Einleitung [Textfassung a]
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Einleitung:

Ästhetisches Verstehen und Bildung

[V76:1] Die hier vorgelegte Studie entstand im Zusammenhang eines größeren Forschungsprojektes, 1990 begonnen, 1993 hoffentlich abgeschlossen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert, durchgeführt von zwei hauptamtlichen Mitgliedern der Forschungsgruppe und mehreren Studierenden, darunter einige studentische bzw. wissenschaftliche Hilfskräfte. Das Forschungsprojekt hat den Titel
Ästhetische Bildung
und verfolgt das Ziel zu ermitteln, was sich ereignet, wenn (10 – 14jährige) Kinder Erfahrungen machen, die wir gemeinhin als
ästhetische
bezeichnen und von denen überdies häufig behauptet wird, daß sie
bildend
seien.
[V76:2] Nun gibt es zu dieser Frage freilich eine reichhaltige Literatur. Obwohl diese Literatur nicht nur wichtige Fragen, sondern auch wichtige Antworten enthält, mehr oder weniger zuverlässig, konnte sie uns in einigen Hinsichten nicht befriedigen:
  • [V76:3] Die Didaktik des Kunst- und Musikunterrichts an Schulen konzentriert sich zumeist auf die Frage, was gelehrt werden soll und wie die Lehre gestaltet werden könne. Demgegenüber tritt eher zurück und wird kaum erforscht, was sich denn eigentlich ereignet im Umgang des Kindes/Jugendlichen mit ästhetischen Gegenständen und in seinen eigenen Versuchen der Hervorbringung eines ästhetischen Produktes. Behauptungen über den Wirkungszusammenhang ästhetischer Ereignisse werden zwar häufig formuliert, haben aber zumeist die logische Form von Definition und sind keine Folgerungen aus zweckdienlicher empirischer Forschung.
  • [V76:4] Die therapeutische Literatur (z.B. Kunsttherapie, Gestaltungstherapie, Musiktherapie, Bewegungstherapie etc.) versucht, diesen Mangel zu kompensieren und konzentriert sich zumeist auf das selbst hervorgebrachte Produkt und das, was Prozeß und Produkt für den seelisch-geistigen Zustand des Individuums und seine Veränderung bedeuten könnten. Von den Fortschritten und Schwierigkeiten der Theorie der Ästhetik nehmen solche Publikationen allerdings in der Regel wenig Notiz; sie verlassen sich zumeist auf solche Theorien, die die Genese der
    Innenwelt
    des Individuums zum Gegenstand haben (meistens Varianten der Tiefenpsychologie), und die ästhetische Erfahrungen eher als Anwendungsfall tiefenpsychologischer Vorstellungen interpretieren.
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  • [V76:5] Um solchen, gelegentlich als unfruchtbar beurteilten Alternativen zu entgehen, häufen sich gegenwärtig Versuche, sich an die Ursprungsbedeutung von
    ästhetisch
    (Aisthesis = Wahrnehmung) zu erinnern und als
    ästhetische Bildung
    alles das zu bezeichnen, was unseren Sinnen vorsprachlich und vorrational zugeführt und dann zu Erfahrungen verarbeitet wird. Auch diese Theorie- oder Begriffsvariante konnte uns nicht befriedigen, weil sie die kulturhistorische und ethnographische Tatsache unberücksichtigt läßt, daß – soweit wir wissen – immer ein kategorialer Unterschied gemacht wird zwischen der primären Sinnentätigkeit und -Erfahrung des Individuums und den kulturellen Objektivationen, in denen solche Erfahrungen auf
    Formeln
    gebracht werden. Solche
    Formeln
    müssen nicht der kulturellen Objektklasse zugerechnet werden, die wir neuzeitlich
    Kunst
    nennen. Sie müssen aber einen – freilich noch näher zu bestimmenden – Objektstatus haben.
[V76:6] Um das Unbehagen an derartigen Zurichtungen des Problems
ästhetischer Bildung
zu begründen und daraus eine eigene Forschungsfragestellung gewinnen zu können, haben wir Folgendes getan:
  • [V76:7] Wir haben uns mit dem gegenwärtigen Stand der philosophischen Ästhetikdiskussion vertraut gemacht und dabei auch Autoren studiert, die in den üblichen Zitationsritualen nicht oder nur selten auftauchen (z.B. Ricoeur, König, Pothast).
  • [V76:8] Wir haben gefragt, ob die Problemstellungen ästhetischer Bildung nicht durchaus verschieden sind, je bezogen auf die einzelnen Sinnesmedien und deshalb sowohl die neueren Kontroversen der Kunstwissenschaft als auch der Musikästhetik studiert (Boehm, Imdahl, Dahlhaus, Faltin).
