Schwierigkeiten in der Rede über ästhetische Bildung [Textfassung a]
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Schwierigkeiten in der Rede über ästhetische Bildung

Versuch einer Antwort auf G. Ottos Kritik

[127:1] Lieber Herr Otto,
[127:2] es hat mich sehr gefreut, daß Sie mir den Text, den Sie auf der Bayreuther Kommissionstagung vortrugen, zugesandt haben; es hat mich aber auch überrascht, ein wenig freilich auch befriedigt, daß Sie meinen Artikel in der ZfPäd von 1990 einer derart gezielten und teils auch heftigen Aufmerksamkeit für würdig befinden. Da Sie mich nun schon im Titel unmittelbar ansprechen, vermute ich, daß Ihnen eine Antwort, auch eine öffentliche, nicht unwillkommen ist. Ich will das also versuchen.
[127:3] Allerdings habe ich zwei rhetorische Schwierigkeiten, die mit der Sache, um die wir uns streiten, verbunden sind. Sie wittern, teils in angriffslustigen Formulierungen, Unrat in meiner Argumentation; da nun Ihre Witterung mich ziemlich häufig dort verortet, wo meine Argumente sich gar nicht aufhalten, führen sie mich, freilich ungewollt, in eine apologetische Attitüde hinein; ich bin versucht, mich selbst zu kommentieren; das aber ist ein peinliches Geschäft, und ich hoffe, es damit nicht zu weit zu treiben. Die andere Schwierigkeit hat etwas mit der Art der Sätze zu tun, die wir bevorzugen: Sie lieben Behauptungen im Indikativ, nach Art didaktischer Lehrbücher; ich formuliere häufig in Möglichkeitsformen, weil ich nicht die Wissens-Gewißheit habe, die sich in Ihren Indikativen darstellt – und weil mir scheint (!), daß die Probleme, über die wir streiten, einer vorsichtigeren Form der Rede bedürfen, jedenfalls vorerst und mit Bezug auf
»Bildung«
. Ich habe deshalb Verständnis dafür, daß Sie manchen meiner selbstzweiflerischen Sätze flugs Propositionen unterstellen, die sich dort nicht finden. Gelegentlich also wird davon die Rede sein müssen. Nun aber zur Sache.

1. Lernen, Erfahrung,
»Ästhetisches«

[127:4] Zu den ersten beiden Abschnitten Ihres Textes habe ich nicht viel beizutragen. Ich will Ihnen glauben, daß dies den common sense der Didaktiker repräsentiert. Jedenfalls sind die Problemverkürzungen vermutlich unschädlich, |a 161|zumal hier, wenn ich recht verstanden habe, die Vokabel
»ästhetisch«
noch in dem ganz allgemeinen Sinne von
»sinnlich wahrgenommen«
verwendet wird. Allein: die sprachlichen Ausdrücke, die Sie verwenden, sind mir weniger klar als Ihnen, z.B.: Fängt wirklich
»mit Wahrnehmung [...] alle Erkenntnis an«
? Unter
»nicht-begriffliche(r) Kenntnis«
kann ich mir schlechterdings nichts vorstellen. Meinen Sie mit
»Denken«
die Funktionsweisen der Synapsen (
»ordnen, vergleichen, verknüpfen«
etc.) oder, wie es später in Ihrem Text scheint, eine Tätigkeit, die erst als sprachliche Performanz beschrieben werden kann? Derartige Fragen betreffen die Erkenntnistheorie, die Hirnphysiologie, die Lerntheorie – aber, wie gesagt, das ist für unseren Streit vielleicht weniger wichtig. Weniger wichtig ist wohl auch die Frage nach der
»sinnliche(n) Wahrnehmbarkeit (eines) Problems«
– ich wüßte, ehrlich, nicht zu sagen, wie ich ein
»Problem«
(!) sinnlich wahrnehmen kann; vielleicht können Sie mir das gelegentlich erläutern. Jedenfalls scheint mir, daß Sie die zusammenfassenden Vokabeln
»das Ästhetische«
,
»das Begriffliche«
in einer nicht leicht nachzuvollziehenden Weise verwenden, etwa den Ausdruck
»Ästhetisches«
(überhaupt ein merkwürdiges Abstraktum) so, als bezeichne er die Funktionsweise der äußeren Rezeptoren/Organe, den Ausdruck
»Begriffliches«
dagegen so, als bezeichne er die ordnenden Funktionen des Nervensystems. Oder ist meine Vermutung falsch? Dies aber sind nur Vorfragen. Wichtiger ist mir, was Sie dann in einem engeren Sinne über ästhetische Problemstellungen, zumal über solche der ästhetischen Bildung sagen.

