Fiedlers Beitrag zu einer Theorie ästhetischer Bildung [Textfassung a]
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Fiedlers Beitrag zu einer Theorie ästhetischer Bildung

[138:1]
»Malen heißt nicht einfach die Natur nachahmen, sondern eine Harmonie unter zahlreichen Bezügen herstellen, sie in ein eigenes Tonsystem übertragen, indem man sie nach dem Gesetz einer neuen und originalen Logik entwickelt«
.1
1
Paul Cézanne, Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet, Briefe, hrsg. von W. Hess, Hamburg 1957, 80.
An diesem Zitat ist manches plausibel, manches schwer zu verstehen:
»Originale Logik«
– man muß sich erinnern, daß früher schon von einer
»Logique de cœur«
die Rede war, in Frankreich; daß der Ausdruck
»Gesetz«
mehrdeutig ist; daß
»Harmonie«
viele Auslegungen verträgt, besonders dann, wenn man im Kopf hält, daß Friedrich Schlegel schon 1795 eine Ästhetik des
»Häßlichen«
ins Auge faßte und 60 Jahre später der Hegelianer Karl Rosenkranz eine umfängliche Erörterung dieses Themas vorlegte. Was also der Ausdruck
»Harmonie«
bedeutet, ist schwer zu erläutern. Nimmt man die vorsichtige Formulierung hinzu – und sie ist nicht ein Erinnerungsprotokoll von Gasquet, sondern das Zitat aus einem Brief Cézannes –, malen heiße
»nicht einfach«
(nur), die Natur nachzuahmen, dann ist man mittendrin in der Argumentation Fiedlers.
[138:2] Derartiges hat es zu tun mit dem Nachdenken über die
»Bildung des Menschen«
, wie Humboldt gesagt hätte. Die Geschichte dieses Nachdenkens – jedenfalls seit es sich in jener Zeit von der Philosophie zu entfernen begann – folgte nicht der strengeren Regel philosophischer Problemstellungen, sondern eher den Zumutungen der pragmatischen Kontexte, und zwar um so entschiedener, je näher sie der Gegenwart kam. Da war man dann zumeist zufrieden, wenn sich gelegentlich – bei Kant und Schiller, später bei Adorno oder gegenwärtig bei Seel – Hinweise zur Bekräftigung der praktischen Optionen fanden. Daß in solchem Zusammenhang fragmentierter historischer Erinnerung ein Autor wie K. Fiedler eher störend wirkt, ist verständlich. Auch die zitierte Äußerung Cézannes sperrt sich, auf den ersten Blick, gegen eine Vereinnahmung durch pragmatisch interessierte Pädagogik oder Didaktik. Vielmehr lenkt sie zurück auf die Frage, wie wir uns den Vorgang unserer Bildung denken, unserer Sinnes-, Gemüts- und Verstandeskräfte, und zwar im Hinblick auf diejenigen Komponenten, die ich als
»kunstförmige Tätigkeit«
bezeichnen möchte. Unter der Anleitung Fiedlers will ich fünf Probleme diskutieren, die die bildungstheoretische Bedeutsamkeit seiner Argumentationen betreffen und systematisch noch vor der Einfädelung in die institutionalisierten Kontexte des |a 96|sogenannten
»Bildungswesens«
zu lokalisieren sind, nämlich: die Fiedler-Rezeption in der Pädagogik/Didaktik (1), das von Schiller so genannte Problem der
»aktiven Bestimmbarkeit«
(2), die Frage nach der Charakteristik von Nachahmung/Mimesis (3), das
»Autonomie«
-Problem (4) und die Fragen nach einer ästhesiologischen Bildungstheorie (5).

