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Kunst und Pädagogik als Alphabetisierungsaufgabe
Eine Dokumentation der Diskussion über den Beitrag von Klaus Mollenhauer
bearbeitet von Thomas
Bichler
[V72:1] Mollenhauer
[V72:2] Ich weise zunächst einmal darauf hin, daß ich in Fragen der
Kunst ein Dilettant bin. Der Vorzug des Dilettanten ist aber, daß er rascher und
unbekümmerter Hypothesen formulieren kann, nicht so sehr beeinträchtigt durch allzu
intime Kenntnis von argumentativen Kontroversen. Darin steckt immer auch ein Stück
Naivitätsrisiko, und das gehe ich ein. Wie Sie vielleicht bei der Lektüre des Textes bemerkt
haben, spielt in meinem Text in einem gewissen Umfang auch so etwas wie historische
Rhetorik eine Rolle, aber wirklich nur im Sinne einer Rhetorik. Mein Interesse geht eher
in Richtung auf das, was ich einen Versuch nennen möchte, Fragen nach dem Verhältnis von
Pädagogik und Kunst zu klären, die mir gegenwärtig klärungsbedürftig erscheinen. Ich tue
das, wie gesagt, mit den dilettantischen, mir zur Verfügung stehenden Instrumenten. Ich
frage überhaupt nicht, ob das, was wir Pädagogik nennen, eine Kunst sein könnte oder mit
Recht so bezeichnet werden kann. Ich frage vielmehr, wie sich das Verhältnis von
Pädagogik zur Kunst beschreiben läßt und ich meine damit nicht nur dasjenige Verhältnis,
das sich etwa in den theoretischen Argumentationen ausdrücken läßt, sondern auch das
Verhältnis zwischen in Bildung begriffenen Individuen auf der einen Seite und
ästhetischen Ereignissen auf der anderen. Ich mache es ganz kurz. Ich habe zunächst
behauptet, daß es so etwas wie eine jahrhundertelange Kluft gegeben habe zwischen dem,
was man auf der einen Seite Kunst, auf der anderen Seite Pädagogik nennen könnte. Ich
habe zweitens behauptet, daß diese Kluft in derjenigen Kulturfigur überbrückt wird, die
wir bürgerliche Kultur nennen oder die man dann bürgerliches Kulturkonzept nennen
könnte. Ich habe das nicht im einzelnen nachgewiesen, ich verweise nur auf die beliebig
herausgegriffenen zwei Autoren Herder und
Humboldt. Man könnte auch noch eine
ganze Reihe von anderen Autoren nennen. Autoren, für die das Nachdenken über das, was
die Natur des Bildungsprozesses sei, immer |a 190|auch bedeutet,
darüber nachzudenken, wie denn innerhalb eines solchen Bildungsprozesses ästhetische
Ereignisse lokalisiert werden können. Dieser Typus des Nachdenkens hat, denke ich, zur
Folge gehabt – zeitlich jedenfalls folgten ihm zunehmende Versuche innerhalb der
Bildungsanstalten – ästhetische Unterrichtung in die Curricula einzuführen. Findet das
statt, dann ist die Frage, wie das Verhältnis zwischen Bildungsprozeß einerseits und
ästhetischen Ereignissen andererseits bestimmbar ist. Ich habe dazu zwei sehr schlichte
Hypothesen. Wenn ich den Ausdruck Kunst verwende, meine ich damit jene Ereignisse, die
in ästhetischen Theorien als das Kunstschöne bezeichnet werden. Meine erste Hypothese
betrifft den Sachverhalt, nachdem das Problem des Verhältnisses von Bildung und Kunst
innerhalb dieses bürgerlichen Kulturkonzepts erst einmal zur Sprache gebracht worden ist
und nun allmählich das in den Vordergrund rückt, was ich ästhetische Alphabetisierung
nenne. Wenn nämlich im Zusammenhang dieser Entwicklung die ästhetischen Produkte der
Kultur sich zunehmend autonomisieren und ihnen auch je besondere Formen des Nachdenkens
zugeordnet werden, dann entsteht für die Kulturmitglieder das Problem, ob sie das, was
hier produziert wird, überhaupt angemessen lesen können. Meine Hypothese lautet:
Ästhetisches Lesenlernen kommt erst gegenwärtig auf den Punkt, trifft erst gegenwärtig
die bildungstheoretische Pointe, die man in der zurückliegenden Zeit allenfalls ahnen
konnte. Der ersten Hypothese könnte man eine kognitivistische Verkürzung vorwerfen.
Davon möchte ich eine zweite Hypothese unterscheiden. Die zweite Hypothese geht in eine
etwas andere Richtung. Wenn man sich schon getraut zu sagen, ästhetisches Lesenlernen sei eine Komponente der Bildungsaufgabe, dann
kann man weiter fragen, von welchen Voraussetzungen denn dieses Lesenlernen eigentlich
abhängig ist. Genügt es zu sagen, ästhetisches Lesenlernen sei etwa bei Panofski vorgebildet als ikonographisch-historischer Diskurs? Das wäre sicher
eine zuverlässige Form des Lesenlernens. Denkt man so, dann unterschlägt man allerdings
eine Komponente, die ich nicht gern leugnen würde, nämlich die Frage, wie denn
eigentlich das Verhältnis zwischen einer ästhetischen Figuration und der Leibhaftigkeit
des sich bildenden Individuums beschaffen ist. Diese Frage ist nicht schon durch das
Konzept der Alphabetisierung erledigt, sondern erfordert ein Nachdenken über die Natur
dieser Beziehung oder erfordert, wie Josef
König in seinem Entwurf einer Theorie der Ästhetik geschrieben hat, das Nachdenken über die Natur der ästhetischen Wirkung.
Denn nur dann, wenn die Natur der ästhetischen Wirkung erläutert werden kann, hat es
überhaupt Sinn darüber nachzudenken, ob es eine charakteristische Wirkung ästhetischer
Ereignisse im Zusammenhang mit Bildungsprozessen gibt. Diese Hypothese steht tra|a 191|ditionell immer noch in einer gewissen Nähe zu Kants
Kritik der Urteilskraft,
zu dem jedenfalls, was dort über das Spiel der Einbildungskraft gesagt wird, über das
Verhältnis zwischen den begrifflich vermessenen Argumentationen und demjenigen Typus von
Erfahrungen, der sich unter Verstandesbegriffe nicht ohne weiteres subsumieren läßt. In
dieser Art des Nachdenkens fühle ich mich bestärkt durch zwei Theoretiker aus sehr
verschiedenen Bereichen der Kunst. Bei Karl
Dahlhaus heißt es an einer Stelle, mit einer mich sehr überzeugenden
Argumentation, daß man zwar in irgendeinem Sinne sagen könne, daß Musik auch Gefühle
erreicht oder gar Gefühle bedeutet – etwa so wie Rousseau das seinerzeit noch behauptet hat oder auch Diderot gelegentlich meinte –, daß das aber eine
relativ ungenaue Rede sei. Es spreche vielmehr sehr viel dafür, daß der Typus von
Gefühl, der durch musikalische Ereignisse hervorgebracht werde, ein Gefühl sei, das
nur durch musikalische Ereignisse hervorgebracht werden könne. Eine ähnliche
Hypothese nimmt Bezug auf die bildende Kunst. Gottfried Boehm hat sie formuliert bei dem Versuch, den Umriß einer Hermeneutik des Bildes zu präsentieren. Auch
dort heißt es, daß das, was als Wirkung des Bildes auf die Leibhaftigkeit des Menschen
beschrieben oder auch nicht beschrieben werden könne, vor der Schwierigkeit stünde, daß
jeder Versuch, dies in sprachliche Diskurse zu übersetzen, gerade schon die
Eigentümlichkeit der ästhetischen Wirkung unterlaufe. Deshalb müsse eine angemessene
Darstellung von ästhetischen Wirkungen oder eine angemessene Darstellung des
Verhältnisses zwischen ästhetischen Ereignissen und Bildungsprozessen eine Schicht der
Sprache finden, in der selbst die Bildlichkeit der Sprache lokalisiert ist. Dies
formuliert Boehm nur als Postulat; er
führt es nicht im einzelnen aus, er beschreibt nur das Problem. Von zwei Seiten her, von
der Kunstwissenschaft auf der einen Seite und von der Musikwissenschaft auf der anderen
Seite, fühle ich mich ermuntert, in dieser Richtung nachzudenken und deshalb die zweite
der genannten Hypothesen zunächst einmal zu formulieren.
