wenn das Kind zu einem Objekt von
Manipulationen der Erwachsenen gemacht werde – wie es, in besonders extremer
Form, bei den berüchtigten Kinderexperimenten Friedrichs II. geschehen sei. In der Regel aber
blieb die Sphäre der Selbstreflexion der Erwachsenen, ihr Nachdenken über
Sinn und Perspektive des Lebens, ihr Suchen nach den Gründen zuverlässiger
Wahrheit, von der Sphäre des Pädagogischen getrennt. Man darf sogar
bezweifeln, ob das Pädagogische als eine besondere Sphäre der Praxis
überhaupt wahrgenommen wurde, die der gleichen nachdenklichen Aufmerksamkeit
bedürfen könnte wie die Welt der Erwachsenen. Wie ein signifikantes Symptom
dafür wirkt die Tatsache, daß Descartes, Rembrandt und Comenius, zur gleichen Zeit in Amsterdam lebend,
sich, wie es scheint, nichts zu sagen hatten. Der Philosoph (Descartes) und der Pädagoge
(Comenius) hatten ein
bezeugtes, langes nächtliches Gespräch miteinander und trennten sich
frustriert.
|a 131|
[110:4] Diese Situation änderte sich, scheinbar, als, jedenfalls in der
Sphäre des Denkens, mit dem deutschen Wort
„Bildung“
hervorgehoben wurde, was Kinder mit Erwachsenen verband, was sie gemeinsam
hätten. 1781
wählte der Göttinger Mediziner Blumenbach den Ausdruck
„Bildungstrieb“
, um
zu sagen, daß jedem Organismus eine
, ein
„lebenslang thätiger würksamer Trieb“
innewohne, der die individuelle Gestalt des lebendigen Wesens
hervorbringe und weiterentwickele. Dieser auch schon vor Blumenbach gedachte und von
pädagogischen Autoren rasch aufgegriffene Gedanke konstruiert eine
Kontinuität zwischen Kind und Erwachsenem: beide unterliegen prinzipiell den
gleichen Regeln. Pädagogische Autorität, beispielsweise, kann, folgt man
diesem Gedanken, nicht mehr durch ein Gewaltverhältnis zwischen Erwachsenen
und Kindern begründet werden, sondern nur durch die Unterordnung unter die
Gesetze dieser Bildebewegung.
[110:5] Aber das blieb Theorie, ebenso wie die daran anschließende
Vergöttlichung des Kindes in der Romantik, eine Art Selbstreflexion des
Erwachsenen im Medium des Kindheits-Bildes. Der pädagogische Alltag in
Schule und Familie wurde von derartigen Reflexionen in der Regel nicht
erreicht. Hier standen auf der Tagesordnung der
pädagogisch-gesellschaftlichen Praxis andere Themen:
„Industriösität“
, gewerbliches Können also und die dazu gehörenden
Tugenden, vor allem aber die Alphabetisierung der Massen. War früher
Erziehung vor allem Pflege des Kindes und dann, spätestens vom 7. Lebensjahr
ab, dessen Teilnahme am Leben der Erwachsenen, so bedeutet Erziehung nun,
daß das Kind zum Lernen angehalten wird. Die pädagogische
Ratgeber-Literatur von Eltern ist voll von Ermahnungen, nur ja keine
Situation für das Lernen zu versäumen; es wimmelt von Bildern über das Leben
von Kindern – die Maler der Romantik ausgenommen –, auf denen das Kind
beständig mit irgendwelchen Lernaufgaben konfrontiert ist; zum ersten Mal
entsteht eine didaktische Massenproduktion von Kinderspielzeug das nun – als
gleichsam der erziehende Dritte – die Familienwohnungen bevölkert; die
Wohnungen wiederum, freilich zunächst erst im städtischen Bürgertum
aufgeteilt nach Generation und Geschlecht, bekommen, anstelle von Diele oder
Halle, einen Flur. Praktisch bedeutet
„Erziehung“
nun
offensichtlich: ein kalkulierbarer, in seinen Effekten progno|a 132|stizierbarer, an gesellschaftlich verwertbaren Lernresultaten
orientierter Umgang mit der jungen Generation.
[110:6] In dieser Situation, die Anfänge dieser Entwicklung gerade
beobachtend und den Fortgang der Geschichte offenbar ahnend, fragte der
Theologe, Philosoph und Pädagoge Schleiermacher 1826:
„Was will denn
eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“
Das ist, bedenkt man es genau, eine bemerkenswerte Frage.
Offensichtlich wollte er die von ihm beobachtete Trennung des Diskurses der
Erwachsenen von den trivialen Techniken im erzieherischen Umgang mit Kindern
durchbrechen. Erst wenn geklärt ist – so muß man seine Frage verstehen –
nicht nur, was Erwachsene faktisch mit ihren Kindern wollen,
sondern was sie vernünftigerweise berechtigt sein können zu wollen, wenn
also der Wille der älteren Generation einer peinlichen Selbstprüfung
unterzogen wurde, dann kann er, sofern bei dieser Prüfung etwas Vernünftiges
übrig bleibt, zum Ausgangspunkt der Gestaltung von Erziehungsverhältnissen
gewählt werden. Die von mir eingangs referierte Geschichte des delphischen
Orakels erreicht hier, wenigstens im kritischen Denken, den
Erziehungsalltag.
„Erkenne dich
selbst“
und
„gebrauche deine Vernunftkräfte, um das, was
gesellschaftlich geschieht, lebensdienlich auszulegen“
, diese Aufforderungen bilden nun, nach Schleiermacher, die neue Plattform, den
Ausgangspunkt für alles, was die Gestaltung pädagogischer Praxis
betrifft.