  • [V76:9] Wir haben zu bestimmen versucht, welche Charakteristik einem
    ästhetischen Symbol
    zugesprochen werden kann, und zwar in Hinsicht auf dessen Objekt-Merkmale. Die (beispielsweise) psychoanalytischen Symboltheorien waren dabei zwar wichtig, aber nicht leitend.
  • [V76:10] Und wir haben gefragt, ob – wenn es denn eine besondere
    ästhetische Bildung
    , unterschieden von anderen geben sollte – die Symbolisierungen des Kindes/Jugendlichen und also die besondere Qualität solcher Objekte Hinweise enthalten auf das, was man die
    bildende Wirkung ästhetischer Ereignisse
    nennen könnte, wie also die sinnlich zugängliche Qualität von ästhetischen Produkten mit der
    Innenwelt
    von Produzenten/Rezipienten verbunden sein könnte.
[V76:11] Angesichts des breiten Problempanoramas mußten wir uns beschränken. Wir haben das, grob gesprochen, durch drei Entscheidungen getan:
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  1. 1.
    [V76:12] Wir beschränken uns auf Bild und Musik.
  2. 2.
    [V76:13] Wir analysieren nur in verschiedenen Experimentalsettings erhobene ästhetische Produkte (oder Produktreihen) der Kinder/Jugendlichen, ergänzt durch sprachliche Kommentare.
  3. 3.
    [V76:14] Wir machen möglichst keinen Gebrauch von psychologischen, psychoanalytischen oder soziologischen Theorien (wenngleich wir sie im Kopf zu halten versuchen), sondern verwenden vornehmlich solche, die der Kunst- und Musikwissenschaft entstammen, samt der dazugehörenden philosophischen Klärungen und Bildungshypothesen.
[V76:15] Die hier nun vorgelegten Studien betreffen den Musik-Teil des Projektes und innerhalb desselben die Frage, was
musikalisches Verstehen
sei.
Verstehen
ist ein Moment von Bildung, und zwar ein gewichtiges. Das dürfte unstrittig sein, wenn man zugesteht, daß das, was in den Schulen geschieht, nur einen Bruchteil von
Bildung
ausmacht, und wenn man den allgemeinen Beschreibungen dieses Begriffs als Vorgang und Resultat von
Weltaneignung
und
Kräftebildung
(Humboldt) oder von
Assimilation
und
Akkomodation
(Piaget) und Ähnlichem folgt. Ohne solche Akte, die wir
Verstehen
nennen, läßt sich der
Bildung
genannte Vorgang nicht gut beschreiben, jedenfalls dann nicht, wenn man sich mit Hinweisen auf Instinktregulierung und Verhaltenskonditionierung nicht zufrieden geben mag.
[V76:16] Wie also ist die Operation, die wir
Verstehen
nennen, innerhalb der Bildung lokalisiert? An dem Vorgang der Bildung des Individuums sind – wenn wir die verschiedenen Forschungsrichtungen zur Kenntnis nehmen, die sich um dessen Aufklärung bemühen – zahlreiche Komponenten beteiligt, (daß es auch eine Verengung des Bildungsbegriffes, im 19. Jahrhundert entstanden, auf institutionalisierte Lehr-Lern-Zusammenhänge hin gibt, lassen wir hier unerörtert ) z.B.: Physiologische Sachverhalte und deren Veränderung in der Zeit; entwicklungslogisch bestimmbare Stufen oder Phasen der Entstehung kognitiver Fähigkeiten, also vor allem Begriffs- und Urteilsbildung; Formungen durch die sozialen Merkmale von Milieus; Erwerb der Fähigkeiten zur Interaktion in persönlichen Beziehungen; kulturspezifische Modellierung der menschlichen Sinnlichkeit usw. In vielen dieser Hinsichten spielt
Verstehen
eine Rolle. In der Literatur wird diese Operation zumeist erläutert als eine Dimension sozialer Interaktion, und zwar vorwiegend im Medium der Sprache, als die Fähigkeit des Codierens und Deco|a 10|dierens sprachlicher Äußerungen, besonders aber als die Fähigkeit, sich in die Perspektive des anderen hineinversetzen zu können. Die Übernahme der Perspektive eines anderen setzt eine eigene voraus. Das gilt für Personen, für Texte, für symbolische Präsentationen überhaupt. Sich mit der jeweils anderen Perspektive als anderer bekannt zu machen, kann nur gelingen, sofern nicht nur ein Bewußtsein von der möglichen Perspektiven-Differenz besteht, sondern auch die eigene ins Spiel kommt (das haben Piaget und seine Nachfolger überzeugend zeigen können). Gehört also die Differenz zwischen Ich und (personalem wie sachlichem) Nicht-Ich zum Repertoire des individuellen Bewußtseins und kann diese Bewußtseins-Komponente in Auseinandersetzung mit Anderem praktisch zur Geltung gebracht werden (das prägt sich ungefähr in derjenigen Alterskohorte, von der in den folgenden Studien die Rede sein wird, deutlich aus), dann darf man vermuten, daß die Operation, die wir