[V72:3] Werckmeister
[V72:4] Ich würde Herrn Mollenhauers
Postulat einer Alphabetisierung ästhetischer Erfahrung zustimmen. Natürlich beinhaltet
diese Metapher oder ein so bezeichneter Begriff bereits die Versprachlichung der
ästhetischen Erfahrung, steht also im Widerspruch zu dem, was Sie bei Boehm dort angemerkt haben. Zweitens stimme
ich mit Ihnen überein, daß diese ästhetische Bildung, Alphabetisierung, d.h. also die
Einübung in ein bestehendes System, in eine bestehende Lehre der Kunst sein muß. Das ist
ja die Konsequenz. Dies bedeutet ferner, daß dieses Alphabet unweigerlich normativ ist.
Also zusammenhängend mit der Frage, |a 192|was ist Kunst, was ist gute
Kunst, was ist keine Kunst, was ist schlechte Kunst, kann die Alphabetisierung nicht
dazu dienen, uns zu lehren, wie wir nun alles, was uns mit dem Anspruch auf Ästhetisches
entgegentritt, richtig verstehen können als allumfassende Erkenntnisform. Das ist etwas
anderes. Historisch gesehen, um das einmal ganz grob zu skizzieren, sind ja die Versuche
zur Alphabetisierung der ästhetischen Erfahrung oder auch der ästhetischen Produktion in
drei Phasen vor sich gegangen, die sich teilweise überschneiden, teilweise auch so
existieren. Erstens die Lehre der Kunst vom Meister an den Lehrling; zweitens die Lehre
der Kunst in der Akademie, die auch noch heute besteht; und drittens die Lehre der Kunst
als Teil einer Erziehung, die sich nicht primär auf Kunstproduktion richtet, sondern
eben auf allgemeine Erziehung. Die Musiklehre oder Zeichenlehre des 18./19. Jahrhunderts
mündet in die Kunstpädagogik als einer Form, in der ja in der Tat die Kunst
instrumentalisiert wird, um andere soziale, moralische oder sonstige Ideal- oder
Zielvorstellungen der Pädagogik zu erreichen. In allen drei Fällen handelt es sich immer
um festgelegte Wertvorstellungen. Wie differenziert sie auch sind, wie pluralistisch sie
auch auftreten mögen, sie sind sofort auf ihren weiteren oder engeren historischen
gesellschaftlichen Kontext festzulegen, d.h. daher auch ideologiekritisch und damit
historisch zu relativieren. Aus ihnen ergibt sich infolgedessen keinerlei Ästhetik. Das
hieße also, jedes Studium einer ästhetischen Tradition, einer Tradition der
Kunsttheorie, erwiese sich als notwendig bis zu einem Punkt, wo man sie völlig erkennt
und nicht mehr anwenden kann. Insofern ist also die Ästhetik, die Alphabetisierung der
ästhetischen Erfahrung im emanzipatorischen Sinn eine Einübung in das ästhetische
Begreifen, wie es in der Geschichte, in der Vergangenheit einmal geübt wurde, ein
Versuch – ob das möglich ist, bleibt dahingestellt – so zu sehen, wie wir nicht mehr
sehen, aber wie einst gesehen wurde. Wir stehen also vor der Frage, uns zu unserer
eigenen Kunst, zu unserer eigenen visuellen Umwelt zu verhalten, völlig auf uns selbst
zurückgeworfen. Auf die Geschichte können wir uns nur bedingt beziehen, da sie eben
diese Normenvorstellung unausweichlich aufgelöst hat. So eine verfügbare Ästhetik geht
für mich aus der Tradition nicht hervor.
[V72:5] Lenzen
[V72:6] Ich möchte mich gerne mit einer kleinen Zusatzfrage
anschließen: Was verstehst Du, Klaus, unter dem klassischen Alphabetisierungsprogramm?
Was ist das Klassische an dem Alphabetisierungsprogramm?
[V72:7] Mollenhauer
[V72:8] Das war eine leichtsinnige Formulierung. Ich habe nicht
verstanden, |a 193|warum Alphabetisierung unweigerlich, wie wir gesagt
haben, normativ sein muß. Warum also unweigerlich – Sie, Herr Werckmeister, haben darauf Bezug genommen – ? Was ist
das unweigerlich Normative in Paul
Klees
Bauhausvorlesungen, wenn er versucht zu erläutern, welche Bildbedeutung diese
oder jene Linienführung haben könnte? Klee hat sich auch beeilt hinzuzufügen, daß dies nicht etwas sei, was seine
Schüler zu imitieren hätten, sondern, daß er es als ein mögliches Vokabular vorschlage.
Das nenne ich Alphabetisierung und insofern klassisch, als den Zeichen bestimmte
Bedeutungen zugeordnet werden; insofern aber nicht klassisch, als die Frage von Zeichen
und ihnen zugeordneter Bedeutung hier möglicherweise völlig anders liegt als im
Alphabet.
[V72:9] de Haan
[V72:10] Ich möchte zurückkommen auf einen Punkt, den auch Sie, Herr
Mollenhauer, ansprachen, und der dann ganz zentral wird für
den Bereich zwischen Kognition und Empfindung. Sie schließen an Diderot an, der im Anblick der Bilder von Chardin sagte, das Ganze habe was mit Magie
zu tun, d.h., es ist in Worte nicht mehr zu fassen. An anderer Stelle in Diderots
Schrift zum Salon von 1763 gibt es eine Auseinandersetzung mit einem Bild von Greuze, ein Bild, das ein junges Mädchen darstellt, welches einen toten
Vogel beweint. Und ich frage mich, warum sie diese Passage eigentlich nicht mit aufgenommen haben, weil ich denke, daß
darin Probleme stecken in bezug auf die Beredsamkeit von Bildern. [V72:11] Diderot setzt sich
mit dem Bild auseinander und versucht Rücksicht zu nehmen auf die Tränen des Mädchens,
die zu sehen sind; er entwirft allerlei Hypothesen und fängt an zu halluzinieren und
entwickelt daraus eigentlich ein häusliches Drama: Da tritt der Verlobte auf, der Vater
und die Mutter. Er denkt sich aus, warum der Vogel jetzt gestorben ist, und hat dann die
Idee zu sagen, er sei deswegen gestorben, weil er vergessen wurde, und vergessen wurde
er, weil das Mädchen sich selber vergessen habe. [V72:12] Diderot hat an dieser Stelle eine
Menge Worte gebraucht, eine Gedichtskizze und sogar das Modell eines Dramas, das sich in
diesem Bild wiederfindet. Dann sagt er zum Schluß, weil er immer noch nicht weiß, warum
das Mädchen weint:
„Sprechen Sie, ich kann es nicht erraten“
. Dann dreht er die Geschichte um und macht sich über sich selber lustig,
indem er sagt, da habe doch jetzt einer philosophiert über ein Bild und was sei darauf?
Nichts als ein gemaltes Mädchen mit Tränen in den Augen, das über einen Vogel weint, der
ebenso auch gemalt sei. Das sei lächerlich. [V72:13] An
der Stelle bricht Diderot den Bericht ab
und versucht auch kein neues mimetisches Modell, versucht nicht weiterhin, sich dem
Gemälde |a 194|anzuschmiegen. Man kann sagen: Diderot dreht der Beredsamkeit den Hals um an dieser
Stelle. [V72:14] Ich denke, das ist ein Problem in bezug
auf die Alphabetisierung, das sich auch durch Ihren Text zieht. Da geht es immer um die
Frage, ob man denn nicht doch letztendlich wieder etwas decodieren könnte, weil es ja um
Kognition und Empfindung geht, wenn ich es in Sprache umsetzen kann, also mich doch
irgendwie mimetisch an die Kunst anzuschmiegen und daraus wieder etwas machen kann. Das
ist ein altes Modell; man kann es schon bei Comenius finden, der sagt, Kunst müsse man lernen und je mehr man sich darin
vertiefe und das Ganze geübt habe, desto freier könne man darin werden und auch etwas
über die Anschauung von Bildern erlernen. [V72:15] Auf
einer anderen Seite Ihres Beitrags gibt es Passagen über Nelson Goodman, glaube ich, über
„Weisen der Welterzeugung“
. Da habe ich das Gefühl, daß
Sie jetzt doch versuchen zu trennen. Sie unterscheiden zwischen einer Form der
Welterzeugung, die Kunst ist und anderen Formen, z.B. in der Wissenschaft. Diese
Bereiche sind vielleicht nicht ineinander übersetzbar. Aber immer wieder taucht bei
Ihnen diese Decodierungsformel auf. Bis zum Schluß stellt sich die Frage, ob man sich
metaphorisch an das Bild oder an ein Gedicht anschmiegen und sozusagen auf Kunst mit
Kunst antworten müsse. Das wäre dann auch wieder das Diderotsche Modell, wo er gerade
zeigt, bezogen auf dieses Bild mit dem
Mädchen, welches den toten Vogel beweint, daß das eigentlich lächerlich sei. [V72:16] Es gibt eine Stelle, da hört die Beredsamkeit auf. Kann
man das eigentlich machen, kann man das alles in Sprache übersetzen oder auch in eine
andere Form von Kunst? Wenn das möglich wäre, etwa bezogen auf ein Gemälde, dann müßte
man ja sagen: ich kann ein Gemälde in einer poetischen Form wieder einfangen. Man kann
dann aber von der poetischen Form nicht wieder ins Gemälde zurück. Es gibt für mich ein
Mehr, was hinausgeht über Kognition und Empfindung, was sich nicht einfangen
läßt.