2. Problemstellungen, die sich auf
»ästhetische«
Ereignisse im engeren Sinne beziehen

[127:5] Wir scheinen uns darin einig zu sein – und ich hoffe, die Behauptungen in Ihrem Text damit nicht zu verzerren –, daß Aufmerksamkeit für die wahrnehmungsmäßigen Tatsachen im Vorgang des Lernens und Erfahrens (
»Anschauung«
und
»Begriff«
) etwas anderes ist als diejenigen Fragen, die sich mit der Kulturtatsache
»Kunst«
einstellen und mit dem besonderen Erfahrungsmodus, der dadurch nahegelegt ist. Damit nun beginnen einige gravierende Mißverständnisse; und diese hängen u.a. mit den nun je geltend gemachten
»Prämissen«
zusammen. Zunächst: Sie haben wohl recht, daß die
»Probleme«
, die wir zu lösen versuchen, selbst
»produziert«
sind, von mir so gut wie von Ihnen oder anderen. Wer oder was denn sonst sollte sie
»produzieren«
können? Daß Sie lieber Ihre eigenen Probleme produzieren und dann zu lösen versuchen, ist verständlich; mir geht es genauso. Indessen läßt sich doch wohl, über solche Barrieren hinweg, fragen, welche Gründe |a 162|es denn für diese oder jene
»Prämissen«
gebe und was akzeptabel davon wäre. Ich will also einige Brücken und einige Weglosigkeiten zwischen uns andeuten, wenngleich Ihr äußerst knapper und gelegentlich apodiktischer Text wenig Chancen für ein angemessenes Verstehen läßt:
  • [127:6] Mir scheint, daß Sie, angesichts der Pluralität von Theorien der Kunst und der ästhetischen Erfahrung, der Verunsicherung auf andere Weise zu entgehen suchen als ich (
    »Prämissen«
    !). Sie suchen die Bekräftigung Ihrer
    »Prämissen«
    bei denen, deren Argumente wenigstens gelegentlich (vgl. Bubner) in den Katalog didaktischer Handlungsziele sich einfügen lassen (
    »Anschauung revisionsfähig«
    halten; Einpassung der ästhetischen Erfahrung
    »in den Rahmen allgemeiner Erfahrung«
    u.ä.). Ich hingegen suche Bekräftigung bei denjenigen Argumentationen, die die Besonderheit ästhetischer Erfahrung – und zwar unter den historischen Bedingungen der
    »Autonomie«
    der Künste, die ich als einen Entschluß gleichsam zur Fiktionalität interpretiere – zu konturieren versuchen. Wir zitieren also Verschiedenes, gelegentlich aber auch Gleiches (Bubner und Seel z.B. könnte ich, verständig ausgewählt, auch für meine Hypothesen geltend machen). Kurz und selbstironisch gesagt: Wir beide sind das Opfer unserer selektiven Leseerfahrungen; aber vielleicht auch nur Vollstrecker der Handlungskontexte, in denen wir uns vornehmlich bewegen: Sie im Bereich der Schule, ich eher in außerschulischen Feldern möglicher Erfahrung.
  • [127:7] Diese Differenz führt nun zu eigentümlichen Verzerrungen. Sie werfen mir vor, ich wählte ein äußerst reduziertes, nämlich
    »romantisch«
    begriffenes
    »Kunsterlebnis«
    und ein
    »günstigenfalls skeptisch zu bezeichnendes«
    Verhältnis zu Didaktik und Schule als Voraussetzung meiner Argumentation. Schön, daß Sie mir das unterstellen, denn Sie haben recht (wenngleich
    »Erlebnis«
    nicht die von mir bevorzugte Vokabel wäre). Bei der Vokabel
    »romantisch«
    haben Sie sich sicher etwas gedacht, historisch und argumentativ, nicht als Stammtisch-Vokabel – und genau mit diesen ästhetischen Erwägungen und Produkten zwischen 1800 und 1830 beginnt das, was ich meine (oder haben Sie vielleicht nicht bemerkt, daß ich Adornos Schubert-Interpretation für meine Argumente herangezogen hatte?). Und mit dem Adjektiv
    »skeptisch«
    ehren Sie mich nun ungemein; ich habe es nicht verdient, denn ich halte die Skepsis für die äußerste und schwierigste wissenschaftliche Tugend, die gegenüber jeder Behauptung oder Gegenstands-Konstruktion geltend zu machen wäre. Ich werfe Ihnen vor, nach Lektüre Ihres Textes, daß Sie die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrungen den didaktischen Imperativen opfern. Mir scheint, daß Sie die Probleme der Kunst und diejenigen, die sich einstellen, wenn ein Subjekt sich ästhetischen Ereignissen, produktiv oder rezeptiv, konfrontiert, voreilig auf ihre Lehrbarkeit in Schule und Unterricht zurechtstutzen – wogegen ich zu bedenken geben möchte |a 163|(hier ließen sich nun viele würdige Namen seit 1780 zitieren), daß
    »ästhetische Bildung«
    ein Problempanorama anzeigt, das weit mehr umfaßt und innerhalb dessen
    »Schule«
    und
    »Unterricht«
    nur einen ziemlich bescheidenen Platz besetzen. Den Streit um den
    »Akademismus«
    in der Geschichte der Kunst und ihrer Lehrbarkeit kennen Sie gewiß besser als ich, und ich muß Sie deshalb hier nicht mit Quellen-Hinweisen langweilen.
