Gibt es für die Erziehungswissenschaft eine Zukunftsperspektive?
1. Nationale Bestände
2. Deutsche Bedenklichkeiten
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(1)[117:11] Schon relativ früh, am Beginn des 19. Jahrhunderts, entstand die Idee eines Bildungsrechtes, das nicht, wie etwa Unterrichtsgeset|a 27|zentwurf, qualifikationen für den bürgerlichen Arbeitsmarkt zu sichern sucht, sondern seinen Grund in der Idee allgemeiner Menschenbildung formuliert. Hundert Jahre später nahm das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz diese Idee für die außerschulischen Erziehungsverhältnisse auf und proklamierte:“Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung”
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(2)[117:12] Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat die im Bereich pädagogischer Praxis angesiedelte“Reformbewegung”viele Akademiker veranlaßt, in ihren Argumentationen sich auf diese zu beziehen. Da es sich um eine Bewegung der“Praxis”handelte, und da Pädagogik einstmals ein Zweig der praktischen Philosophie war, konnte der Eindruck entstehen, hier würde verhandelt, was Gegenstand der Erziehungswissenschaft sein sollte. Da nun die Reformbewegung nicht nur in den Schulen stattfand, sondern auch in den Erziehungseinrichtungen außerhalb der Schule, in Jugendverbänden, Erziehungsheimen, Jugendstrafanstalten, entstand die Idee eines“pädagogischen Grundgedankens”(), der in sich einheitlich sei, aber in pädagogische Teildisziplinen differenziert werden könne.
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(3)[117:13] Die Schwierigkeiten der Transformation des überlieferten Ausbildungs- und Erziehungssystems in eine moderne Gestalt – andere Länder hatten das ohne großen ideologischen Aufwand längst betrieben – bewirkte im Ausbau der Disziplin einen neuen Schub. Die reformpädagogischen Ideologie-Bestände konnten genutz werden; die sozialwissenschaftlichen Argumentationen fanden nun, angesichts der Chancengleichheits-Debatte, ihr Feld; die Empirie in der Erziehungswissenschaft konnte endlich voll zum Zuge kommen. Auch dies hatte seinen Grund nicht in irgendeiner“Logik der Sache”; sondern in Systembedingungen: im Modernitätsrückstand des deutschen Bildungssystems. Wie man aus den unzähligen Gutachten und Expertisen des Deutschen Bildungsrates entnehmen kann, wären soziologischer und psychologiicher Sachverstand hinreichend gewesen, um die Probleme zu bearbeiten. Die Gunst der Stunde aber verhalf der Erziehungswissenschaft zu jenem Ausbau, jener Konsolidierung und inneren Differenzierung, die die empirische Wissenschaftsforschung heute beschreiben kann.
3. Zukunftsfähige Problemstellungen
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–[117:20] Die Wissensproduktion, die sich empirisch und kritisch auf die Disparität von Lebenschancen bezog, hatte besonders im Hinblick auf die Funktionsweise des Schulsystems ein breites Forschungsfeld hervorgebracht. Die Folge dieser Wissensproduktion war die quantitativ deutlich spürbare Herabsetzung der Selektions-Mechanismen, eine Vermehrung der Schüler|a 30|zahlen in der Sekundarstufe, eine Vermehrung der Hochschulabsolventen, eine weniger starke Disparität zwischen den sozialen Schichten. Es war aber damit, wie wir heute sehen, ein Risiko verbunden: eine noch schärfere Selektion des verbleibenden Restes und, kulturgeschichtlich vermutlich noch folgenreicher, eine kulturelle Enterbung, eine Proletarisierung des gesellschaftlichen Nachwuchses: der Nachwuchs wurde zum“homo educandus”, der, so wie er in diesem Blick des Wissens konstruiert ist, nichts sein eigen nennt, außer seiner Lernfähigkeit (Wünsche 1985). Das Kind ist in dieser Perspektive, die Terminologie verrät es, nur noch“the learner”.