[V72:17] Mattenklott
[V72:18] Ich frage mich, ob die Position von Klaus Mollenhauer sich auf eine Frage bezieht, die eigentlich seit der
Begründung der deutschen spekulativen Ästhetik um 1800 gestellt wurde, eine Frage, die
eben schon anklang in den Beiträgen von Werckmeister und de Haan: Folgt
die Philosophie der Kunst, dann auch die Pädagogik oder folgt die Kunst der Philosophie?
Diese Alternativen, zwischen denen Sie, Herr Mollenhauer,
sich eindeutig entscheiden, das Alphabet kommt nach der Kunst, entsprechen in der
Geschichte der Ästhetik der Position, die Hegel be|a 195|zogen hat und die in seiner Folge
immer wieder bis ins 20. Jahrhundert auch so tradiert worden ist. Das Alphabet folgt der
Kunst und bringt zur Sprache, was in ihr vorsprachlich oder in einer irgendwie
jedenfalls hinter der Sprache zurückbleibenden Form ausgedrückt ist. Nun ist schon vor
Hegel und dann auch über Hegel hinaus mit überzeugenden Argumenten
eine Position entwickelt worden, die anders als die Hegelsche argumentiert. Sie
argumentiert nicht geschichtsphilosophisch, also nicht so: erst gab es die Kunst, und
dann kam der Buchstabe und die Schrift und die Auslegung und auch die Pädagogik. Diese
Position, glaube ich, hat Kant in der
Kritik der Urteilskraft angelegt, etwa im § 59, wo er von Vorstellungen
spricht, denen schlechterdings keine Anschauung in der Wirklichkeit entspricht. Das ist
nicht geschichtsphilosophisch gemeint, sondern kategorial argumentiert. [V72:19] Mir scheint, daß die Kunstentwicklung der Kantischen
Theorie Recht gegeben hat. In der Kunstentwicklung der Avantgarde hat sich gezeigt, daß
gerade dieses Moment, das in der Kritik der
Urteilskraft zum Thema gemacht wird, sich der Anschauung und dem Begriff
verweigert. Ein Moment, das gerade in der Kunst der Avantgarde immer größere Bedeutung
hat, könnte als Beziehung der modernen Kunst auf Negativität begriffen werden.
Diskursverweigerung in den verschiedensten Formen, Bedeutungsverweigerung, Singularität,
also Verweigerung von Allgemeinheiten usw., das sind alles Momente, die bis ins 20.
Jahrhundert zu den treibenden Kräften der modernen Kunstentwicklung gehören. Mir
scheint, daß eine Theorie, die wie Ihre geschichtsphilosophisch und mit der Konsequenz
Hegels argumentiert, an dieser
Entwicklung der modernen Kunst vorbeigeht, an dieser Bestimmtheit moderner Kunst durch
Negativität im weitesten Sinne: also Verweigerung von Allgemeinheit und
Diskursverweigerung.
[V72:20] Wulf
[V72:21] Ich habe mit dem Begriff
„Alphabetisierung“
Schwierigkeiten. Ich denke an Alphabetisierungskampagnen in der
Dritten Welt und an alles, was diese bedeuten. Menschen sollen Lesen und Schreiben
lernen, damit sie an einem ihnen bis dahin nicht zugänglichen Bereich der Kultur
teilhaben und sich besser in der Welt zurechtfinden können. Der Begriff
„Alphabetisierung“
impliziert eine nicht unproblematische Teilung zwischen denen,
die lesen können, und denen, die dazu nicht in der Lage sind. Erstere verfügen über den
Code, letztere sollen ihn erlernen. Wie das Alphabet sollen Bilder gelesen werden. Um
aus ihnen Informationen zu gewinnen, die eine bessere Bewältigung bildlicher Welten
erlauben, sollen sie dekodiert werden. Alphabetisierung suggeriert einen auf Verfügung
ausgerichteten Zugriff auf Bilder, dem leicht ihr ästheti|a 196|scher
Gehalt zum Opfer fallen kann. Alphabetisierung verweist auf die Möglichkeit des
Erlernens eines Codes, mit dem man sich Bilder unterschiedlicher Art erschließen kann.
Übersehen wird dabei die starke Differenz zwischen Bildern, der man mit der Kenntnis
eines Codes nicht gerecht werden kann. Wenn Bilder etwas vom Menschen
„wissen“
, was er nicht weiß, dann ist die Vorstellung von einem
„Alphabet“
, mit dessen Hilfe man dieses Wissen entschlüsseln könne, unzulänglich.
Gerade das Entscheidende entzieht sich einem solchen Zugriff über einen Code. Was ein
Mensch ist, wird wesentlich durch die Bilder bestimmt, die er in sich trägt. Die Bilder
fangen uns an, bevor wir anfangen, sie zu entschlüsseln. Bevor wir
„Menschen“
sind, nehmen wir Bilder auf, haben wir bildliche Engramme. Diese, zum
Teil sogar nicht mehr bewußten Bilder, verweisen auf das, was man als Abwesenheit von
Sagbarkeit bezeichnen kann. Was an den Bildern besonders wichtig ist, die Bildlichkeit
des Bildes, ist nicht in eine andere Sprache übersetzbar. Man kann in verschiedenen
Diskursen versuchen, etwas davon zu begreifen; aber im sprachlich-strukturierten
Bewußtsein gibt es immer eine nicht aufhebbare Differenz zum Bild. Die
sinnlich-leibliche, an Anschauung gebundene Erfahrung von Bildern ist nicht ersetzbar;
sie kann lediglich mit Hilfe diskursiver Bildanalysen geschafft werden.
[V72:22] Mollenhauer
[V72:23] Ich will noch einmal etwas zu dem Stichwort der
Alphabetisierung sagen. Ich habe den Eindruck, es ist eine unglücklich gewählte
Metapher. Diese Metapher habe ich gewählt in Anlehnung an Redeformen etwa von dieser
Art: Man spricht darüber, etwas lesen zu können, was nicht gerade aus Buchstaben
besteht. Oder: Nelson Goodman spricht von
den Sprachen der Kunst, zeigt dann aber, wie das
besondere Verhältnis von Syntax und Semantik in verschiedenen Künsten derart von der
sprachlichen, von der linguistischen Form verschieden ist, daß man wirklich nur mit
vielen Vorbehalten von Sprachen der Kunst reden kann. Wenn man diese Vorbehalte gelten
läßt, würde ich dennoch an dem Ausdruck Lesenlernen festhalten als einer nicht
verzichtbaren Aufgabe. Ich wüßte nicht, wie ich sonst diese andere Bildungsaufgabe
beschreiben sollte. Wenn Sie, Herr Werckmeister, in ihrem Kleekatalog
erläutern, wie Klees Bild
„Revolution des
Viaduktes“
gelesen werden muß oder gelesen werden kann, dann ist das eine
sehr überzeugende Demonstration dessen, was ich meine. Das Lesenlernen von ästhetischen
Objekten oder ästhetischen Ereignissen ist sozusagen ein anspruchsvoller kognitiver
Vorgang. Wir rekonstruieren aber nicht nur historische Kontexte, sondern wir
lokalisieren das Objekt innerhalb dieser Kontexte und können deshalb einen Teil seiner
Bedeutung wenigstens |a 197|genauer benennen als vordem. Derartiges
nenne ich Lesenlernen von ästhetischen Objekten, und ich sehe überhaupt keinen Grund,
auf diese Art intellektueller Tätigkeit zu verzichten, in Schulen oder
sonstwo.