  • [127:8] Nun also steht Schule/Unterricht zur Diskussion, wohl auch überhaupt
    »Pädagogik«
    . Dies scheint Sie am meisten zu irritieren, denn anders kann ich mir nicht die vielen (falschen) Unterstellungen verständlich machen, zu denen Sie greifen. Ich möchte mich hier auf
    »Pädagogik«
    beschränken, mit gelegentlichem Verweis auf
    »Unterricht«
    : Ich habe nichts gegen
    »Pädagogik«
    , immerhin bin ich Besetzer eines Lehrgestühls mit diesem Namen. Aber pädagogische Allmachtsphantasien sind mir verdächtig, mindestens aber aufklärungsbedürftig. Damit meine ich: Im Spektrum meines
    »pädagogischen«
    Nachdenkens kommt
    »Schule«
    nur unter anderem vor; mir ist die Formel Schleiermachers offenbar näher als Ihnen, daß das pädagogische Nachdenken sich auf das
    »Verhältnis der Generationen«
    beziehen solle – und dieses Verhältnis ist in ziemlich vielen Hinsichten einer gegebenen Kultur artikuliert. Wenn nun Sie Schule und Unterricht, also einen ziemlich kleinen, wenngleich äußerst wichtigen Teil jener Generationen-Verhältnisse zur entscheidenden Selektionsinstanz für bildungstheoretisch relevante Fragen machen wollen, dann will ich Ihnen diese Vorliebe nicht vermiesen. Man kann das tun. Ich halte das indessen nicht für besonders produktiv oder auch nur empfehlenswert, angesichts des Zustandes unserer Kultur und besonders im Hinblick auf das, was man
    »ästhetische Erfahrung«
    nennt. Man unterwirft sich so vorab einer Einschränkung, die den möglichen Kreis bildungstheoretischer Problemstellungen ohne Not recht klein hält.
  • [127:9] Eine andere Schwierigkeit habe ich damit – oder verstehe ich Sie falsch? –, daß Sie die Probleme ästhetischer Bildung gern einer Vorstellung von pädagogischem oder unterrichtlichem Handeln subsumieren möchten. Hier komme ich mit meiner Lehrstuhl-Bezeichnung in Konflikt: sprachliche Ausdrücke wie
    »Pädagogik«
    , Unterrichten, Erziehen u.a. nehmen allemal Bezug auf ein Handeln, und zwar, wenigstens im Falle von Unterrichten, auf ein zweckrationales. Derartige Kulturprojekte sind gewiß sinnvoll. Aber meinen Sie nicht auch, daß gelegentlich, etwa im Falle ästhetischer Bildung, die gewünschten Effekte nicht
    »garantiert«
    werden können? Warum bringt Sie nun eine solche, wie mir scheint, empirisch kaum bestreitbare Behauptung so gegen mich auf, daß Sie, ziemlich unsinnig, argwöhnen, damit sei zugleich behauptet, daß
    »Erziehung [...] das Gegenteil dessen, was Bildung will«
    , bewirke? Abgesehen davon, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie
    »Bildung«
    etwas
    »wollen«
    könne, sehe ich nun deutlicher, wie solche Kli|a 164|schees zustande kommen: Sie sehen
    »ästhetische Bildung«
    durch die Brille des Unterrichtens, ich sehe sie durch die Brille einer
    »Theorie der Bildung des Menschen«
    . Und nun mache ich geltend – was Sie verdrießlich finden –, daß, wenn man es so sieht, Unterricht zwar einiges beizutragen vermag, aber nicht das, was mir
    »ästhetisch«
    wesentlich scheint. Darüber läßt sich streiten. Nicht streiten aber möchte ich – da es mir allzu offensichtlich scheint – darüber, ob der Kunstunterricht ästhetische Erfahrungen garantieren könne oder nicht. Er kann es nicht, und er darf auch nicht darauf verpflichtet werden, wie im Falle des Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Könnens. Verpflichten kann man ihn allenfalls für
    »ästhetische Alphabetisierung«
    , was soviel heißen soll wie: die Kulturtatsache
    »Kunst«
    zur Kenntnis nehmen, mit den Produktionsbedingungen dafür vertraut werden, sich mit den Deutungsspielräumen bekannt machen usw. (lesen Sie doch einfach noch einmal die Seiten 484 ff. des Textes von mir, der Ihnen so anstößig erscheint).