[110:7] Dem 19. Jahrhundert blieb der Sinn dieser
Frage noch verschlossen. Schleiermacher blieb in dieser Frage eine Randfigur. Die sich
rasch entwickelnde Psychologie, später dann vor allem die Lerntheorie,
übernehmen – wenn ich so sagen darf – Führungspositionen; denn sie
versprachen, ja sagen zu können, wie man's macht; ob das,
was man will, vernünftig genannt werden darf, blieb im
Hintergrund. Das konnte sich auf ein jahrhundertealtes Vertrauen berufen:
das Vertrauen, daß die Zukunft zum Besseren hin offenstünde. Dieser
Optimismus beflügelte schon die Erziehungs- und Bildungsreformer der frühen
Neuzeit in Renaissance und Reformation. Eine zwar gelegentlich schwer zu
erarbeitende, durch Lernen indessen vorzubereitende, im ganzen aber doch
zuverlässige Zukunft gab aller Erziehungs- und Bildungspraxis ihren Sinn.
Die Zukunft schien offen, die materiellen Ressourcen der natürlichen Umwelt
unerschöpflich, die physischen und psychischen Kräfte beliebig ausbeutbar.
Gegen Ende des Jahrhunderts werden Zweifel angemeldet in Basel und Sils
Maria, dann vor allem in Wien, später in Zürich und Berlin. Das Verständnis
von Erziehung, zumal ihre Praxis, wird davon erst auf Umwegen und spät
erreicht. Heute jedoch verstehen wir Schleiermachers damals unzeitgemäße Frage besser. Der
zuversichtliche Glaube an die Fortsetzungsfähigkeit des europäischen
Erziehungsprojekts ist nicht mehr so gewiß.
|a 133|
[110:8] Über Jahrhunderte hinweg haben wir uns daran gewöhnt, daß die
Vorgänge, die wir Erziehung und Bildung nennen, nicht nur als zyklische
Ereignisse innerhalb der Wiederkehr erneuerten Lebens gedeutet werden,
sondern daß sie in die Bewegungen der Geschichte eingebettet sind, daß in
ihnen gesellschaftliche Zukunft antizipiert wird. Gerade diese
Antizipationen der möglichen Kultur von morgen waren es, die dem
pädagogischen Handeln Motiv und Kraft verliehen, Entbehrungen,
„deferred gratification patterns“
, so
sogar Repressionen vernünftig erscheinen ließen. Ich bin nicht sicher, ob es
der Langzeitwirkung des Chocs zweier Weltkriege bedurft hätte, um diese
Basis des Pädagogischen zu erschüttern. Schließlich hatten Nietzsche und Freud schon vorher geschrieben,
Baudelaire und Kafka schon vorher gedichtet,
Schiele und Beckmann schon vorher gemalt.
Diese Zeichen erreichen die Pädagogik erst heute – mit der üblichen
Verspätung, dadurch aber auch mit der kräftigen Unterstützung des
offensichtlichen gesellschaftlichen Geschehens.
[110:9] In einer solchen Situation – hier natürlich nur durch wenige
Stichworte angedeutet – ist es gleichsam naturgemäß, wenn auch das
pädagogische Handeln sich erneut in einer selbstkritischen Bewegung
umzuorientieren versucht. Schleiermachers Frage nimmt eine neue Bedeutung an: Ist die
Klärung des auf Zukunft gerichteten Wollens der älteren Generation noch
sinnvoll, oder ist nicht vielmehr eben diese Richtung des Wollens
revisionsbedürftig? In dieser Lage, ähnlich wie im 18. Jahrhundert,
versuchen viele, noch einmal an die Quellgründe jeder Bildung des Menschen
heranzukommen, das Verhältnis, in dem die Generationen zueinander stehen
oder stehen sollten, neu zu bedenken. Diese Lage ist wie geschaffen für neue
Mythenbildungen, mindestens aber für die skeptische Frage, ob es so etwas
wie einen linearen Fortschritt geben könnte.
[110:10] Mehrere Erscheinungen unserer pädagogischen Gegenwartskultur
interpretiere ich in diesem Zusammenhang:
-
(1)
[110:11] Schon seit längerem ist eine eigentümliche Grenzverwischung
zwischen Erziehung und Therapie zu beobachten. Einerseits suchen – ein
scheinbar ganz triviales Datum – immer mehr Pädagogen – therapeutische
oder paratherapeutische Zusatzausbildungen auf, suchen Weiterbildung und
leiblich-seelische Selbsterfahrungen auf einem Markt, der zwischen
professioneller Therapie |a 134|und quasi-religiösen
Angeboten ein nuancenreiches Panorama entfaltet hat. Dies ist die andere
Seite der Sache: die professionelle Therapie hat, in allmählichen
Schritten der Distanzierung von ihren orthodoxen Formen, ein großes
Spektrum von Varianten hervorgebracht, die, in vielen ihrer Anläufe,
sich den Formen der Alltagskommunikation annähert. Über die
geschichtliche Motiv-Struktur, die solchen Erscheinungen zugrunde liegt,
kann ich hier nur Vermutungen anstellen. Meine Hypothese ist diese: ein
schleichender Legitimitätsverlust der überlieferten pädagogischen
Institutionen auf der einen Seite, und ein Vergeblichkeitsgefühl der
professionalisierten Erzieher und Lehrer angesichts des psychischen
Habitus der jungen Generation und der auch für Erwachsene mager
werdenden Zukunftsperspektive erzeugen eine Konzentration auf
„Gegenwart“
; da spielt denn die Differenz zwischen
Erziehung und Therapie eine geringer werdende Rolle; die
Generationen-Differenz beginnt sich einzuebnen.