[V72:24] Werckmeister
[V72:25] Ich denke, es ist genau umgekehrt. Wir sitzen sozusagen
zwischen zwei Hochzeiten, auf denen wir nicht gleichzeitig tanzen können. Sind Bilder
historisch, ist Kunst historisch, von Menschen gemacht, sind Kunstwerke nicht Dinge, wie
Sie sagen, Herr Wulf, die auf Menschen
wirken? D.h. also, das Denken und auch das Lesen und die Alphabetisierung sind dazu da,
uns von der Macht der Bilder zu emanzipieren, zu befreien, ihnen nicht zu verfallen,
nicht auf eine kindliche Vorstufe zurückzufallen, in der man irgendwelche Überlegenheit,
irgendein Vorwissen oder irgend eine magische Weltteilhabe anerkennt, die sozusagen
einer Alphabetisierung überlegen ist.
[V72:26] Mattenklott
[V72:27] In dem, was Sie, wie mir scheint, zu Recht und mit guten
Gründen für vernünftig und plausibel halten, wenn Sie es zu einem prinzipiellen Argument
machen, legen Sie sich auf eine methodische Position fest, die in der Kunstwissenschaft
selbst in den letzten Jahren immer stärker umstritten worden ist. Was Sie mit
Lesenlernen anführen, hat wahrscheinlich am meisten gemein mit der ikonographischen
Methode, die in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten mit einem gewissen Nachholbedarf in
der Bundesrepublik rezipiert worden ist und die aber auch in den letzten Jahren mit
guten Gründen sehr heftig kritisiert wurde. Das geschah u.a. auch deshalb, weil da eine
Wissenschaft ins Kraut geschossen ist, eine Regel über Kunst, die an den Werken immer
nur das erfaßt, was mit anderen vergleichbar ist, die Werke in ihrer Teilhabe an einem
allgemeinen Bildfindungsprozeß. Dieser Bildfindungsprozeß ist dann auch erläuterbar
durch das Verhältnis zur Wissenschaft, wie das in der Schule mit Panofsky und seiner Tradition vorgeführt
worden ist. Diese Art von Beschäftigung mit Kunst ist gerade in der BRD sehr populär
geworden im Zuge einer Demokratisierung des Verhältnisses zur Kunst und gerade auch des
Pädagogischen in der Kunst. Hier schien es eben möglich, den Umgang mit Kunst zu lernen,
und zwar für jedermann, auch für Leute, die eigentlich traditionell nicht mit
Kunsterfahrung vertraut waren – und dies im elitär geprägten Sinn – sondern die Kunst
lernten als Medienwissenschaft und auf dieser Ebene eben lernten, daß alles mit allem
vergleichbar ist und verglichen werden konnte von der Antike bis in die Moderne. Da läßt
sich ja auch sehr viel vergleichen und sehr viel ler|a 198|nen und das
haben sie nun zugestanden. Aber das Argument, das dagegen spricht, das zum Hauptzugang
und zum wesentlichen Verständnis von Kunst zu machen ist, daß eben gerade doch die
Tradition der Moderne, wenn man sie ernstnimmt und nicht von vornherein für ideologisch
oder abwegig erklärt, auf diesem monarchischen Anspruch begründet ist und auf
Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit, sowie die Autorität des Einzelwerks baut. Mit welchem
Recht und mit welchen Gründen das geschah, darüber wird man wahrscheinlich streiten
können, aber es ist eine der Voraussetzungen, mit der die Avantgarde des 20.
Jahrhunderts angetreten ist und ich glaube, daß man sich methodisch nicht von vornherein
so einmauern sollte, daß man diesen Anspruch nicht mehr prüfen kann. Dieser Anspruch
heißt aber, daß die Kunst anders ist als das, was über sie gesagt wird, anders ist als
das, womit sie verglichen werden kann. Was also zu verlangen wäre, ist, sich nicht
dogmatisch auf die eine oder andere Seite zu schlagen, sondern den eigenen Umgang mit
der Kunst so einzurichten, daß sie diese Möglichkeit offen läßt, daß die Kunst Recht
damit hat, wenn sie sagt, sie sei in anderes nicht übersetzbar, sie sei mit anderem
nicht vergleichbar usw. Es muß nicht stimmen, es soll stimmen
können.
[V72:28] Schulze
[V72:29] Ich verstehe das so, daß diese Metapher Alphabetisierung
eigentlich eine absurde Metapher ist, d.h. daß sie in ein Dilemma hineinführt. Wenn man
sie als Metapher aber ernst nimmt, kann man nach Buchstaben, nach Schrift und auch nach
dem, was in der Schrift abgelesen werden kann, was in der Schrift geschrieben wird und
nach dem Lesbaren, was durch die Schrift zu sehen ist, fragen. Das alles, denke ich,
bringst Du, Klaus, ins Spiel, wenn Du sagst, beispielsweise Musik verweist auf Gefühle.
Dann denke ich: gut, Musik ist etwas, womit man Gefühle darstellt und man Gefühle lesen
kann. Ich sage jetzt, daß Du eine Linie ansetzt, die, wenn Deine Metapher
Alphabetisierung Sinn hat, durchaus in eine solche Richtung auch gehen würde. Da Du aber
gleichzeitig auch konfrontiert bist mit dem Problem der Kunsthistoriker und vor allem
dem der modernen Kunst, die nun genau dieses abstreift, ablehnt etwas sagen zu wollen
außer sich selbst, dann gerät die Metapher der Alphabetisierung in ihr Dilemma hinein,
und ich frage mich: welchen Sinn hat es eigentlich, diese Metapher zu verwenden?
[V72:30] Ich habe dafür eine Erklärung, denn dieses
Thema der Alphabetisierung ist ja nicht nur eines, das Du aufbringst, sondern das ja
auch in der bildenden Kunst eine Rolle gespielt hat, gerade im Bauhaus. Da verstehe ich die
Kunst so, besonders weil man sie vom Gegenständlichen trennt, gerade weil man wahrnimmt,
daß der Betrachter |a 199|von Bildern nicht mehr einfach lesen kann,
während er bisher lesen konnte – vielleicht auch völlig Falsches, Verkehrtes – konnte er
immer etwas lesen. Bei C. D. Friederich konnte man eben ein Riesengebirge und ein Kreuz drin sehen
und der Betrachter konnte das lesen. Er brauchte dazu keine Anleitung. Er hat auch immer
etwas Falsches gelesen, wie uns die Kunsthistoriker inzwischen sehr deutlich machen.
Aber er hat das gelesen und da Kunst ja nicht nur für Kunsthistoriker produziert wird,
sondern für jedermann, bedarf es zunächst einmal dieses Zugangs. Dieser wird nun in der
Nichtgegenständlichkeit der Kunst problematisch. Infolgedessen muß man da jetzt ansetzen
und sagen: wenn ich überhaupt noch ein Publikum erreichen will, das nicht selbst Kunst
produziert, dann muß ich diesem etwas an die Hand geben, denn es will ja immer noch
irgend etwas lesen, irgend etwas sehen in dem Bild. Das wäre das eine. Daher kommt ein
Bedürfnis nach so etwas wie der Fiktion, man könnte dann doch gleich ein Alphabet
erfinden, das das Publikum auch lesen könnte. Nur dieses Alphabet muß erst noch erfunden
werden, und genau daran bleibt man hängen. Es ist jedenfalls bisher nicht gelungen.