  • [127:10] Und weil Sie sich nun so schrecklich über mich ärgern, werfen Sie mir vor, was ich nirgends behauptet habe (aber ich wollte ja jede Apologie möglichst vermeiden; ich beschränke mich auf das, was mir als das in Ihrer Sicht wichtigste Problem erscheint): Die empfindliche Vokabel ist
    »absichtsvoll«
    , wie Sie schreiben. Da haben Sie mich voll getroffen. Ich habe – hier offensichtlich in deutlichem Unterschied zu Ihnen – die Vermutung, daß ästhetische Erfahrungen schlechterdings didaktisch nicht planbar sind, also
    »absichtsvoll«
    nicht herbeigeführt werden können. Aber wäre das so schlimm? Das Leben führt so vieles herbei, was im Horizont der Schulmeister kaum auftaucht. Warum nicht auch dieses? Ich möchte tatsächlich nicht die Bildungswege der nachwachsenden Generation nur von Schulen besetzt halten. Als Bildungstheoretiker denke ich deshalb mit Gewinn darüber nach, was außerhalb derselben geschieht, ohne Absichten von Didaktikern und anderen. Mit einer literarischen Erinnerung gesprochen: Goethes Ideen zur ästhetischen Bildung sind mir in den belebenden Erzählungen von
    »Wilhelm Meisters Lehrjahren«
    , im Chaos einer vagabundierenden Theatertruppe, näher als die hölzernen Belehrungen der
    »Wanderjahre«
    . Über ästhetische Erfahrung kommt mir durch die Günderode oder Schumanns Musikkritik mehr Information zu als durch Herbart, von Anselm Kiefer werde ich besser informiert als von Ehmer.
  • [127:11] In einer derartig verschiedenen Wahl der Blickpunkte, wie sie offenbar zwischen Ihnen und mir vorliegt, sind dann Verstümmelungen bis zur Unkenntlichkeit der je angegriffenen Position zwar naheliegend, aber nicht unvermeidlich. Sowenig wie ich Ihnen flugs und nur aufgrund Ihres Vortragstextes ein
    »instrumentelles«
    und
    »naiv-normatives Pädagogikverständnis«
    vorwerfen dürfte (eine entsprechende Zitaten-Collage fiele mir |a 165|nicht schwer), nur an Schule und sonst nichts interessiert, ebensowenig sollten Sie mir, übereilig, ein Verständnis von Wissenschaft unterstellen, das ich nur für eine schlechte Karikatur halten kann. Der Salat aus
    »Fakten«
    ,
    »Wirkungen«
    ,
    »Verstandesgebrauch«
    ,
    »Handlungskompetenz«
    ,
    »instrumentell«
    , den Sie da anrichten, macht mir keine Gaumenfreude. Ich weiß nicht mehr, was ich zu essen bekomme. Indessen gibt es Sachfragen, die mich interessieren.