-
(2)
[110:12] Genau dies wird ausgesprochen, und zwar offensiv, in
demjenigen Sektor pädagogischer Diskussionen, der sich
„Antipädagogik“
nennt. Der große Erfolg der Bücher von Alice Miller, gerade unter
Pädagogen, ist, wie mir scheint, darauf zurückzuführen, daß hier auf
eine Art Abrechnung mit dem neueuropäischen Erziehungsbegriff und den
ihm korrespondierenden Praktiken der Entwurf einer neuen,
geschichtslosen Moral des Umgangs mit dem Kinde folgt. Einfühlen,
Verstehen, Unterstützen sind deren entscheidende Kategorien. Die Frage
Schleiermachers wird
liquidiert: nicht was die ältere Generation mit der jüngeren
„will“
, darf
Ausgangspunkt für die Bestimmung von Problemen des
Generationenverhältnisses sein, sondern: wie gelingt es mir, mein
eigenes Wollen auszulöschen, um in verständiger Kommunikation mit dem
Kinde dessen selbständige
„Bedürfnis“
-Bildung zu
ermöglichen! Eine solche Wendung der pädagogischen Ausgangsfrage ist –
kulturdiagnostisch gesehen – ziemlich zeitgemäß: Treten an die Stelle
des
„Wollens“
die
„Bedürfnisse“
,
dann tritt auch an die Stelle geschichtlicher Verantwortung die nur noch
psychologische. Wenn ich, als Erwachsener, in meinem geschichtlichen
Wollen gelähmt bin – sei es, weil ich, angesichts der Lage, zu keinem
Zukunftsentwurf mehr fähig bin, sei es, weil ich weiß oder wissen kann,
daß all mein pädagogisches Wollen nichts als eine Instrumentalisierung
des Kindes im Dienste meiner eigenen Be|a 135|dürfnisse
sein könnte – wenn also Derartiges stattfindet, dann verblaßt die
Geschichte, und sei es Auschwitz, zur Projektion von
„Bedürfnissen“
oder Verlängerung von
„Interessen“
. Zwischen beiden wird
„vernünftiges
Wollen“
gleichsam in seinem Sinn zerrieben. Pädagogische Moral,
in dieser Perspektive, wird reduziert auf die Bedingungen
„Ich-Du-hier-jetzt“
.
-
(3)
[110:13] Wenn nun schon das historische Ganze undurchsichtig und
eine pädagogische Moralität zwischen (historisch) Gewolltem und
(antizipierendem) Wollen zweifelhaft wird: gibt es dann vielleicht nicht
doch noch Orientierungsdaten jenseits des aktuellen kommunikativen
Geschehens? C.G. Jung verspricht Hilfe in dieser Frage, aber nicht
nur er! Es ist bemerkenswert, welche Anziehungskraft derzeit alle
Hinweise auf Mythisches, Archaisches, Archetypisches haben. Die
Jung-Renaissance ist da nur ein Symptom unter vielen anderen. Naturgemäß
bleibt die Schule von derartigen Tendenzen noch relativ unberührt.
Überall dort aber, wo Bildungserwartungen, formelle Lernwege,
gesellschaftliche Karrieren weniger streng den pädagogischen Habitus
definieren, zieht – wenn ich recht sehe – allmählich die Suche nach
anthropologischen Urgründen ein und verändert die Gestalt der
Generationen-Beziehung. Das
„systemische“
Verständnis
von Familienkommunikation beispielsweise, zunächst als ein zweckmäßiges
Konstrukt der Familientherapie entworfen, ist von Gregory Bateson zu einer
ökologischen Ethik hin weitergedacht worden, in der die pädagogische
Komponente der Generationen-Beziehung nur noch ein winziges Element ist.
Interpretieren Lehrer, Erzieher, Eltern sich in diesem Rahmen, dann
verschwindet eine Perspektive, in der sich der Erwachsene noch als der
Macher oder Hersteller der Bildung des Kindes verstehen kann. Kinder und
Erwachsene werden zu Momenten einer großen kosmischen oder, weniger
anspruchsvoll, evolutionären Bewegung der Gattung – der Rückgang hinter
die Anfänge der neuzeitlichen Geschichte liegt nahe. Nicht nur in der
Literatur, auch im Erziehungsalltag gibt es Anzeichen in dieser
Richtung, die, wenngleich statistisch geringfügig, Umorientierungen
andeuten: immer mehr Kleinstkinder werden im Tragebeutel statt im
Kinderwagen spazieren geführt; Väter beginnen, ihren traditionellen
Männlichkeits-Habitus zu revidieren; Frauen entdecken die im Patriarchat
entgegengesetzten, wenigstens aber differierenden archaischen Mythen;
Kinder neh|a 136|men an Friedensdemonstrationen teil;
die anthroposophische Waldorf-Pädagogik, an platonischen Ideen und Goethes organismischer
Lehre von den
„Metamorphosen“
interessiert, gewinnt
Zulauf; der Mittelstand sucht, wenn es irgend geht, Fachwerkhäuser als
architektonisches Familienmilieu auf.