Diese Metapher ist zwar immer wieder irgendwie faszinierend, aber sie hat das Problem
nicht gelöst. Für mich klingt noch etwas anderes an, eine andere Wendung, die bei dem
Übertragen der Metapher ins Spiel kommt: Du legst es doch eigentlich darauf an, daß in
einem Bild nicht nur das Singuläre, sondern auch etwas Allgemeines gesagt wird. Also
eigentlich liegt Dir auch an dem Übergang zwischen Wortsprache und Bildsprache oder
Schrift und Bild. Die Argumente von Herrn Mattenklott und Christoph Wulf
führen für mich in die Richtung der weiteren Autonomisierung der Kunst. Da kann man nur
im Bereich der Kunst bleiben und kann in ihr immer subjektiver, immer subtiler werden,
aber ich sehe von da aus keine Brücken zu anderen Formen der Äußerung, zu Wissenschaft,
zu Literatur, auch zu den elementaren Formen des Sehens. Deswegen würde ich mich mit
Herrn Werckmeister noch gerne einsetzen
dafür, daß man an dieser Hälfte der Alphabetisierung, die dann nachher so rasch in
Mißkredit gerät, noch ein Stück festhält. Denn das ist mein Interesse als Pädagoge, daß
Kunst nicht nur für sich etwas aussagt, sondern auch etwas über Erziehung: damit brauche
ich die Vermittlung. Damit brauche ich dann allerdings auch Buchstaben oder andere
Möglichkeiten, die mir eine Übersetzung erlauben, und ich denke, das ist ja etwas
anderes, als nur ein Vokabular zu finden, was aber nicht das Vokabular der
Kunsthistoriker sein könnte, sondern ein allgemeineres Vokabular sein müßte. Also meine
Frage noch einmal: Was hattest Du eigentlich mit der Idee der Alphabetisierung
intendiert?
|a 200|
[V72:31] Mollenhauer
[V72:32] Zunächst zur Erläuterung: Ich denke, daß beide Hypothesen
zusammengehören. Ich akzeptiere, was Herr Mattenklott mir vorgehalten hat. Das ist für mich eine große Schwierigkeit, an
die ich mich mit Hilfe der 2. Hypothese angenähert habe; nur denke ich, daß der Ausdruck
„Lesen“
oder
„Alphabetisierung“
vielleicht durch
die damit verbundenen Konnotationen auch in falsche Unterstellungen hineinführt. Ich
habe ja gesagt, wie schwierig es würde, gesetzt den Fall, wir wollten den Ausdruck nicht
nur als eine wohlfeile Metapher verwenden, sondern wir würden ihn ernstnehmen. Dann
müßten wir wörtlich zeigen können, wie beispielsweise die verschiedenen Terme der
linguistischen Theorie der
„Sprache“
der Bilder zugeordnet werden
können. Ich habe an dieser Stelle offengelassen, ob so etwas überhaupt gelingen kann.
Meine Vermutung ist: das kann nicht gelingen. Aber es bedarf der Prüfung, wie weit man
damit kommen kann, und ich sehe nicht, daß da schon sehr viele Versuche in dieser
Richtung gescheitert wären. Ich sehe eher, daß es eine Reihe von Zugängen gibt,
besonders am Bauhaus. Aber wohin das führt und ob das ein erfolgreicher Weg ist
oder ob nicht doch durch Herrn Mattenklotts Einwurf eine ganz prinzipielle Grenze beschrieben wird, bleibt
zunächst unbeantwortet. Ich könnte diese Grenze anerkennen, aber das würde heißen, daß
Pädagogik und Kunst in dieser Hinsicht nicht das mindeste miteinander zu tun haben und
daß wir nichts Schlimmeres unternehmen können, als nun noch die Kunst auch in die
Pädagogik zu integrieren. Da würde nämlich beides entstellt: sowohl die Kunst als auch
die Pädagogik. Das kann natürlich nicht meine Absicht sein.
[V72:33] Wünsche
[V72:34] Vielleicht läuft das, was ich sagen möchte, noch auf eine
Zuspitzung hinaus, von dem, was Gerd de
Haan eingebracht hat. Zunächst möchte ich davon ausgehen, daß die pädagogische
Artikulation ja Literatur ist. Die pädagogische Artikulation ist Literatur, gehört zur
Literatur, also zum sprachlichen Bereich. Hier soll ja der Begriff Alphabetisierung
sozusagen auch in den nichtsprachlichen Bereich übertragen werden.
[V72:35] Mollenhauer
[V72:36] Wenn das Kind gestillt wird, artikuliert sich doch Pädagogik,
oder in welchem Sinne verwendest Du jetzt das Wort Artikulation?
[V72:37] Wünsche
[V72:38] Wenn unsereins über Pädagogik schreibt, dann verfaßt er
Literatur. Das Kind an der Mutterbrust ist nicht Pädagogik, aber wenn man dar|a 201|über schreibt, dann ist es Pädagogik. Das gehört alles in den
Bereich der Literatur. Gleichgültig, wie stark diese Schicht der Bildlichkeit der
Sprache, von der Du gesprochen hast, darin repräsentiert ist oder bewußt ist oder zur
Geltung kommt. Das ist das eine. Ich komme auf diese Bemerkung nämlich durch den Titel.
Jedesmal, wenn ich das lese, was Du da seinerzeit vorgetragen hast, denke ich, der Titel
müßte sich eigentlich darauf beziehen, daß die pädagogische Artikulation eine
ästhetische Dimension in sich selbst hat, also etwa der Bildungsprozeß eigentlich
metaphorisch ist. Das ist der eine Punkt. Ich denke, daß die Alphabetisierung, daß das,
was eben nur Alphabetisierung genannt werden kann oder bereits genannt worden ist, von
verschiedenen Instanzen oder verschiedenen Leuten, sich stets darauf bezieht, daß eine
Gesamtkompetenz angestrebt wird, die die Sinnlichkeit in die Artikulation und insgesamt
in ein bestimmtes Ordnungsgefüge bringt. Das kann dann auf verschiedene Weise geschehen.
Jetzt ist die Kunstwissenschaft angesprochen. Man könnte sagen, wir können Kunst lehren
lernen. Ein weiteres Vorgehen ist die Ordnung der Sinnesempfindung. Auch in diesem Sinne
ist das Wort Alphabetisierung gebraucht worden. Es gibt Grundelemente des Sehens; wenn
ich diese in die richtige Ordnung bringe, dann erhalte ich eine gewisse Kompetenz über
diesen optischen Gegenstand. Das wäre für mich die zweite Art, sinnvoll von
Alphabetisierung zu reden. Die Frage ist: wie geht das nun vor sich, wenn Herr Mattenklott sagt, das Alphabet folge der
Kunst nach? Das ist diese alte Vorstellung, daß die Kunst nichtsprachlich und vorgängig
ist und dann später mit der Sprache erfaßt wird. Den umgekehrten Weg gibt es auch. Er
ist auch als Alphabetisierung bezeichnet worden, also als Übergang von einem Alphabet im
Sinne von Elementarteilchen, von Buchstaben zu einem sinnvollen Ganzen. Wenn z. B. von Kandinsky und
Schönberg gesagt worden ist, hier
geschehe ein Übergang von Vernunft zu Magie, dann ist das etwa dieser Prozeß. Und auch
in diesem Zusammenhang kann man von einer Alphabetisierung durchaus reden, so wie die
Leute es selbst getan haben. Man muß dann nur verstehen, daß es sich um eine Art Kanon
handelt, der hier gemeint ist.
[V72:39] Bichler
[V72:40] Ich wundere mich, wie differenziert bisher über Sinn und
Unsinn der Metapher
„Lesenlernen“
in bezug auf ein Unternehmen, das
wir ästhetische Bildung nennen können, gesprochen wurde, ohne daß Herr Mollenhauer versucht hätte, uns zu erklären, was er unter
ästhetischen Urteilen versteht. Oder vielleicht auch weitergehend, was er unter
„nicht konfrontiertem Spüren“
als einem möglichen Erziehungsprozeß ver|a 202|steht,
der als Sensibilisierungsunternehmen im Hinblick auf ästhetische Ereignisse begriffen
werden könnte. Meine erste Frage lautet, was man unter einem ästhetischen Urteil zu
verstehen habe, und die zweite Frage drängt nach der Klärung des Begriffs eines
„nicht konfrontierten Spürens“
, dem ja eine ganz zentrale Rolle etwa
in Ihrem Aufsatz
„Ist ästhetische Bildung möglich?“
zukommt. Ich
glaube, durch die Beantwortung dieser Fragen könnte für uns deutlicher werden, was wir
unter Alphabetisierung bei Ihnen zu verstehen haben.
[V72:41] Mollenhauer
[V72:42] Ich habe den Ausdruck ästhetisches Urteil in diesem Text
vermieden, weil ich die Befürchtung hatte, mich in diesem Zusammenhang auf ein zu
schwieriges Terrain zu begeben, und weil ich mit dieser Frage schon einmal zu spät
bemerkt habe, daß ich dies auf knappem Raum nicht zureichend erörtern kann. Jetzt können
Sie fragen, geht das denn überhaupt? Welche Formen von Urteil werden denn hier im Text
gefällt usw.? Das belastet dann den Kritiker meines Textes. Dazu will ich nichts sagen.
Aber das andere ist mir sehr willkommen, weil es wirklich so ist wie bereits vermutet
wurde, daß eine größere Identifikation bei mir mit dieser zweiten Hypothese vorliegt.