3. Wirkungen

[127:12] Das ist eine schwierige Vokabel, jedenfalls für uns beide. Wirkungen, wenn sie eingetreten sind, sind dann freilich
»Fakten«
, was denn sonst? Diesen gegenüber sind mehrere Einstellungen möglich. Zwei davon zeigen sich in einerseits Ihrer, andererseits meiner Perspektive: ich frage, welche Wirkungen sich einstellen, wenn ein Kind (oder auch ich selbst) ästhetisch tätig ist, produktiv oder rezeptiv, und ob es eine Besonderheit dieser Art von Wirkungen gibt, die ästhetische von anderen zu unterscheiden erlauben, wenngleich auch diese anderen alle mit
»Wahrnehmung«
zu tun haben. Ich gehe dabei – bitte sehen Sie mir diesen Rückgriff auf eigene
»Erfahrung«
nach – so vor, daß ich (M. Seel macht es ähnlich) mich zunächst zu erinnern versuche: Was geht in mir vor, wenn ich Vermeers
»Ansicht von Delft«
sehe, selbst ein Aquarell der toscanischen Landschaft versuche oder Celans
»Todesfuge«
lese? Was sich dabei einstellt, nenne ich
»Wirkung«
. Und um die ästhetische Komponente dieser Wirkung mir deutlicher machen zu können, versuche ich, alles einzuklammem, was auch anders benannt werden könnte. Mir liegt also viel an einer phänomenologischen Beschreibung (siehe KönigSie wollen sich damit nicht allzu lange aufhalten, wenn ich Ihren Text recht verstanden habe. Sie denken von Lernzielen her (z.B. Anschauung
»revisionsfähig«
halten u.ä.), also zweckrational, jedenfalls von einem Interesse geleitet, was ja, wenn man Unterrichtswissenschaft betreibt, nicht nur naheliegt, sondern auch als vernünftig akzeptiert werden kann. Ich habe damit aber das folgende Problem: Könnte es nicht
»Wirkungen«
innerhalb von Lebensumständen (um hier das inflationär gewordene Wort von der
»Lebenswelt«
zu vermeiden) geben, die sich den institutionalisierten Instruktionen und Ähnlichem nicht gut einfugen lassen und die ziemlich unabhängig sind von dem, was Edukatoren und Instrukteure wollen? Und sollte nicht die Bildungstheorie auch dies im Blick haben, in lockerer Erinnerung an K. Ph. Moritz und Herder beispielsweise? Ästhetische Wirkungen, so scheint mir, sind von dieser Art; das gilt besonders dann, wenn die sich einstellende Erfahrung Selbstreflexion einschließen soll. Warum, so frage ich |a 166|Sie und uns, tun wir
»Pädagogen«
uns so schwer damit, bildende Ereignisse gelten zu lassen, die sich dem planenden erzieherischen und unterrichtlichen Handeln entziehen? Ist es wirklich ein
»Zerrbild«
von Schule, wenn man auf Grenzen hinweist, die auch der euphorischste Reformeifer nicht wird überspringen können? Vielleicht wähne ich Grenzen, wo es keine gibt. Ich sehe allerdings gegenwärtig kaum empirische Anhaltspunkte, mit deren Hilfe sich derartige Grenzen bestreiten ließen – der ehrenhafte Reformeifer reicht nicht als Argument.

4. Reflexion

[127:13] Um diesen Ausdruck rankt sich das vielleicht am schwersten wiegende Mißverständnis. Daß der ästhetischen Erfahrung und dem ästhetischen Urteilen ein Moment von
»Reflexion«
innewohnt, ist seit 200 Jahren unstrittig. Es bedarf, unter informierten Diskussionsteilnehmern, keiner dauernden Hervorhebung. Außerdem wäre mit der bloßen Wiederholung dieses Etiketts wenig gewonnen. Ich verwende es deshalb, wenn überhaupt, dann nur äußerst sparsam; die Beschreibung des damit gemeinten Sachverhalts ist mir allerdings wichtig (übrigens sieht Bubner das nicht
»gänzlich anders«
). Und ich war, beim Lesen Ihres Textes, neugierig, wie Sie denn diesen Sachverhalt im Kontext ästhetischer Erfahrung genauer beschreiben würden.
[127:14] Ich war enttäuscht. Die
»revisionsfähig gehaltene Anschauung«
war alles, was Sie beisteuern. Gerade diese aber – ich unterstelle, etwas riskant, daß Ihr Terminus
»Anschauung«
hinreichend klar ist – kann doch nur ein Moment unter vielen der ästhetischen Erfahrung sein, zumal dann, wenn man nicht nur die Philosophie, sondern auch die Tätigkeit und die Kommentare von Künstlern, deren Produkte, die ästhetischen Ereignisse im Leben von Kindern usw. zur Kenntnis nimmt. Ich sagte ja schon: an handlichen Lehrbuchformeln habe ich weniger Interesse als an der genauen Beschreibung von Sachverhalten. Aber weil Sie mich mit Ihrem Vorwurf,
»Reflexion«
spiele bei mir keine bedeutsame Rolle, mitten ins Herz getroffen haben, will ich etwas umständlicher antworten.