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–[117:21] Für eine empirisch begründete Curriculum-Konstruktion sind Einsichten in die Regeln kognitiver Entwicklung unerläßlich. Die Rationalität empirischer Wissensproduktion erfordert detaillierte Genauigkeit. So verfügen wir heute in vielen Dimensionen kognitiver Entwicklung über eine relativ fein gegliederte Abfolge von Stufen oder Stadien. Damit aber ändert sich der Blick, mit dem die ältere Generation die jüngere betrachtet. Die lebensweltlich spontane,“naive”Freude am ersten Schritt des Kindes, am ersten Satz, am ersten Schriftzeichen usw. wird konterkariert durch die sorgenvolle Frage, ob derartige Ereignisse nicht vielleicht zu spät eingetreten sind.“The learner”ist nicht nur abstrakt geworden, sondern nun auch, in der Konstruktion des homo educandus, in eine lineare Fortschrittsfolge eingespannt, deren Schritte zudem noch kausal miteinander verknüpft werden.
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–[117:22] Mein drittes Beispiel betrifft die erwachsene Generation, vornehmlich die Eltern. Die Konstruktion des homo educandus in den Strategien der Sozialisationsforschung, der Lerntheorie und der Entwicklungstheorie hatte ihr kulturgeschichtliches Motiv im Emanzipationsinteresse: die Verselbständigung des Individuums gegenüber den traditionalen Bevormundungen. Der kontinuierliche Ausbau des Wissens über die offenen und die verdeckten Formen solcher Bevormundungen und Abhängigkeiten hat nicht nur zu Reformen des Schulsystems geführt, sondern auch zu den Norm-Werten einer 100%igen Versorgung mit Kindergartenplätzen und zur Einrichtung von Kinderkrippen, freilich kräftig unterstützt, von Anfang an, durch Interessen des Arbeitsmarktes und der Frauen-Emanzipation. Es hat sich außerdem verknüpft mit Problemstellungen der Jugendforschung, die nun außerfamiliale und außerschulische Lebensformen Jugendlicher, unter dem Namen Subkultur, als selbständige kulturelle Leistungen empirisch zu studieren versucht. Diese Wissensproduktion beschreibt und befördert eine Abkoppelung der Generationen voneinander. Symptom dieses Vorgangs ist die Diskussion um das neue Jugendhilfe-Recht in Deutschland: ein wesentlicher Streitpunkt liegt darin, daß die rechtliche Unabhängigkeit des Kindes und Jugendlichen vom Elternhaus nicht besser gesichert ist. Mit dem Wissen, das die pädagogische und vor allem soziologische Jugendforschung angesammelt. hat, läßt sich diese Erwartung gut stützen. Die Folge dieser Art von Wissen ist nun die Tendenz (noch nicht im neuen |a 31|KJHG, aber in der Diskussion darüber), an die Stelle der“Erziehungsberechtigten”(those who have the right to educate their children) die“Unterhaltspflichtigen”(those who are obliged to pay for education) zu setzen. Das ist eine durchaus funktionale Konsequenz, die den Namen“Modernisierung”gewiß verdient.
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–[117:25] Die aus dem modernen Mündigkeits- oder Emanzipations-Interesse erwachsene Konstruktion des homo educandus ist risikobelastet. Die kulturellen Folgekosten bleiben unaufgeklärt. Welche Konsequenzen mit der“Nullpunkt”-Hypothese verbunden sind, mit der Annahme also, wir könnten das Kind nur als“Lerner”interpretieren, wissen wir derzeit nicht zuverlässig.
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–[117:26] Die aus dieser“Nullpunkt”-Hypothese wissenschaftslogisch gefolgerte Annahme, wir könnten und müßten also die Theorien über Erziehung und Bildung prognostisch konzipieren, gilt, wie wir wissen, nur unter der Bedingung der“ceteris paribus”-Klausel: wenn alles so bleibt, wie es ist. Dies aber läßt sich nur unter totalitären Bedingungen annehmen, und selbst dort, wie wir gesehen haben, nicht zuverlässig. Angeblich prognostisches Wissen ist also riskant, jedenfalls in der Erziehung. Es gibt nicht nur, wie schrieb, zu“jedem Gedanken einen Gegengedanken”
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–[117:27] Eine dritte Belehrung ist von kulturtheoretischer Art. Die Konstruktion des“homo educandus”hat zur Grundlage nicht etwa wissenschaftliche Erkenntnis, sondern einen kulturellen Entwurf von Bildung und Erziehung. Dieser Entwurf steht in einer historischen Reihe mit anderen Entwürfen. Man kann ihn, in kulturhistoriographischer Einstellung, so behandeln wie andere Erziehungs-Mythen, als Zeichen- oder Symbolsystem, an dessen Instrumentierung sich dann allerdings nicht nur der kulturelle Alltag, sondern auch die Erziehungswissenschaft beteiligt.