Die erste Hypothese arbeitet, wie ich jetzt zugebe, mit dieser unglücklichen Metapher
Lesenlernen, aber es wurden uns ja die zwei Bedeutungen von Lesenlernen sehr schön
nahegebracht. Das erste halte ich für etwas, was wir der nachwachsenden Generation
schuldig sind. Pädagogik hat ja immer mit Aufarbeitung von Traditionen zu tun. Anders
kann ich mir das gesellschaftlich veranstaltete Geschäft, das den Namen Erziehung und
Bildung trägt, gar nicht vorstellen. Da ist es natürlich immer nützlich, sich in den
verschiedenen Stadien der geschichtlichen Entwicklung zu überlegen, was wir aufgrund
unserer kulturellen Lage schuldig sind – das meint die erste These. Die zweite These
enthält demgegenüber ganz andere Schwierigkeiten. Wenn wir sie ernstnehmen, führt sie
uns dann nicht an die Grenze des Redenkönnens über den Gegenstand oder, wenn es nicht
eine Grenze des Redenkönnens überhaupt sein sollte, konfrontiert sie uns mit der
Schwierigkeit, welche Form des Redens denn die dann angemessene wäre, wenn es schon
nicht das diskursive Argumentieren ist oder das diskursive Sprechen? Und in diesem
Zusammenhang waren mir die Überlegungen von Pothast sehr hilfreich. [V72:43] Pothast hat kein vorwiegendes
Interesse an ästhetischer Theorie. Er entwickelt seine These in einem ganz anderen
Zusammenhang. Er stellt sich die Frage, wie man sinnvoll über Bewußtsein und die
Gewißheiten von Bewußtsein reden kann und ob die cartesische Linie bis hin zur
analytischen Philosophie nicht ein wesentliches Element |a 203|von
Bewußtsein, insbesondere von Selbstbewußtsein, systematisch unterschlägt. Er fragt, ob
es nicht Formen der Gewißheit gibt, die ich zwar nicht in diese Diskurse einfädeln kann,
die aber dennoch Gewißheiten sind. Um das zu erläutern, führt Pothast den Ausdruck
„Spüren“
ein. Es
gibt offenbar zwei verschiedene Arten des Spürens: Ich kann etwas an mir spüren, das ich
mir gleichsam wie ein Objekt gegenüberstelle, wenn ich sage: ich habe einen Schmerz im
Knie – das ist eines seiner Beispiele – oder: ich habe einen Stein im Schuh, der mich
drückt. Ich lokalisiere sozusagen den Schmerz oder das Drücken des Steins. Da kann ich
auch sagen, ich spüre das. Aber demgegenüber gibt es eine andere Art von Spüren. Die
nennt er
„nicht konfrontiertes Spüren“
. Das ist eine Art von Spüren,
wo ich, wenn ich mich selbst darüber verständige, sofort sagen würde: es ist ganz
falsch, dies irgendwo in einem Organ zu lokalisieren. Wenn ich sage: ich spüre Trauer,
dann kann ich ja nicht sagen: wo spüre ich sie, die Trauer, irgendwo im Kopf vielleicht?
Ich könnte vielleicht ein neurologisches Lehrbuch lesen und sagen, welche Prozesse an
welcher Stelle ablaufen, wenn ich ein Gefühl habe, das ich selber Trauer nenne. Es läßt
sich zwar so beschreiben, aber das eigentliche Gewißheitserlebnis wird damit nicht im
mindesten getroffen. Auch Pothast kommt
bei dieser Analyse von Bewußtseinsproblemen an den Punkt, wo er meint, es gebe eine Form
der vorläufigen Rede, die aber nicht dadurch diskreditiert werden kann, daß sie
vorläufig ist, weil sie doch eine Rede über wirklich erfahrene, selbst erlebte
Gewißheiten ist. Dieser Gedankengang von Pothast hat nun eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was ich kurz in dem Hinweis
auf Boehm angedeutet habe, in bezug auf das Bild,
oder was Dahlhaus sehr dezidiert im Hinblick auf die
Musik sagt, daß es sich nämlich bei der ästhetischen Erfahrung um Gewißheitserlebnisse
handelt, die, obwohl der Sagbarkeit weitgehend oder möglicherweise überhaupt entzogen,
dennoch als Gewißheitserlebnisse nicht bezweifelt werden können. Das Suchen nach einer
Sprache, in der darüber geredet werden kann, wäre nun eine wichtige Frage im Feld der
ästhetischen Hermeneutik. Um noch einmal die zweite Hypothese etwas breiter zu
erläutern, wäre als nächster Schritt zu überlegen, ob denn die ästhetische Erfahrung in
irgendeiner Weise in solchen Verhältnissen lokalisiert werden kann, die wir
erzieherische Verhältnisse nennen, oder, wenn dies denn nicht der Fall ist, wie wir so
etwas innerhalb dessen lokalisieren können, was wir Bildungsprozeß nur mit Bezug auf uns
selber nennen können. Ich möchte den Ausdruck Bildung nicht auf die schulischen
Veranstaltungen hin stilisieren, sondern mich einem Sprachgebrauch anschließen, den
Humboldt vorgezogen oder sogar
eingeführt hat.
|a 204|
[V72:44] Zacharias
[V72:45] Apropos spüren. Ich spüre, wenn von Alphabetisierung die
Rede ist, das dringende Bedürfnis, das zu konkretisieren, denn es ist ja die Rede von
etwas, das es gibt. Und zwar gibt es das auf der Ebene der professionellen ästhetischen
Bildung, in den sogenannten Grundlehren, Vorschulen auf der Ebene der Allgemeinbildung,
in der Kunstpädagogik, in den endlosen, aus den Vorlehren abgeleiteten Übungen, die
letztlich alle auf solche Begründungen zurückweisen. Die Frage, ob ästhetische Bildung
normativ ist oder nicht, zeigt sich überhaupt erst in der Konkretion, denn es ist ein
gewaltiger Unterschied, ob Paul Klee im
Bauhaus als
Avantgardist die alten Schemata sprengt oder Kandinsky ein neues Organon entwickeln will, das der Bewegung des Punktes
nachspürt oder ob das Punktmachen irgendwo im Lehrplan steht und dann nachvollzogen
wird. Das scheint mir auch ein grundsätzliches Problem, denn auf der Ebene der
Verallgemeinerung zeigen sich diese entscheidenden Unterschiede eben nicht. Aber auf
diese Unterschiede kommt es an. Es gibt ja ganz verschiedene Kunstformen, die selbst
verschieden alphabetisiert sind. Beispielsweise kann man die Malerei des 17. und 18.
Jahrhunderts nicht verstehen, ohne daß man die Alphabete kennt, und zwar nicht nur die
ikonographischen, sondern auch die formalen Alphabete. Diese sind auch als solche
angelegt, auf Lesbarkeit hin. Das verändert sich natürlich mit der Moderne. Bei Kleist heißt es, was ich in dem Bilde finden
sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bild. Das ist der Punkt, wo diese
Alphabetisierung getroffen wird, der Anteil des Betrachters als des Nachschöpfenden aber
bisher nicht ins Spiel kommt. Andererseits muß man fragen: Redet man bei der
Alphabetisierung mehr in Richtung Rezeption, oder redet man mehr in Richtung Produktion?
Was meint man, oder kann man beides meinen? Für die Produktion oder für das
Ausdrucksverhalten kann eine solche Alphabetisierung sehr nützlich sein, beispielsweise
für das, was die Sprayer machen. Die Sprayer benützen ein sehr ausgeprägtes Alphabet, um
sich zu äußern, um sich zu artikulieren. Das ist natürlich relativ begrenzt, aber es
hat, in dem Rahmen, in dem es entstanden ist, eine sehr schlagende Wirkung. Ein weiteres
Problem der Alphabetisierung entsteht, wenn man sie auf Versprachlichung verkürzt, in
welcher Sprache auch immer. Dann erscheint auch immer wieder nur ein Teil der
Möglichkeiten. Denn diese Alphabetisierung, oder das, was man darunter verstehen kann,
entsteht ja auch über die praktischen Erfahrungen, über das Machen, über das Lernen,
anhand von Pinsel oder Bleistift mit der Technik umzugehen. Dort, wo Erfahrungen oder
Einsichten sich bilden können, können sie dann in der Rezeption wieder übertragen
werden. Deswegen scheint mir dieser Begriff sinnvoll, weil er etwas zeigt, was exi|a 205|stiert, aber auch, weil man mit seiner Hilfe vielleicht konkret
sagen kann, wo diese Alphabetisierung notwendig sein kann und in welcher Form und vor
allem, daß sie eigentlich immer abhängt von der konkreten Situation, von dem Milieu, von
dem, der das macht.