[127:15] Sie erwähnen also zwar den Terminus (Reflexion), aber beschreiben nicht, was Sie meinen (außer
»revisionsfähig«
, vgl. oben). Ich erwähne zwar diese Vokabel nicht, versuche aber einiges zu beschreiben, was mit dem Sachverhalt zu tun hat: Adornos
»Träne«
, die romantische
»Ironie«
, der
»Witz«
Brentanos, das
»Vernunftwidrige«
und
»Wahnsinnige«
van Goghs, die
»idiosynkratischen«
Selbsterzählungen, auf die Rorty hinweist, oder schließlich auch, als Tribut an unsere Zunft, die Warnung Schleiermachers, den Moment (hier den ästhetischen) der Zukunft möglichst nicht aufzuop|a 167|fern. Was bedeutet es denn, in dieser nun wirklich bestürzenden Metapher, wenn Heinrich von Kleist angesichts des Bildes
»Mönch am Meer«
(1810) von C. D. Friedrich schreibt: das Bild wirke,
»als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären«
man könne
»die Füchse und Wölfe damit zum Heulen bringen«
? Sind das nicht alles Hinweise auf
»Reflexion«
? Lehrbuch-Etiketten verbreiten da nur Langeweile. Ich frage: Was geht da vor?
[127:16] Und nun zu Hofmannsthal, dessen Metapher Sie ja zu ziemlich heftigem Widerspruch gereizt hat: Mir ist unerfindlich, wie man denken kann, daß diese Metapher nicht von Reflexion redet:
»[...] sein Ich sich selber gleich zu fühlen und sicher zu schweben im Sturze des Daseins«
, angesichts eines Gedichtes. Hier ist eine Erfahrung von Reflexion mitgeteilt, die ich aus Ihrem Text nicht herauslesen kann. Deshalb hier einige Ihnen vielleicht pedantisch erscheinende Hinweise:
»Sein Ich sich selber gleich zu fühlen«
ist doch im Kontrast gesagt zu Lebensumständen, in denen das mißlingt, und beschreibt damit eine selbstreflexive Bewegung zwischen dem Alltäglich-Praktischen und dem Augenblick einer Ich-Fiktion, die sich in der ästhetischen Erfahrung einstellt.
»Sicher schweben«
ist eine schon ältere Metapher für
»Ästhetisches«
– da haben Sie mit Ihrem Verweis auf die Romantik recht –, die allerdings erst im Kontext des Begriffs romantischer Ironie sich ganz erschließt, ein weiteres Moment von
»Reflexion«
also. Schließlich
»[...] im Sturze des Daseins«
. Es scheint fast, als hätte Hofmannsthal die einige Jahre zuvor geschriebene
»Philosophie des Geldes«
von Georg Simmel gelesen, wo derartige Probleme argumentativ entfaltet wurden, und als dränge er nun dies in jene Metapher zusammen. Man muß freilich der darin enthaltenen Kulturphilosophie nicht folgen. Ganz falsch aber wäre es, dies nicht als
»Reflexion«
zu bezeichnen; man braucht den Terminus nicht zu verwenden; jeder aufmerksame Leser kann das entdecken. Selbst Kinder, wenn sie malen oder musikalisch improvisieren, kennen dieses Problem und beschreiben diese eigenartige Form von Reflexion, in die die ästhetische Tätigkeit sie hineinbringt. Vielleicht hängt Ihr im Hinblick auf Fragen einer Theorie ästhetischer Bildung fundamentales Mißverständnis, was
»Reflexion«
betrifft, am Problem der Metapher. Eine Metapher – peinlich zu sagen – spricht eine Erfahrung nicht direkt aus. Sie bringt die
»Als ob«
-Perspektive zur Sprache, also ein zentrales Charakteristikum ästhetischer Erfahrung, also auch die von Ihnen favorisierte
»Revisionsfähigkeit«
. Sie ist (theoretisch) vorläufig und vorlaufend, wenn sie eine
»lebendige Metapher«
(Ricoeur) ist. Sie dokumentiert deshalb
»Reflexion«
im Medium der ästhetischen Darstellung, hier vielleicht dichter als anderswo. Bei Hofmannsthal Reflexion zu vermissen, kann ich also nur einer oberflächlichen Lektüre zuschreiben.
|a 168|
[127:17] Und nun meinen Sie, offenbar auch im Ernst, noch,
»er (ich nämlich) sieht nicht, daß auch ästhetische Erfahrungsprozesse kognitive Strukturen haben«
. Verstehen wir uns nun schon im Vokabular völlig falsch? Ich kann mir schlechterdings keinen ästhetischen Vorgang denken, der keine
»kognitiven Strukturen«
hat, insbesondere die Metapher, egal, wie sie beschaffen ist (mit
»halbierter Rationalität«
– was auch immer der vor 20 Jahren modisch gewesene Ausdruck besagen mag – hat das nichts zu tun). Hier also bitte ich Sie um Belehrung.