[110:14] Was sich in derartigen Zeichen ankündigt, ist mehr als ein nur
pädagogischer Vorgang. Auf der
„Documenta“
in Kassel konnte man, neben anderem Ähnlichen, die großen, wie Altartafeln ausgestellten Bilder von Robert
Morris sehen, auf Aluminiumplatten kopierte Fotografien der
Leichenberge von Auschwitz, mit Wachsfarben übermalt, altmeisterlich der
Eindruck aus der richtigen Distanz, kein Detail mehr erkennbar, wenn man
nicht ganz dicht heranging, in monumentalen Rahmen, aber diese, sieht man
genau hin, Abdrücke von zerstörten Leibern, darüber – wo die christliche
Malerei früher die Gesten Gottes darstellte – der Kunststoff-Guß einer
überhängenden Felsenwand. Eine archaische Höhle das Ganze, in der das
einzelne, einzigartige historische Ereignis in eine mythische Erinnerung
abgesenkt wird, in ästhetisch höchst subtiler Komposition. Die Botschaft ist
doppeldeutig: Kritik der Moderne, die Auschwitz möglich machte, und
Affirmation dadurch, daß dieses bestimmte und nach wie vor zu verantwortende
Ereignis nun in die Ferne einer archaischen Figur gerückt wird. Aus dieser
Ferne erst – so verstehe ich die Mitteilung dieser Bilder – erschließt sich
das, was für uns überlebensnotwendig ist. Ins Feld der Erziehung übertragen
– nur erscheint es dort, im Alltagsgewand, weniger monumental – bedeutet
das: Zurück zu den einfachen Lebenstatsachen im Verhältnis der Generationen,
zur (angeblichen) Universalität des menschlichen Leibes und seiner
Ausdrucksgesten, zur ursprünglichen Gemeinsamkeit der Lebenswelten von
Erwachsenen und Kindern, zu den Regeln menschlicher Kommunikation; vor allem
aber: weg von der so gar nicht dazu passenden Frage Schleiermachers:
„Was will denn eigentlich
die erwachsene Generation mit der jüngeren?“
[110:15] Es gab, seit dem 17. Jahrhundert bis weit ins 20. hinein, für die
Tätigkeit des Erziehers die Gärtner-Metapher. In dieser Metapher war
unstrittig, daß die erzieherische Tätigkeit darin bestünde, den Wuchs der
jungen Pflanzen nicht nur zu befördern, sondern auch in Gestalt und
Richtung, in Ausbreitung und Anordnung zu allen anderen zu lenken, um
Ordnung und Vernunft des Ganzen zu sichern (Schleiermachers Frage gehört in den Umkreis
dieser Meta|a 137|pher). Diese Metapher hat inzwischen an
Überzeugungskraft eingebüßt (obwohl wir immer noch von
„Kindergärten“
sprechen). An ihre Stelle scheint mir heute eine
andere zu treten, die weniger mit dem Gärtner, dafür um so mehr mit der
Düngemittel-Industrie zu tun hat: Erziehung, wenn denn dieser Ausdruck
überhaupt noch salonfähig sein sollte, ist höchstens eine lebensdienliche
Bereitung des Bodens, auf dem die Pflanzen wachsen können (sollen?); die
Kommunikation untereinander (dies ist übrigens keine Metapher,
sondern die Benennung eines biologischen Sachverhaltes) werden sie dann
schon aufnehmen und regulieren; wenn der mythisch-archaische Grund in
Ordnung ist, kann das Folgende nicht vernunftwidrig sein; je behutsamer die
Industrie, wenn überhaupt, eingreift, um so besser; es gibt, nach dieser
Metapher, eine Art pädagogischer Umweltverschmutzung, die um so schlimmer
wird, je stärker die Restsubstanzen unserer Zivilisation in den Boden
einsickern: die Stadtarchitektur, der Computer-Müll, die simulierten
Video-Welten, die frustrierten Leistungserwartungen und
-Erwartungs-Erwartungen, die nicht verarbeitbaren Reste des Sexualtabus, die
Furcht vor den Vätern und die Angst vor den Müttern, das ganze Arsenal der
historischen Ruinen (wie immer sie auch illuminiert sein mögen), in Familien
und Klassenzimmmern symbolisch repräsentiert, die zahllosen Verluste
zwischen Familie, Erziehungsberatung, Psychiatrie und Heimerziehung und das
institutionelle Gerangel dazwischen: pädagogische Bodenvergiftung!
[110:16] Genug mit den Metaphern. Beiden ist gemeinsam, daß die
Erziehungs-Täter als verantwortlich definiert werden. In beiden Fällen gibt
es also so etwas wie Gebote der Sittlichkeit im Umgang mit Kindern. Auch wer
nicht mehr daran glaubt, daß die Vernunft derartiger Gebote im einzelnen
erziehenden Erwachsenen repräsentiert sei, kann doch wohl kaum der Frage
entrinnen, wie sich sein Handeln als Erzieher zur möglichen Zukunft und zu
verantwortender Vergangenheit verhält, auch wenn die Geschichte als linearer
Fortschritt zum Besseren nicht mehr gedacht werden könnte – mindestens für
unsere Kinder müssen wir dies wollen; andernfalls sollten wir
keine haben wollen!
[110:17] Die Veränderungen, die sich derzeit im Hinblick auf die Begriffe
Erziehung und Bildung andeuten, enthalten also Fragen, die nicht
gesinnungsethisch beantwortet werden können, auch nicht in der
institutionellen Verengung auf diese oder jene Einrichtung unse|a 138|res Erziehungs- und Bildungswesens, sondern in der
Auseinandersetzung mit Themen, die das Heranwachsen von Kindern mit dem
Zustand unserer Kultur und also mit dem Leben der Erwachsenen verknüpfen.
Vier solcher Themen möchte ich abschließend kurz erörtern, und zwar: Arbeit,
Leiblichkeit, Prozeß- bzw. Produktorientierung und Ich-Irritationen.