[V72:46] Werckmeister
[V72:47] Ich habe den Eindruck, daß hier einige Dinge vorausgesetzt
worden sind, die man nicht unbedingt voraussetzen muß. Warum muß denn Sprache den
Kunstwerken so gerecht werden, daß sie sie auf einem anderen Niveau reproduziert? Ist
das eigentlich die Form, in der man über Dinge sprechen kann? Jedenfalls ist es nicht
die Form der philosophischen Erkenntnis. Von Kant bis zur negativen
Dialektik wird ja vorausgesetzt, daß der Gegenstand und das Sprechen über ihn
nicht dasselbe ist. D.h. alles Kopfzerbrechen darüber, wie denn etwas so Unbestimmbares
wie ein Bild sozusagen sprachlich reproduziert werden kann, geht allein schon an der
Grundvoraussetzung einfachen Erkennens vorbei. Praktisch gesehen ist es ja so, daß man
fragen kann, ob es überhaupt wünschenswert ist, daß etwa Studenten darin eingeübt
werden, Kunstwerke so aufzufassen, wie sie gar nicht von irgend jemandem gemeint worden
sind. Sie besitzen ja nicht eine Identität, die feststünde. Man könnte sich ja
vorstellen, daß das Sprechen über Kunst, d.h. also das informierte, alphabetisierte
Sprechen über Kunst, das historisch alphabetisierte Sprechen über Kunst darauf hinzielt,
diese Kunst in einen Kontext zu stellen, von dem Sie, Herr Schulze, sprachen, als sie sagten, Kunst vermittle sich
durch alle möglichen anderen Wissenschaften und werden dadurch erst bedeutsam. In dem
Moment, wo man sie isoliert betrachtet, in dem Moment, wo man sie nur als etwas
Inkommensurables und total die Aufmerksamkeit Erforderndes ansieht, entrückt man sie
jeder Verantwortlichkeit. Das führt uns zu den Begriffen, die Sie, Herr Mattenklott, in Ihre Ausführungen so
selbstverständlich eingeflochten haben, nämlich das Monarchische und die Autorität. Ist
es so, daß die allermodernste Kunst, die Kunst, die die Kultur der Demokratie so groß
darstellt, die Begriffe monarchisch und Autorität für sich in Anspruch nehmen kann oder
muß? Das führt mich zu einer zweiten, historischen Bemerkung, die ich zu Ihrer
Behauptung, Herr Mattenklott, machen
möchte, zu der nämlich, daß die Avantgarde für sich beansprucht, inkommensurabel zu sein
und daß wir diesen Anspruch auch honorieren müssen. Meiner Ansicht als Kunsthistoriker
nach ist es so, daß die Kunstgeschichte in einem Abstand von ca. 10, 20, 30 Jahren immer
wieder die Avantgarde ihres Singularitätsanspruchs entkleidet und auf Stereotype
zurückgeführt hat. Immer, wenn ein Künstler gesagt hat,
„ich mache alles
völlig neu, was ich tue, hat es |a 206|nie gegeben“
, dann kommen
die Historiker hinterher und erklären, daß das aber schon da war, daß es gar nicht so
singulär sei. Dieser Inkommensurabilitätsanspruch wird also nicht von der Philosophie,
nicht von der Semantik widerlegt, sondern von der Geschichte. [V72:48] Dann möchte ich noch dazu Stellung nehmen, daß das Alphabet der
Kunst immer nachfolge. Soweit ich die europäische Kunst überblicken kann, ich meine
historisch, gingen da Wort und Bild, Wort und Produktion Hand in Hand. Ich glaube, Herr
Zacharias sprach dies in bezug auf die
Gegenwart bereits an. Es begann aber schon im Mittelalter oder noch früher. Über Kunst
wurde gesprochen, Kunst wurde nach der Rede gemacht, dann wurde sie wiederum
kommentiert. Die Kommentare wurden wieder zur Produktion von Kunst, und es gibt ja keine
Kunst, die wortreicher und druckwerkreicher ist als die des 20. Jahrhunderts, die immer
von sich behauptet, inkommensurabel zu sein. Sie ist ja eine Kunst, bei der die
Kunstwerke ein Siebtel des Eisbergs einnehmen, während sechs Siebtel unter der
Oberfläche in der Form von Texten mitschwimmen. Zunächst einmal ist eine Umkehrung der
Voraussetzungen notwendig, die darauf hinausführt, daß wir gar nicht gehalten sind, wenn
wir über Kunst sprechen, der Kunst eine Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, die im
Grunde genommen nur zur Unterordnung auf den monarchisch-autoritären Anspruch von
Kunstwerken führt.
[V72:49] de la Motte
[V72:50] Ich möchte viererlei Dinge nur ganz kurz ansprechen. Das
erste ist eine Fußnote, die die im Leben überflüssig herumirrenden Gefühle betrifft, die
durch die Musik gebunden werden. Das zweite, das ich kritisieren möchte und das wir aber
hier nicht ausdiskutieren können, ist, daß Sie mit Ihrer Setzung von Kunst und
Kunstschönem und dann mit Ihrer zweiten These etwas machen, was ich logisch nicht
zulässig finde, nämlich daß Sie einen bestimmten Kunstbegriff mit einer Wirkungsästhetik
verbinden. Die Wirkungsästhetik gehört ins 20. Jahrhundert. Der Kunstbegriff gehört ins
18. und 19. Jahrhundert. Das ist eine logische Schwierigkeit, die ich habe. Das dritte,
was ich sagen wollte, betrifft ein gewisses Unbehagen, das auch hier und da schon
geäußert wurde, und das ich auch nochmal unterstützen möchte. Es betrifft den von Ihnen
einfach gesetzten Kunstbegriff, von dem ich glaube, daß er für das 20. Jahrhundert nicht
mehr gilt. Die pädagogische Problematik besteht nicht darin, daß wir die große Kunst des
18. und 19. Jahrhunderts vermitteln. Wenn wir die nicht mehr vermitteln können, so hängt
das damit zusammen, daß die zugehörige Kultur, die bürgerliche Kultur, mehr und mehr
dabei ist auszusterben. Das Problem der Pädagogik ist vielmehr, daß sie sozusagen eine
zeitgenössische Pädagogik in dem |a 207|Sinne ist, daß sie auch die
zeitgenössische Kunst vermittelt. Und von der würde ich jetzt gern mal ein Merkmal in
den Vordergrund rücken, wo wir mit all dem, was an Wirkung, was an Alphabetisierung und
was letztlich auf ein hermeneutisches Modell zielt, nicht mehr weiterkommen. Es gilt
seit etwa 1915 als ein Programm, als eines der wichtigsten Programme der Kunst, zu
sagen: hier ist nichts mehr gemeint. Das bedeutet, daß alle Entzifferungen und alles
Bedeutungssuchen und all das einfach nicht mehr funktioniert. Daß hier nur über das
Bauhaus
gesprochen wurde, über alle die Dinge, die sich noch einem sehr konservativen
Kunstbegriff fügen, macht mich ein kleines bißchen nervös. Und dann vielleicht noch eine
unzulässige Anregung, weil ich nun keine Pädagogin im engeren Sinne bin. Was wäre
eigentlich gewonnen, wenn man davon ausginge, daß man den Begriff der ästhetischen
Erfahrung als das Primäre ansieht und man den Begriff der Kunst als einen Teil im Rahmen
dieser ästhetischen Erfahrung definiert? Ich würde da nicht einfach bei Pothast ansetzen, sondern ich würde da bei
einem Buch ansetzen, das ins Deutsche übersetzt wurde und merkwürdigerweise in der
Pädagogik fast nicht rezipiert wurde, das ist das Buch von John Dewey
„Ästhetische Erfahrung“
.
[V72:51] Schwenk
[V72:52] Ich habe den Eindruck, daß das Problem, das wir
diskutieren, eine gewisse Analogie zu dem Problem der Religionspädagogik hat. Erziehung
kann nicht zum Glauben führen: der Glaube entsteht durch Verkündigung des Wortes Gottes.
Wie Herr Mattenklott sagte: Majestät und
Autorität des Einzelwerks, also des realen Kunstwerks, ist nicht einzuholen durch eine
Heranführung. Die Wirkung der Eroika ist nicht konstruierbar aus Elementen. Genauso
würden die Religionspädagogen es formulieren. Jetzt die Frage an Klaus Mollenhauer: Du hast von Curricula, von ästhetischer Unterrichtung, vom
Bildungsprozeß gesprochen, vom Eingehen auf das Kunstschöne. Da kann ich mir als Laie
eigentlich gar nichts vorstellen. Es gibt ja schon Elementarisierungen in der
Musikerziehung, aber man kann damit nicht die Wirkung einer Sinfonie konstruieren,
sondern das ist etwas, was nicht mehr verfügbar ist. Man muß ganz offensichtlich an sie
heranführen. Und ich kann mir für die bildende Kunst etwas ganz Ähnliches
vorstellen.