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(1)[117:29] Als Praxis wie als Wissenschaft war die Pädagogik kräftig am Prozeß der gesellichaftlichen Modernisierung beteiligt. Dies zu“reflektieten”, d. h. sich zurückzubeugen auf diesen Sachverhalt bedeutet, die Folgen dieser Modernisierung ins Auge zu fassen und den pädagogischen Diskurs als Mitproduzent gegenwärtiger Krisenerscheinungen zu beschreiben (Oelkers 1990). Das geschieht unter dem Namen pädagogischer Mythen-Kritik Lenzen 1985 ebenso wie in der gerade beginnenden Wissenschaftsforschung (Tenorth 1990, Zedler/König 1989). In beiden Fällen werden die primären pädagogischen Wissens- und Orientierungsbestände unserer Kultur, deren Sichtweise (“Auge”), noch einmal ins Auge gefaßt;“Erziehungswissenschaft”wird hier zur kritischen Kulturtheorie.
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(2)[117:30] Eine dezidiert reflexive Form pädagogischen Sehens wird auch von ganz anderer Seite her in Gang gebracht: die Vorbehalte gegenüber der mndernen, kognitivistisch zugeschnittenen Bildungs- und Entwicklungstheorie haben zu einer Wiederbelebung phänomenologischer Traditionen geführt . Die der Moderne zugehörenden“Illusionen von Autonomie”(Meyer-Drawe 1990) werden selbstkritisch revidiert, und zwar so, daß sich ein Bildungsbegriff zu konturieren scheint, indem die leibgebundenheit der Bildung und damit ihre ästhetische Dimension an eine privilegierte Stelle im systematischen Nachdenken aufrücken. Auch dies scheint ein europäischer Vorgang zu sein. Wenn die vernunftsförmig aufgeklärten Zukunftsprojektionen ins Dilemma führen, weil sie möglicherweise nicht verhindern, daß der Globus zur Ruine wird, dann liegt die phänomenologisch-ästhetische Reflexion des Bildungsbegriffs nahe. Hardliner der Moderne halten das gelegentlich für“affirmativ”(so Bourdieu 1979), aber völlig zu Unrecht, denn erst in dieser Sichtweise bekommen wir die schwierig gewordenen Konstruktionen von Bildung in der Zeit reflexiv in den Blick.
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(3)[117:31] Es scheint also, als seien wir mißtrauisch geworden gegen die Zeitstruktur des Bildungsbegriffs der Moderne, gegen die Verlängerung unserer der Aufklärung entstammenden Zukunftshoffnungen und ihren gut gemeinten Utopien, überhaupt gegen das Projekt der Planbarkeit von Erziehung |a 33|und Bildung. Dieses Mißtrauen dokumentiert sich in einem dritten Typus von Forschung und Wissensproduktion; ich möchte ihn lebensweltorientierte“dichte”(Geertz) Beschreibung nennen. Der Terminus nimmt Bezug auf die bekannte Unterscheidung von“System”und“Lebenswelt”(Habermas 1981), die forschungsgeschichtlich ihre Vorläufer oder Anfänge in der angelsächsischen“Ethnomethodologie”hat und in den interaktionstheoretisch stimulierten Devianz-Untersuchungen in England und den USA vor 30 Jahren. Dort schon war die Frage, welche Folgekosten ein abstrakt und universell konzipiertes Bildungssystem erzeugt, und zwar für diejenigen, die ihrer kulturellen Herkunft nach innerhalb dieses Systems nur geringe Chancen haben können. Erst heute kommt uns der reflexive Charakter dieser Wissensproduktion recht zum Bewußtsein. Unter verschiedenen Etiketten – mal heißt es“Lebenswelt”, mal“Subkultur”, mal“Alltag”, mal“Regionalforschung”– wird eine syetemische Disparität zum Thema gemacht, die zwar immer noch dem republikanischen Gleichheitspostulat folgt, aber in seine Schwierigkeiten tiefer einzudringen versucht. Das Problem wird nicht mehr nur, wie noch vor 10 Jahren, in der Chancen-Disparität gesehen, erzeugt durch unterschiedliche sozio-ökonomische Ausgangslagen, sondern in einer Disparität universeller Art: der Differenz zwischen den Systemimperativen moderner Sozietäten, den formalisierten Modellen von Bildung auf der einen Seite – und den Zeichenwelten primärer kultureller Lokalisierung und Erfahrung auf der anderen.“Reflexiv”wird diese Beobachtung dann – und nur dann –, wenn im Blick bleibt, daß auch diesen Zeichenwelten der kulturellen Herkunft die Systemimperative immer schon eingeschrieben sind, jedenfalls in Europa. Es müssen sich dann nämlich der“ethnomethodologische”und der“systemimperative”Blick ständig aneinander brechen. Nicht erst unsere Wissenschaft, sondern schon die Lebenserwartungen des Nachwuchses moderner Gesellschaften enthalten diese beiden zur Reflexion auffordernden Komponenten.