Arbeit
[110:18] Daß Arbeit bildend sei und also Erziehung zur Arbeitsamkeit
eine notwendige Komponente pädagogischer Aufgaben, diese in der
frühbürgerlichen Stadtökonomie und dann besonders in der Epoche der
Industrialisierung aufgekommene Idee verliert an Überzeugungskraft. Es
entsteht eine Stimmung, die sich vom gesellschaftlich herrschenden Typus
von Arbeit zunehmend distanziert. Man könnte verführt sein, dies als
pubertären oder adoleszenten Hedonismus zu denken. Ich halte eine solche
Deutung für falsch, jedenfalls dort, wo es sich um pädagogisch relevante
Entwürfe des Verhältnisses von Leben und Arbeit handelt: in den Freien
Schulen, in Landkommunen, in alternativen und kollektiv betriebenen
Werkstätten mit
„sanfter Technologie“
, in der
Waldorf-Pädagogik, in Sekundarschulkonzepten, die Kopf- und Handarbeit
und damit auch solche Schüler über längere Bildungszeiten hinweg zu
integrieren versuchen, die vom herrschenden Typus unseres
Bildungssystems immer noch frühzeitig ausgesondert werden. In Bemühungen
dieser Art entdecke ich eine neue Suche nach der Antwort auf die Frage,
ob das Verhältnis von Arbeit und Lebenssinn, von Kopf- und Handarbeit,
von Produktivität und Rezeptivität, von Wissen und Handeln nicht doch
eine fundamentale Bildungsbedeutung hat. Vor allem drei Merkmale sind
es, die in solchen Versuchen, wie mir scheint, deutlich
hervortreten:
-
-
[110:19] Der Begriff
„Arbeit“
wird vom System
industrieller Erwerbsarbeit gleichsam abgekoppelt. Damit verliert
das kapitalistisch-protestantische Arbeitsethos und mit ihm die hohe
Bewertung lebenslang gleicher Berufstätigkeit, das wohl ohnehin
seinem Ende entgegengeht, an Kraft. Von Bedeutung wird nun
vorwiegend, daß es sich um Tätigkeit handelt, die als
sinnvolle erfahrbar ist.
-
-
[110:20]
„Sinnvoll“
ist eine Arbeit oder
Tätigkeit dann, wenn sie in einem überschaubaren
„Oikos“
lokalisiert ist.
„Selbstverwirklichung“
– um dieses modisch |a 139|strapazierte Wort hier einmal zu verwenden – wird nicht
von materieller, mühevoller und schweißtreibender Arbeit erwartet,
sondern von
„vergesellschaftetem Tätigsein“
(Zimmerli), von
„lebendiger Arbeit“
(Negt), von einer Art Tätigkeit also, die mit
sinn-orientierter Kommunikation verbunden ist – sei der Ort solcher
Kommunikation nun ein Haushalt, eine Nachbarschaft, eine dem Leben
geöffnete Schule, eine
„Alternativ“
-Werkstatt.
Etwas zugespitzt könnte man sagen: Schwarzarbeiter, Hausfrauen,
Entwicklungshelfer, auf niedrigem materiellem Niveau tätige
Kommunen, Drogen-Therapie-Einrichtungen, Windmühlen-Bauer sind die
Vorhut einer neuen Arbeitsmoral, die der menschlichen Tätigkeit
jenen Bildungssinn zurückgibt, den sie im Laufe der expandierenden
Industriegesellschaften verloren hat.
-
-
[110:21] Das führt noch einmal auf die fundamentale Frage nach
dem Verhältnis von Kopf- und Handarbeit zurück. Daß Kinder und
Jugendliche etwas mit ihren Händen tun, daß sie Gelegenheit zu
Tätigkeiten haben, durch die sie in die gegenständliche Welt
gestaltend eingreifen, ist keine Marotte von Reformpädagogen oder
Philanthropinisten. Es hat einen anthropologischen Sinn.
Paläontologen belehren uns darüber, daß es in der Evolution unserer
Gattung offenbar ein Wechselspiel gibt zwischen der sensomotorischen
Tätigkeit der Hände und der Ausbildung des Zentralnervensystems. Und
auch für die Ontogenese wird dem von Gehirn-Physiologen nicht
widersprochen. Die Tätigkeit der Hände – über das Drücken von
Knöpfen und das Führen von Kugelschreibern hinaus – ist für die
Zukunft der Bildung unserer Kinder vielleicht wichtiger als diese
oder jene Arbeits- und Leistungsmoral (etwas Derartiges hatte
vielleicht schon Parmigianino im Sinn, mit seinem im Kunsthistorischen
Museum aufgehängten Bild, als er, um 1523, seine Hand und seinen Kopf mit
subtiler Genauigkeit, alles übrige aber in der Verzerrung des
Wölbspiegels malte).
Leiblichkeit
[110:22] Über den Leib gibt es nun freilich mehr zu sagen als nur, daß
manuelle Tätigkeit mit Hand und Gehirn verbunden und wegen dieser
Verbundenheit ein Bildungsthema ist. Seit mehreren Jahren schon wird,
innerhalb und außerhalb der Pädagogik, die sogenannte
„Wiederkehr des Körpers“
diskutiert. Was ist das? Zunächst könnte
man geneigt sein, dieses Thema einer der neo- oder paratherapeutischen
Moden, den hedonistischen oder narzißtischen Fluchttendenzen
zuzurechnen, einer postmodernen Attitüde im pädagogischen Feld, die sich
nun, da die technologisch-rationalistischen Engführungen unserer Kultur
zweifelhaft, ungewiß und ungemütlich zu werden scheinen, den Gewißheiten
des Leibes und seiner Gemütlichkeit zuwendet. Indessen: so einfach ist
das Thema nicht; so suggestiv sich die Apologeten einer
„neuen Sinnlichkeit“
ins Spiel bringen: das Thema enthält
Schwierig|a 140|keiten, die dem Thema
„Arbeit“
entgegengesetzt sind: droht im Hinblick auf
Arbeit eine Zukunftsunfähigkeit eher durch allzu strenge
begriffliche Festlegung auf überlieferte Konzepte der bürgerlichen
Gesellschaft, so kann man im Falle des Leibes und seiner Sinne eher
sagen: Gerade die begriffliche Diffusität, der Mangel an
Unterscheidungen, die fehlende oder nur in sentimentalen Rückgriffen
bestehende Bezugnahme auf Geschichte erschweren eine
Zukunftsperspektive.