[V72:53] Selle
[V72:54] Herr Mollenhauer hat leichterhand
gesagt, die Pädagogik müsse ja gar nicht praktisch werden. Er hat eigentlich jetzt den
sehr schönen Gegenbeweis selbst geliefert, in dem, was er geschrieben hat. Er war
eigentlich sehr nahe an der Praxis mit seinen beiden Thesen. Ich selber |a 208|komme mit Studenten, die das Produzieren, das Machen der Bilder lernen
sollen, in Situationen, in denen sicher etwas Elementares zunächst einmal geschehen ist,
in denen bestimmte Übersetzungen ästhetischer Erfahrungsprozesse laufen müssen und sich
auch vergegenständlichen, in Situationen also, die auch, ich will das Wort Alphabet
vermeiden, zu gewissen Formkonstellationen mit Bedeutungen führen. Darüber muß ich
sprechen und darüber müssen auch diese Studenten sprechen, u.a. mit dem Nebenziel nicht
nur der Bewußtmachung des ganzen Prozesses – soweit dieser überhaupt bewußt zu machen
ist –, sondern um auch an diese Grenze der Wortunfähigkeit zu stoßen, die dann
irgendwann vor dem Phänomen eintritt. Es kommt dieser Punkt, an dem etwas geschieht, das
gelingt, das nicht mehr sagbar ist, das einfach evident ist, gespürt werden kann. Man
muß trotzdem noch versuchen, darüber zu sprechen oder dieses Moment der eintretenden
Unfähigkeit wenigstens zu analysieren. Und nun, das finde ich eigentlich am
interessantesten an dem ganzen Beitrag, wäre festzustellen, wo denn eigentlich solche
Augenblicke im Bildungsprozeß sich manifestieren können. Also, wo sind sie beobachtbar
und passieren sie überhaupt, wo kann man sie nachweisen? Das ist jetzt für den Praktiker
natürlich überhaupt die Frage. An dieser Frage, nicht nur an den Produkten, kann er ja
messen, ob etwas bewußter geworden ist, sei es in Worten faßbar, sei es aber auch
jenseits der Wortgrenze. Er muß ja Augenblicke erfahren, in denen er sagen kann, das ist
in diesem oder jenem geschehen. Und das passiert beim praktischen Machen eben dort, wo
plötzlich Bilder entstehen, die vorher nicht denkbar waren, die auch nicht vorstellbar
waren, zu denen auch keine Aufgabe gestellt worden ist. Es wäre doch schrecklich, wenn
sich das Bildermachen dadurch erschöpfen würde, daß ein Alphabet, das vorgegeben würde,
sozusagen reproduziert wird. Meine Studenten und ich machen z. B. in den Produktionspausen oder bevor ein Nachmittag wieder beginnt, etwas, das
wir Galerie nennen. D. h. wir hängen ein oder zwei Bilder auf, die fertiggeworden sind oder so aussehen,
als ob sie fertig wären, und die Studenten sind aufgefordert, sich dazu zu äußern. Man
kann von einem bestimmten Augenblick an feststellen, daß einerseits die
Beschreibbarkeit, die Wortfähigkeit zugenommen hat, andererseits aber auch das stumme
Urteil sicherer geworden ist. Das, was an Zustimmung oder Ablehnung signalisiert wird,
hat einen höheren Grad von Überzeugtheit und Überzeugungsfähigkeit. Deswegen glaube ich,
daß die beiden Thesen, die Herr Mollenhauer vorgeschlagen
hat, und die ja auch akzeptiert oder kritisiert oder ausgeführt worden sind, durchaus
ihre Praxisrelevanz haben, wenn man ihre Begrenzung akzeptiert, wenn man sie als
Hilfsmittel sozusagen für eine Praxis auffaßt, die dann allerdings mit dem Kriterium der
Erfahrung arbeiten muß.
|a 209|
[V72:55] Schulze
[V72:56] Ich habe jetzt nach längerer Diskussion den Eindruck, als
wenn mit Alphabetisierung eigentlich so etwas wie kunstwissenschaftliche Bildung gemeint
sei, in dem Sinne, daß man sagt: es gibt viele Menschen, die die Bilder nicht richtig
lesen, und man müßte sie doch anleiten. Insbesondere lesen sie die Bilder der modernen
Kunst nicht richtig, und wenn man sie dazu anleitete, dann würden sie sie verstehen. Das
ist aber ein allgemeines Problem von Bildung, das für mich nicht der Metapher
Alphabetisierung bedarf, sondern das genauso für naturwissenschaftliche Probleme wie für
sozialwissenschaftliche Probleme gilt. Es ist eine Frage der allgemeinen Bildung bei
naturwissenschaftlichen Phänomenen. Von Phänomenen kann man genauso sagen, wenn ich das
mit meinen Naturerfahrungen zu erklären versuche, daß sie nur unzureichend verständlich
sind und daß ich sie besser verstehen muß. Für mich ist diese Frage viel zu sehr
eingeengt auf eine kunsthistorische Fragestellung. Sie müßte eigentlich eine
anthropologische sein. Sie müßte lauten: Was bedeutet denn eigentlich Sehen und etwas
richtig sehen? Wenn man dann noch sagen will,
„was bedeutet Lesen?“
,
dann muß man erst einmal zurückgehen, dann kann man nicht bei der modernen Kunst
anfangen, sondern muß zurückgehen und fragen: wie kommt man überhaupt dazu, Bilder zu
produzieren oder was veranlaßt uns, eine Melodie zu komponieren? Ich denke, wir müßten
eigentlich nach den Bedingungen fragen, nach unserem Anspruch an das Sehen.
[V72:57] Mollenhauer
[V72:58] Zwei kleine Bemerkungen zum Schluß. Es hat mich verwundert,
Frau de la Motte, daß Sie mir
unterstellten, meine Vorstellung über das, was ich vorgetragen habe, oder neulich
vorgetragen hatte, sei orientiert an der Kunstproduktion des 19. Jahrhunderts. Ich habe
nicht verstanden, aus welchen Passagen meines Textes Sie gerade diese Meinung gewonnen
haben.
[V72:59] de la Motte
[V72:60] Irgendwo ist das Neuartige in der Kunstproduktion des 20.
Jahrhunderts das Intentionslose. Ich glaube, daß Sie doch mehr Kunst als Intention im
Sinn hatten.
[V72:61] Mollenhauer
[V72:62] Das war eine abkürzende Vokabel, die im Text selber nicht
vorkommt, die ich nur in den einleitenden Bemerkungen verwendet habe, um den Gegenstand,
über den ich spreche, einzuschränken. Ich könnte ja auch über Ästhetisches so reden, daß
ich mich an den griechischen |a 210|Wortsinn von aisthesis erinnere und in diesem Zuammenhang eine viel breitere
Fragestellung eröffne. Eine solche Breite schien mir untunlich zu sein. Die Frage, ob
ästhetische Objekte eine Bedeutung haben oder nicht, ist eine Frage, die ich nicht denen
zur Entscheidung stellen würde, die sie produzieren, sondern dem Kulturzusammenhang, in
dem sie fungieren. [V72:63] Dann noch ein Hinweis auf die
pädagogische Komponente dessen, was in unserer Diskussion nicht so im Vordergrund stand:
Ich sage jetzt mal etwas ganz Naives und Triviales. Was mich auf einer ganz elementaren
Ebene beschäftigt, ist die Frage, was sich bei Menschen ereignet, wenn sie in
irgendeiner Form selbst ästhetisch tätig werden oder wenn sie mit ästhetischen Objekten
konfrontiert werden. Meine Vermutung geht dahin, daß das Charakteristische und
bildungstheoretisch Interessante derartiger Ereignisse seinen Grund darin hat, daß die
ästhetischen Formen, die
„Sprachen“
der Kunst, ein besonderes
Leibverhältnis anzeigen, daß sie deshalb eine besondere Klasse von Empfindungen
hervorbringen und daß sie unter diesen Bedingungen ein Verhältnis des Ich zu sich selbst
möglich machen, das Karl-Heinz Bohrer,
wenngleich in starker historischer Einschränkung auf die Frühromantik, das
„ästhetische Ich“
genannt hat.