5. Hermeneutik

[127:18] Darauf verwenden Sie nur einen Nebengedanken. Mir aber scheint er für unser Problem ziemlich wichtig zu sein. Zunächst denke ich, daß
»Rezeptionsästhetik«
etwas anderes ist als eine Hermeneutik der Künste, wenngleich das eine mit dem anderen, je nach methodologischen Optionen, mehr oder weniger zusammenhängen mag. Für diese nun empfehlen Sie mir die Lektüre der verschiedenen Didaktiken. Ich greife nur einen Ihrer Gewährsleute heraus: Wollen Sie unsereinem wirklich empfehlen, H. K. Ehmer als Fachmann für Bildhermeneutik zu lesen, so verdienstvoll sonst seine Schriften gewesen sein mögen? Nein, lieber Herr Otto, das kann nicht Ihr Ernst sein! Angesichts solcher Empfehlungen halte ich mich nach wie vor lieber an diejenigen, die mit unseren hermeneutischen Traditionen wirklich gut vertraut sind, auch wenn es sich nicht um
»Didaktiker«
handelt; für die Sprache etwa Jauß, Stierle, Iser, für die Musik etwa Hanslick, Dahlhaus, Faltin; für den Bildbereich Boehm, Imdahl, Belting, Bätschmann usw. Hilfreich sind mir auch immer wieder die
»Quellen«
Schleiermacher, Dilthey, Gadamer, Frank usw. Übrigens finde ich auch interessant, was unter dem Namen
»objektive Hermeneutik«
(Oevermann) kursiert oder sich
»Tiefenhermeneutik«
(Lorenzer) nennt – und manches andere, von den eindrucksvollen Bemühungen um die
»Bildnerei der Geisteskranken«
bis in diese Tage ganz abgesehen.
[127:19]
»Hermeneutik«
also ist ein weites Feld, das man nicht in einem Satz und mit einer willkürlichen Liste von Autorennamen erledigen kann. Ein auf Didaktik eingeschränkter Zettel-Katalog kann die Argumente nicht ersetzen. Oder konkreter, aufs
»Bild«
bezogen: Ich wüßte gern, wie Sie (oder andere) die Argumente Boehms (oder anderer) zur Bildhermeneutik in Ihre didaktischen Erwägungen einbezogen haben. In Ihrem wohl programmatisch gemeinten Buch
»Auslegen [...]«
verwenden Sie auf Boehm einen einzigen Satz. Darf ich, unter solchen Umständen, hoffen, daß ich von Ihnen viel über
»Bildhermeneutik«
erfahre? Wenn ich die vielen hundert Seiten, die |a 169| Boehm in den letzten zwei Jahrzehnten veröffentlicht hat (und ich nenne hier nur diesen Autor), recht gelesen habe, dann verwundert es mich schon sehr, daß Sie
»Hermeneutik«
sagen und uns Ehmer zur Lektüre empfehlen. Aber ich bin (leider) weder Kunsthistoriker noch Kunstdidaktiker, aber doch
»Liebhaber«
. Indessen glaube ich, mich in dem, was Hermeneutik heißt, einigermaßen auszukennen. Ihr Text, lieber Herr Otto, hat damit wenig zu tun.