[110:23] Dennoch aber dürfen wir aus solcher Herausforderung lernen.
Das Thema nämlich – die Wiederentdeckung des Körpers oder der
Sinnlichkeit des Menschen – formuliert ein Schulden-Saldo der
überlieferten Aufklärungs-Kultur. Das allerdings hatte schon Schiller als die Aufgabe
„ästhetischer Erziehung“
, Karl Philipp Moritz als das
psycho-physische Leiden des Kindes, der Maler Goya in seinen
„Caprichos“
als die
Sprachlosigkeit der Vernunft in bezug auf ihren Leib angemahnt. Die
pädagogische Behandlung des Themas im
„Zögling Törleß“
Robert Musils blieb für
das öffentliche Bildungsdenken ohne Folgen. In diesen Jahrzehnten erst
bricht es als Thema wieder auf, nun nicht mehr nur für eine
bildungsbürgerliche Elite. Grund genug, das Thema ernst zu nehmen, zumal
es an die Leibhaftigkeit des delphischen Orakels, an seine vitalen
Quellgründe und Irritationen erinnert.
[110:24] Allerdings sind in dem Thema auch
„Gefahren“
gegeben: So richtig es ist, den Ausgang jeder Art von
Bildung bei der Leibhaftigkeit des Menschen zu suchen, so problematisch
scheint mir der Egozentrismus der
„neuen
Sinnlichkeit“
zu sein. Die anthropologisch gegebene Dialektik von
Fern- und Nah-Sinnen (Auge und Ohr versus Getast, Geruch usw.) setzt ja
gerade dem Hier und Jetzt der Nahsinne das Dort und Dann der Fernsinne
entgegen (durch das in die Ferne blickende Auge und durch das vergangene
und erwartete Töne ins Verhältnis bringende Ohr). Das ist der Grund
dafür, daß sich aus den Nahsinnen keine großen Künste entwickelt haben.
Und eben dies ist unmittelbar bedeutsam für bildungstheoretische Fragen.
Bildung ist immer – jedenfalls solange, als wir an ihrem Begriff
festhalten – ein dynamischer Vorgang in Raum und Zeit. Er nimmt zwar im
Hier und Jetzt, bei diesem meinen Leib und seinen unmittelbaren
Empfindungen seinen Anfang, aber er wäre keine Bildung, wenn er diese
Leibgrenzen nicht transzendieren würde. Ästhetische Erziehung, als eine
die ganze Leiblichkeit des Kindes einbeziehende, wenn sie nicht |a 141|in Kommunikation verflachen oder in
nostalgischer Leibzentriertheit verkümmern will, hätte nur in derartiger
kritischer Perspektive eine Zukunft.
Prozeß und Produkt
[110:25] Gibt es Gütekriterien für das, was wir
„Erziehung“
oder
„Bildung des Menschen“
nennen? Die konservative Antwort auf diese Frage hält sich mit
Komplikationen des Problems nicht lange auf; sie setzt auf den angeblich
standardisierten Leistungsvergleich. Aber nur scheinbar handelt es sich
dabei um ein schulinternes technisches Problem. Der Streit um
Zensurengebung ist – so scheint mir – ein Symptom für unsere aktuellen
Schwierigkeiten, die Güte dessen, was Kinder tun, ihre Problemlösungen
und Hervorbringungen, einer gemeinschaftlichen und also
verallgemeinerten Bewertung zu unterziehen. Gerade diese
verallgemeinerte Bewertung war es ja, die im Laufe der Zeit aus Schulen,
Beratungsstellen, Heimen, Jugendämtern, Kliniken Sortier-Apparaturen
gemacht hat – meist ohne daß die Beteiligten das wollten. Was liegt also
näher, als sich von derartigen
„Gütekriterien“
zu
trennen und statt dessen die ganze pädagogische Aufmerksamkeit auf den
Prozeß zu richten, in dem die Bildung des Kindes sich
ereignet? Es käme dann darauf an, zu fragen, beispielsweise: Wurden die
Gefühle des Kindes wahrgenommen und richtig beantwortet? Wurde seine
Selbsttätigkeit angeregt? Wurde eine Kommunikationsform gewählt, die dem
Prozeß der Bildung, dem Vollzug des Lernens, dem
Vorgang einer Problemlösung angemessen ist? War das soziale
und materielle Milieu der Bildung des Kindes dienlich?
[110:26] Allein: Auch bei derartigen Fragen kommt man um Gütekriterien
nicht herum. Nur steht, in diesen Fällen, nicht das Kind, sondern der
Erzieher auf dem Prüfstand. Wäre also eine Revision unseres
Erziehungsbegriffs vernünftig, demzufolge künftig nicht mehr Kinder nach
„besser“
oder
„schlechter“
,
„erfolgreich“
oder
„depraviert“
,
„normal“
oder
„abweichend“
sortiert werden, sondern Erzieher, Lehrer, Eltern – bis hin zu
Jugendämtern, Sozial- und Kultusministerien – sich derartigen
Bewertungsprozeduren unterwerfen müßten?
[110:27] Seit wir nicht mehr an angeborene Begabungen glauben, daran,
|a 142|daß die biologisch interpretierte Natur des
Menschen auch über sein gesellschaftliches Schicksal entscheidet,
erscheint eine derartige Umwendung der pädagogischen
Beurteilungsmaßstäbe folgerichtig.