Verstehen
nennen, möglich und zu einer wesentlichen Komponente von
Bildung
wird. Mit der Tatsache der notwendig ins Spiel zu bringenden eigenen Perspektive ist aber eine Schwierigkeit verbunden: es gibt im Verstehensvorgang einen schwer (wenn überhaupt) zu objektivierenden Anteil der eigenen
Innenwelt
; habe ich ein Objekt meiner Zuwendung
verstanden
, dann habe ich auch einen Teil meiner selbst verstanden; im Vorgang des Verstehens fremden Sinns konstruiert sich auch der Entwurf, den ich mir von mir selbst mache. Schleiermacher hat diese Komponente der Hermeneutik
divinatorisch
(divinieren = raten, ahnen) genannt und sie als unerläßlich für gelingendes Verstehen bezeichnet. Jeder Verstehensakt ist deshalb auch ein Selbstbildungs-Ereignis, eine – wenn auch divinatorische – Artikulation meiner Innenwelt in Bezug auf Anderes.
[V76:17] Genau diese Komponente des Verstehens-Vorganges ist es, die im Falle des Verstehens nicht-sprachlicher Sachverhalte besonders deutlich hervortritt. Keine Schwierigkeit macht es uns zunächst offenbar, auch von nicht-sprachlichen Ereignissen zu sagen, man könne sie verstehen, beispielsweise dadurch, daß wir etwa Körpergesten als Ausdruck für das Innenleben einer Person oder als kommunikativ-informative Mitteilung denken. Aber wie steht es mit ästhetischen Objekten im engeren Sinn? Mit einer Säule, einer Fassade, einem Bild, einem Stück Musik? Die Musik ist der schwierigste Fall und deshalb am besten geeignet, das Problem auf die Spitze zu treiben: sie scheint das am wenigsten anschauliche Medium zu sein; ob man überhaupt sagen kann, eine musikalische Figuration
bedeute
etwas, habe einen bestimmbaren semantischen Gehalt, ist in der Musikäs|a 11|thetik höchst strittig; die gelegentlich von Therapeuten vorgenommenen Konnotationen von musikalischem Material und bestimmten Gefühlen sind kaum beweiskräftig, weil je die individuelle Varianz zu groß ist; allenfalls die konventionell eingespielten Zuordnungen musikalischer Figurationen und Empfindungs- bzw. Vorstellungsrichtungen können in einigen Fällen ermittelt werden; die Tatsache aber, daß der Organismus durch Musik in bestimmter Weise erregt werden kann, hat noch nichts mit
Verstehen
zu tun. Denn dieses muß sich – wie beim Wort, das wir nur verstehen, wenn wir uns die Regeln aneignen, nach denen das verbale Material geordnet ist und in die Interaktion eingebracht wird – auf das musikalische Material beziehen. In dieser Bezugnahme spielen, wenn man das oben im Hinblick auf
Verstehen
gesagte akzeptiert, zwei Hinsichten eine besondere Rolle:
musikalisches Material
, die innerhalb eines kulturellen Horizonts im Prinzip als ästhetisch möglich geltenden Töne/Geräusche, tritt in je bestimmter Ordnung in Erscheinung – in Intervallen, Rhythmen, Klangfarben usw. – und muß in dieser Hinsicht begriffen werden; es mutet aber darüberhinaus dem Hörer oder Spieler etwas zu, das man eine
Korrespondenzleistung
nennen könnte: die zum musikalischen Material passende innere Bewegtheit in sich selbst zu finden – z.B. dadurch, daß beim Hören oder Spielen mit Korrespondenz-Entwürfen solange experimentiert wird, bis eine subjektiv als befriedigend empfundene Passung erreicht ist. Dieser Vorgang, obwohl wir auch ihn
Verstehen
nennen, ist in wesentlichen Hinsichten anders beschaffen als beim Wort-Verstehen. Noch deutlicher als beim Bildverstehen, das, z.B. über Figürliches, immer noch eine wenigstens plausible Brücke zum Wort zuzulassen scheint, ist das Musik-Verstehen ohne fundamentale Bezugnahme auf Leiblichkeit nicht zu beschreiben; deshalb ist es der exponierteste Fall ästhetischen Verstehens.