6. Celans
»Todesfuge«

[127:20] Damit wäre ich nun am Ende, wenn nicht noch eine wichtige Anmerkung nachzutragen wäre. Mit Ihrer Zitation der Todesfuge von Paul Celan haben Sie mich nämlich tief gekränkt – so, als wäre dies ein Argument gegen meine Behauptungen. Das Gegenteil ist der Fall. Was mich kränkt, ist Ihre moralisch-politische Attitüde, so als glaubten Sie, ich wäre unempfindlich gegenüber dem, was in unserer Kultur
»Auschwitz«
heißt. Sie drücken auf meine Tränendrüse, machen aus der Todesfuge ein Rührstück, zur moralisch-politischen Erbauung verfertigt, und mischen dann noch diesen unsäglichen Polit-Kitsch von
»der Gnade der späten Geburt«
hinein. Nein, lieber Herr Otto, diesen Brei haben Sie selbst angerührt, nicht Hofmannsthal, König und ich. Nun nehme ich von meinem Ärger ein wenig Abstand und sage Ihnen über die
»Todesfuge«
, mit Bezug auf Hofmannsthals Metapher, dieses:
[127:21] Dieses Gedicht – jede Interpretationsskizze gerät ins Stocken, jedenfalls dann, wenn man ein Deutscher ist – ist eine metaphorische Paraphrase zur Metapher Hofmannsthals vom
»Schweben«
und
»Stürzen«
, bis in die letzten Gedichtszeilen hinein:
»dein goldenes Haar Margarete/dein aschenes Haar Sulamith«
. Aber
»Schweben«
und
»Stürzen«
werden noch einmal gebrochen, und zwar durch das
»ästhetische Ich«
des Autors (das sieht man mindestens am Versfuß), aber nicht nur dadurch, sondern auch durch die Semantik der Verse:
»er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland«
(am Ende des Gedichtes). Was bedeutet es, daß nach
»träumet«
kein Punkt folgt, sondern Traum und Behauptung ohne Satzzeichen aufeinander folgen; auch nach
»Schlangen«
könnte ein Satzzeichen, z. B. ein Semikolon, folgen, mit einem Doppelpunkt nach
»träumet«
. Das Gedicht vermeidet die Satzzeichen und
»stürzt«
uns in Atemlosigkeit und innere Beklemmung, gerade noch aufgefangen durch den klassischen Versfuß. Aus so feinem Stoff sind ästhetische Gebilde verfertigt, zwischen
»Schweben«
und
»Stürzen«
. Dieses überwältigende Gedicht gegen mich auszuspielen, das finde ich also ziemlich degoutant. Dieses Ausspielen ist |a 170|sogar (für mich) empörend, und zwar deshalb, weil darin, in diesem Ausspielen, sich
»links«
dünkende Moralität zum Richter aufschwingt; weil es, gegen den ästhetischen Sinn des Gedichtes, die Welt nach Moralkategorien ordnet; weil es die Reflexion liquidiert, die der Tenor der Metaphern dieses Gedichtes ist,
»Schweben«
und
»Stürzen«
.
[127:22] Produkte ästhetischer Tätigkeit lese ich nicht wie Protokolle dessen, was wir sonst
»Wirklichkeit«
nennen. Es sind – da gebe ich Ihnen recht, wenn Sie denn das gemeint haben sollten – Protokolle von Reflexionen. Und die fallen nicht immer nach dem Gusto der Didaktiker aus, weder bei David, Friedrich oder Bacon, noch bei Kindern. Nun kommt mir ein Gedanke, der vielleicht unser Aneinander-Vorbeireden erklären könnte. Könnte es sein, daß Sie die
»ästhetische Bildung«
in dasjenige einfädeln wollen, was man Gesellschafts- und Kulturkritik nennt, und aus dieser Perspektive die für Sie wichtigsten Charakteristika ästhetischer Erfahrung gewinnen? So würde mir jedenfalls vieles verständlicher. Ich hingegen denke, daß damit der Beitrag ästhetischer Erfahrung zur Kulturentwicklung entschieden unterschätzt wird. Deshalb plädiere ich für eine weitere Perspektive, in der das Abmalen eines Blumentopfes, die Stilleben Chardins oder Morandis, die Klavierstücke Weberns, die Metaphern Hofmannsthals, die Improvisationen von Kindern als nicht minder
»reflexiv«
genommen werden als solche Tätigkeiten, die sich, für jeden erkennbar, auf gesellschaftlich im engeren Sinne relevante Sachverhalte beziehen. Daß damit nicht im mindesten ein Abwenden von
»Strukturen«
verbunden ist, konnten Sie ja meinen bescheidenen Hinweisen auf Celans
»Todesfuge«
entnehmen. Aber
»Subjekt«
und
»Objekt«
wäre ein Thema, mit dem ich Sie nun nicht mehr langweilen will.
[127:23] Das war nun zum Teil, ich gebe es zu, etwas böse gesagt. Aber Sie sind mit meinem Text ja auch nicht gerade zimperlich umgegangen.
[127:24] Mit freundlichem Gruß
[127:25] Ihr
[127:26] Klaus Mollenhauer