„Erziehen“
hieße
dann nicht, das Kind auf ein gesellschaftlich gewünschtes Ziel
hin-dirigieren, ihm die entsprechenden Produkte abverlangen und diese
einer vergleichenden Messung und Bewertung unterziehen – zum Beispiel,
daß es in einem bestimmten Alter im ganzen Satz sprechen, allein zum
Kaufmann gehen, eine Straßenkreuzung passieren, eine Rechenaufgabe
lösen, eine perspektivische Zeichnung anfertigen kann usw. – sondern: es
in seinem Werden aufmerksam begleiten, die wirksamen Kräfte
unterstützen, den Prozeß lebendig halten, die begleitenden oder
treibenden Gefühle zum Bewußtsein bringen. Die Gütekriterien sind dann
nicht mehr objektive Merkmale von Produkt oder Leistung, sondern eher –
wie man heute häufig sagt – subjektivprozessuale: die Bewegtheit der
Abläufe, das Engagement der Teilnehmer einer interagierenden Gruppe, die
„Echtheit“
der Kommunikation, die Wahrhaftigkeit
oder Bewußtheit der geäußerten Gefühle und Bedürfnisse. Symptomatisch
hieß es schon vor 15 Jahren, mit Bezug auf sozialpädagogische
Gruppenarbeit:
„Egal was geschieht – Hauptsache, es
finden Gruppenprozesse statt!“
Sind das nun die (vorerst) letzten
Verhakungen des bürgerlichen Subjekts in sich selbst, bezogen auf den
Umgang mit der jungen Generation; ist es das Eingeständnis, daß Schleiermachers Frage
(
„Was will denn eigentlich ...“
) nicht mehr
beantwortbar ist?
[110:28] Indessen ist doch leicht zu sehen, daß die von mir hier
vorgenommene Stilisierung der Alternative von Prozeß- und
Produktorientierung nicht stimmen kann. Auch Prozesse sind in keiner
Kultur bewertungsfrei, sofern sie sich in einem sozialen Feld abspielen,
in dem mindestens eine Vorstellung von der möglichen Differenz zwischen
Ordnung und Chaos existiert. Selbst im Hinblick auf Prozesse, auf nur
situativ interpretierte Kommunikationen, auf nur an Abläufen, Vollzügen,
Wegen interessierte zwischenmenschliche Beziehungen, ohne jede normative
Orientierung an bewertbaren Ergebnissen, Produkten, Werken – selbst in
solchen Lagen holt uns die gleichsam transzendentale Nötigung zu
produktorientierten Bewertungen, eine Möglichkeitsbedingung für Kultur
überhaupt, immer wieder ein: auch die Äußerung eines Gefühls sollte –
niemand kann hier mit Gründen anderer Mei|a 143|nung
sein – verstanden werden können; das erfordert nicht nur die
Verstehenskraft des Erziehers, sondern auch ein Formulierungsniveau des
Kindes. Was dabei formuliert wird, sollte wahrhaftig
sein; eine Erziehung, die nicht über den Begriff der Lüge verfügte, ist
für sprachbegabte Wesen nicht vorstellbar. Behauptungen – wie dramatisch
auch immer eine pädagogische Kommunikation sein mag, und sei es nur ein
Spiel von Kindern miteinander – sollten im Hinblick auf ihren
Wahrheitsanspruch erörterbar sein. Das soziale Verhalten
sollte im Hinblick auf seine mögliche Schädlichkeit für andere
bewertet werden.
[110:29] Auch Prozesse unterliegen also Gütekriterien. Und sind die
Sachverhalte, auf die sich dabei die Bewertung richtet, nicht auch
„Produkte“
auf dem Weg, den das Kind zum
Erwachsenwerden einschlägt? Allerdings besteht eine Art Nachholbedarf,
der vielleicht weniger durch die gebräuchliche empirische
pädagogisch-psychologische Forschung, als durch genaues pädagogisches
Nachdenken und sorgfältige phänomenologische Beobachtung befriedigt
wird.
[110:30] Ich will hier darauf nur durch ein
Beispiel hinweisen: Einer der besten Indikatoren zur Ermittlung dessen,
was für eine Generation
„Erziehung“
bedeutet, ist
ihre Einstellung zum Spiel des Kindes. Das Spiel ist freilich immer ein
Prozeß, aber, als Ganzes gesehen, auch ein Produkt, das das Kind
hervorgebracht hat. Wir können es, beispielsweise mit therapeutischem
Interesse, interpretieren als eine kindliche Ausdruckshandlung (wie die
Kinderzeichnung), in der Merkmale des seelisch-geistigen Prozesses, in
dem das Kind sich befindet, zur symbolischen Darstellung kommen. Aber
können, oder müssen wir nicht sogar, auch diese Darstellung, dieses
Produkt, einer Bewertung unterwerfen? Sind wir nicht – und zwar auch
ohne entwicklungspsychologische oder psychoanalytische Bildung – mit
guten Gründen davon überzeugt, daß es gutes und schlechtes Spielen gibt,
daß wir irgendwie eingreifen sollten, wenn wir beobachten, daß es, wie
wir dann vielleicht sagen,
„destruktiv“
spielt, oder
sich langweilt, oder überhaupt zu keiner Handlung in der Lage ist, der
wir die Gestalt-Qualität
„Spiel“
zubilligen würden?