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(4)[117:32] Eine Zukunftsvorstellung von reflekivem pädagogischen Wissen hat also eines ihrer Motive auch in dem, was wir in Anlehnung an die idealistische Philosophie“Praxis”nennen, die Verständigung über die vernünftigen Zwecke des sozialen Lebens. Wie auch immer wir die Praxen des Lebens konstruieren mögen (Benner 1987), vorläufig scheint sicher, daß wir sie alle auf den Vorgang des Heranwachsens beziehen müssen und daß wir überdies die Frage zu beantworten hahen, wie die gesellschaftlichen Determinationen, z. B. die Differenz von“Lebenswelt”und“System”, in pädagogisches Handeln, in akzeptable Formen des Umgangs der Generationen untereinander überführt werden können. Vielleicht ist dies die schwierigste Reflexionsbürde, weil sie uns nicht nur die Reflexion der wissenschaftlichen Einstellungen abverlangt, sondern diese noch einmal durch die Perspektive der Praxis bricht. Praxeologisches Wissen wäre dann die vierte Form des erziehungswissenschaftlichen Wissens, das ich“reflexiv”nenne.
Literatur
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∙[117:34] Benner, D.: Allgemeine Pädagogik, Weinheim/München 1987.
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∙[117:35] Bourdieu, P.: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M. 1979.
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∙[117:36] Gebauer, G./Kamper, D./Lenzen, D./Mattenklott, G./Wulf, Chr./Wünsche, K.: Historische Anthropologie, Reinbek 1989.
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∙[117:37] Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1981.
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∙[117:38] Keiner, E./Schriewer, J.: Fach oder Disziplin, in: ZfPäd., Jg. 36, 1990, S. 99 f.
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∙[117:39] Lenzen, D.: Mythologie der Kindheit, Reinbek 1985.
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∙[117:40] Lenzen, D.: Pädagogisches Risikowissen, Mythologie der Erziehung und pädagogische Methexis, in: ZfPäd., 25. Beiheft (im Druck).
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∙[117:41] Meyer-Drawe, K.: Illusionen von Autonomie, München 1990.
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∙[117:42] Oelkers, J.: Erziehen und Unterrichten, Darmstadt 1985.
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∙[117:43] Oelkers, J.: Utopie und Wirklichkeit, in: ZfPäd., Jg. 36, 1990, S. 1 ff.
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∙[117:44] Pothast, U.: Über einige Fragen der Selbstbeziehung, Frankfurt/M. 1971.
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∙[117:45] Roeder, P. M.: Erziehungswissenschaften – Kommunikation in einer ausdifferenzierten Erziehungswissenschaft, in: ZfPäd., Jg. 36, 1990, S. 651 – 670.
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∙[117:46] Schleiermacher, F. D.: Pädagogische Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Berlin/Wien 1983.
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∙[117:47] Tenorth, H. E.: Transformationen der Pädagogik, in: 2O. Beiheft der ZfPäd., Weinheim 1986, S.21 – 85.
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∙[117:48] Wünsche, K.: Die Endlichkeit der pädagogischen Bewegung, in: Neue Sammlung, Jg. 25, 1985, S. 432 – 449.
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∙[117:49] Zedler, P./König, E. (Hrsg.): Rekonstruktionen pädagogischer Wissenschaftsgeschichte, Weinheim 1989.