[V76:18] Nach einer von den Vertretern des symbolischen Interaktionismus favorisierten Definition ist das Verstehen einer signifikanten Geste (Körpergeste, Satz, Bild, Musik usw.): das Hervorbringen derjenigen Empfindungen/Vorstellungen/Ideen, die die Hervorbringung der Geste als signifikante möglich gemacht haben. Der Musikwissenschaftler Faltin nennt das
Nachvollzug
. Demnach wäre man der Erläuterung dessen, was musikalisches Verstehen ist, wesentlich näher gekommen, wenn es gelingt zu zeigen, was eigentlich nachvollzogen wird und wie das geschieht. Man hätte dann einen wichtigen Baustein für das, was
ästhetische Bildung
genannt werden darf.
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[V76:19] Die folgenden drei Fallstudien versuchen, am Beispiel empirischer Dokumente zu erörtern, wie die
Verstehen
genannte Operation im Hinblick auf Musik beschrieben werden könnte.
[V76:20] Verstehen ist indessen nicht nur eine Alltagsoperation im Prozeß der Menschenbildung, sondern auch ein wissenschaftliches Verfahren. Die drei Fallstudien sind ein Beispiel für
qualitative Forschung
, wie es in den Sozialwissenschaften seit einiger Zeit heißt. Für diese gilt, daß man die je interessierenden Phänomene nicht subsumptionslogisch den theoretischen Konstrukten zuordnet, sondern daß deren besondere Charakteristik hermeneutisch in
dichten Beschreibungen
(Clifford Geertz) ) erkenntniszugänglich gemacht wird. Man darf also die folgenden Studien unter zwei Fragen kritisch lesen: sind es hinreichend
dichte
Beschreibungen im Sinne der Hermeneutik/der qualitativen Forschung als Verfahren der Wissenschaft? Sind diese geeignet, nun etwas deutlicher zu sehen, was
musikalisches Verstehen von Kindern
, als Moment ihrer Bildung, sein könnte?
[V76:21] Die folgenden drei Studien gehen die Frage, was musikalisches Verstehen bei Kindern sein könnte nicht direkt an. Sie umkreisen das Problem und erlauben so einen immer anderen Blick auf die Sache. Das zeigt sich schon in der methodischen Anlage.
  • [V76:22] Die erste Studie gehört dem Genre zu, das gemeinhin
    rezeptionsästhetisch
    genannt wird: Den Kindern wurde ein Musikstück vorgespielt (Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung, sechstes Stück) und sie wurden ermuntert, sich erzählend dazu zu äußern. Die Frage ist: Was haben die narrativen Einfälle mit dem Stück zu tun, sind diese Einfälle mögliche Indikatoren für Musik-Verstehen und haben solche Einfälle überhaupt einen mehr als nur konventionell-konnotativen Bezug zur Musik?
  • [V76:23] Die zweite Studie nimmt einen ganz anderen Blickpunkt ein. Hier ist die Frage: Bedeutet das Instrumentalspiel einer Komposition (eine Gavotte von Bach, auf der Violine gespielt) in den allmählich sich an das Werk annähernden Übungsschritten, daß diese Komposition Schritt für Schritt besser
    verstanden
    wird? Und was hat in diesem Fall der Ausdruck
    Verstehen
    zum Inhalt? Wie verhält sich
    Verstehen
    zur imitatorischen Kopie-Genauigkeit des Notenbildes? Kann es diese überhaupt geben? Gibt es
    kreative
    Anteile im Aneignungsprozeß, die für
    Verstehen
    unerläßlich sind?
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  • [V76:24] Die dritte Studie greift diese letzte Frage energischer auf, nun ohne Vorbild. Es ist die Annalyse einer Improvisation, die ein 12-jähriger Junge aus einer heilpädagogischen Kindertagesstätte hervorbrachte. Hier gibt es deutlicher noch als in den anderen beiden Fällen zwei Verstehensfragen: Was heißt es, wenn die Forscherin, im Beobachterstatus, vermeint, durch die Analyse der vom Kind hervorgebrachten Musik dieses Produkt zu verstehen? Und was heißt es, wenn, im Durchgang durch diese Analyse, die musikalische Auseinandersetzung des Kindes mit seinem eigenen Produkt, im Vorgang des Produzierens, ein musikalischer Verstehens-Akt genannt wird?
[V76:25] Derartige Forschungsversuche, die keine Anleihen bei Psychologie oder Psychoanalyse machen, sondern die Werkcharakteristiken in den Mittelpunkt stellen, gibt es zur Zeit kaum, weder in der musikpädagogischen noch in der musiktherapeutischen Literatur. Man darf also neugierig werden.