Die Rede von
„Regressionen“
beispielsweise hätte ja
gar keinen Sinn, wenn wir nicht, bewußt oder nicht-bewußt, unterstellen
würden, daß es so etwas gibt wie die Idee einer dem Bildungsstand des
Kindes angemessenen Gestalt seines Spieles, eine Idee, die nicht einfach
nur durch den statistisch häufigsten Fall repräsentiert wird. Genauso
verhält sich, wie ich denke, jeder aufmerksame Erwachsene, auch ohne
irgend etwas über möglich psychologische Analysen des Spiels zu wissen;
er denkt zunächst, angesichts eines chaotischen
„Spiels“
oder einer merkwürdigen Kinderzeichnung: irgend etwas
stimmt nicht! Er bringt also produkt-orientierte Gütekriterien ins Spiel
und fragt dann nach dem Prozeß: Wie kam es dazu?
„Erziehung“
bedeutet also, gelegentlich mit Hilfe
der Therapie, die Produkte zu verbessern, die |a 144|Entäußerungen der jungen Menschen, weil sie uns als Zeichen erscheinen
für das, was im Inneren geschieht.
Ich-Irritationen
[110:31] Das damit angesprochene Verhältnis zwischen
„Innen“
und
„Außen“
, zwischen dem, was ich
bin, und dem, was ich, für andere verständlich, kann und hervorbringe,
ist nicht nur ein Problem für Kinder. Die zeitgenössische Neigung,
Prozesse, Kommunikationen, Gefühle, Bedürfnisse und deren Äußerung für
wichtiger zu halten als Produkte, Leistungen, Rollen, hat etwas zu tun –
wie mir scheint – mit Verunsicherungen in der Selbstlokalisierung des
modernen erwachsenen Ich im gesellschaftlich-kulturellen Gefüge. Sofern
also der Erwachsene im Erziehungsvorgang nicht eine abstrakte Leerstelle
sein darf, sondern eine konkrete Individualität, die mit Gründen
„Ich“
sagt, hängt vielleicht nicht alles, aber doch
wohl gut die Hälfte davon ab, was er damit meint.
[110:32] Das frühbürgerliche Ich, dem wir die
traditionell-neuzeitlichen Erziehungsvorstellungen verdanken, hatte mit
dieser Frage keine besonderen Schwierigkeiten: es konnte sich in
sozialer Lokalisierung und zeitlicher Kontinuität als
„identisch“
entwerfen. Aber: von den noch behutsam vorgetragenen
Destruktionsphantasien Rousseaus über die Untergangsstimmung der Jahrhundertwende
bis zu den Jugendkrawallen unserer Tage zieht sich die Linie einer
Zerstörungsmetapher, die das Ich aus allen relevanten Bezügen herauslöst
und schließlich auch die punktuellen Gewißheiten dieses Ichs selbst
ergreift. Damit wird dem traditionellen Erziehungsdenken der Boden
entzogen: Bildung nämlich, so glaubten es die Klassiker der modernen
Bildungs- und Erziehungstheorie, ist, als dynamisches Geschehen in der
Zeit, davon abhängig, daß das Ich sich als neue Möglichkeit in die
Zukunft hineindenkt und derart für sich selbst eine geschichtliche
Kontinuität konstituiert. Ebendies bereitet nicht nur Jugendlichen,
sondern auch Erwachsenen zunehmend Schwierigkeiten. Es ist dann
verständlich, wenn immer mehr vor allem Echtheit, Authentizität der
Selbstdarstellung, das augenblickliche Spüren meiner selbst, die
Gewißheit, daß ich, trotzt allem, wenigstens noch lebendig bin, zu den
Kriterien für Selbstgewißheit avancieren. Das gelegentliche Steinewerfen
bei Demonstrationen, Feuerbrände, Graffiti an den |a 145|Mauern sind – nicht nur, aber auch – Zeichen dafür, daß die Zweifel am
europäischen
„Ich-Projekt“
nun, nach 100 Jahren, auch
die junge Generation erfaßt haben. Ob diese Selbstzweifel, wenn sie
nicht nur sogenannte Randgruppen erfassen sollten, nicht nur eine
Alterskohorte, nicht nur eine Intellektuellen-Minorität, sondern zur
gesamt-kulturellen Charakteristik werden, überhaupt noch Erziehung und
Bildung nach überliefertem Verständnis möglich machen oder ob sie nicht
vielmehr nur noch beschwichtigt werden können durch materielle
Wohlstands-Erwartung, Familien-Routinen, Schulkarrieren – beispielsweise
in der Formel
„Weiter so, Deutschland!“
– das weiß
ich nicht.
[110:33] Ich schließe deshalb mit drei Zitaten, die weit
auseinanderliegen: In Shakespeares
„Hamlet“
sagt Polonius, als er seinen Sohn
verabschiedet:
„Dies über alles: sei dir selber treu./Und
daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage,/Du kannst nicht falsch
sein gegen irgendwen“
. Ludwig
Wittgenstein hat, ohne sich auf Shakespeares hervorragende Formel zu beziehen,
den gleichen Gedanken gedacht. Er notierte:
„Sich über sich selbst belügen, sich über die
eigene Unechtheit belügen, muß einen schlimmen Einfluß auf den
Stil haben; denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht
Echtes von Falschem unterscheiden kann ... . Wer sich selbst
nicht kennen will, der schreibt eine Art Betrug“
. Inwiefern darin nicht einfach eine ältere Tradition fortgesetzt,
sondern uns und unserem Erziehungsverständnis auch ein anderes
Verhältnis zur geschichtlichen Zeit zugemutet wird, deutet sich in einer
fast gleichzeitig geschriebenen Passage Walter Benjamins an, der diesen Gedanken
gleichsam weiterdenkt in der Vorstellung vom
„destruktiven Charakter“
:
„Weil er (der
destruktive Charakter) überall Wege sieht, steht er
selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der
nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der
Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie
hindurchzieht“
, – oder, wie es am Tempel von Delphi hieß:
„Erkenne dich
selbst“
.