1. Fiedler-Rezeption

[138:3] Die Fiedler-Rezeption in der Pädagogik, besonders gerade in der Kunstdidaktik, ist derzeit dürftig. In der 12-bändigen Enzyklopädie Erziehungswissenschaft2
2Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, hrsg. von D. Lenzen, Stuttgart 1982 ff.
taucht der Name nicht auf. Erörterungen zur Didaktik des Kunstunterrichts registrieren ihn – allerdings mit wichtigen Ausnahmen in den 20er und 60er Jahren des Jahrhunderts (vgl. Britsch, Kornmann, Staguhn, Pfennig) – höchstens in Fußnoten oder Literaturverzeichnissen, gegenwärtig, oder gelegentlich als Zurückweisung einer Art des Denkens, die für eine moderne didaktische Theorie unergiebig, wenn nicht gar der Ideologie verdächtig sei. Dieser abwehrende Gestus bezog in den 70er Jahren seine Plausibilität aus dem damals schon in Proseminaren gelesenen Essay Herbert Marcuses über den
»affirmativen Charakter der Kultur«
. Dieser wiederum profitierte von der meines Wissens ersten Beschreibung des deutschen Begriffs der Bildung unter den Gesichtspunkten seiner Soziologie von H. Weil3
3H. Weil, Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn 1930.
, die ihrerseits wiederum Karl Mannheim verbunden war. Vor allem Herder, Shaftesbury und Humboldt werden dort – allerdings mit einer Sorgfalt im Umgang mit den Quellen, die später nachließ – in eine Konnotation gebracht, die die Begriffe
»Individualität«
,
»Innerlichkeit«
und
»ästhetische Erfahrung/Empfindung«
zusammenrückte und sie einem unpolitischen, allem Gesellschaftlichen gegenüber gleichgültigen oder unverständigen Habitus zuschlug.
[138:4] Höhepunkt der expliziten Zurückweisung der Kunstphilosophie Fiedlers als einer Argumentation, die zur Begründung ästhetischer Bildung beitragen könnte, war ein 1977 erschienenes Sonderheft der Zeitschrift Kunst und Unterricht unter dem Titel
»Auseinandersetzung mit Realität«
4
4Hermann K. Ehmer, Realitätsfeindlichkeit – Ein Moment des Begriffs
»Gestaltung«
. In: Kunst und Unterricht, Sonderheft 1977, 4 ff.
. Was den Kunstdidaktikern in jenen Jahren besonders mißfiel, waren – in der Deutung durch Ehmer – die konstruktivistischen Annahmen Fiedlers, seine
»unbedingte Form- und Abstraktionsforderung«
5
5A. a. O., 6.
, die Konzentration auf die visuelle Anschauung unter Absehung von anderen Wahrnehmungsweisen, die
»Herauslösung [der Kunst] aus jeglichem historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang«
und schließlich die Stilisierung der |a 97|Kunsterfahrung zu einem
»Elite-Phänomen«
:
»Eine demokratische Kunstlehre«
, schreibt Ehmer,
»m. a. W. die Absicht, viele teilhaben zu lassen, wäre somit Sakrileg«
6
6A. a. O., 9.
. Enthalten diese Stichworte noch Hinweise auf Erörterungszugängliches, so wird in der Zusammenfassung nur noch das Unsinnige auf knappe Formeln gebracht. Wir hätten nämlich in der Argumentation Fiedlers
»eine Theorie, die die Existenz der Wirklichkeit leugnet, die die Komplexität der Wahrnehmung bestreitet, die den ästhetischen Genuß verabscheut, die Geschichte und Gesellschaft eliminiert, die Kommunikation und Information verhindert, die die Eliten inthronisiert und die Massen verachtet«
(ebd.)
. Diese Behauptungen – sie verbinden sich übrigens mit einem eigentümlichen Ressentiment gegen abstrakte Kunst und das Bauhaus – sind vielleicht das Artefakt flüchtiger Lektüre und sollen hier nicht diskutiert werden. Aber als Symptom einer kunstdidaktischen und doch wohl auch bildungstheoretischen Stimmungslage verdienen sie historisches Interesse. Umgemünzt in didaktische Empfehlungen für den Kunstunterricht und bezogen auf ein Bild Heinrich Vogelers führte das nämlich etwa zu folgender Frage an Schülerinnen und Schüler:
»Werden in dem Bild richtige oder falsche Erkenntnisse von der Realität vermittelt?«
7
7Kunst und Unterricht, a. a. O., 132.
Daß einer solchen angeblich
»realistischen«
Denkweise Fiedlers skeptische Überlegungen verschlossen blieben, ist nicht überraschend.
[138:5] Der auf diesen Wegen entstandene Blick auf die, wie man sagt,
»gesellschaftliche Funktion«
der ästhetischen Produktionen bedeutete eine erst neuerdings wieder in Korrektur begriffene
»Verkürzung der Vernunft«
. Der Verkürzung fiel vor allem die Frage zum Opfer, die sich, neben der soziologischen oder sozialgeschichtlichen Verortung dieser Art kultureller Erzeugnisse, damit beschäftigte, was im
»Inneren«
der Person vorgeht, die sich auf den Weg einer bildnerisch-ästhetischen Darstellung begibt.
[138:6] Man kann es verständlich, aber gleichwohl überraschend finden, daß die Didaktik der Kunsterziehung um dieses Problem in einem Bogen herumgegangen ist. Es führte von damals an bis hin zu Adorno den Verdacht einer irrationalen Innerlichkeits-Thematik mit sich; es schien sich den Herausforderungen der Moderne zu verschließen; es erweckte den Verdacht – und das zeigte sich schon in den angeblich solipsistischen, aber darin von Weil falsch gedeuteten Konstruktionen der Individualität bei Humboldt –, daß es sich den Vergesellschaftungs-Konstrukten der Gegenwart verweigern würde. Daß derartige Vermutungen kurzschlüssig waren, hätte man beispielsweise an der Musiktheorie Adornos, einem sonst von dieser Art von Didaktik sehr geschätzten Autor, gut studieren können. Verständlich ist dennoch, daß die Kunstphilosophie Fiedlers in solchen Diskussionszusammenhängen keine Rolle spielte. Mit dieser, wie übrigens auch mit den späteren phäno|a 98|menologischen Zugängen zur bildenden Kunst8
8Vgl. dazu etwa Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966; oder auch Hermann Schmitz, Der Leib im Spiegel der Kunst, Bonn 1966.
oder mit den Selbsterläuterungen von Malern – von Runge über Cézanne bis hin zur Bauhaus-Vorlesung Paul Klees – wußte man wenig anzufangen.
[138:7] Das mag uns heute als ein theoriegeschichtlich befremdlicher Vorgang erscheinen. Über die Gründe kann ich – außer den schon genannten einer modischen Formierung des Denkens – nur Vermutungen äußern. Die wichtigste solcher Vermutungen knüpft sich an eine Eigentümlichkeit pädagogischer Theoriebildung:
»Pädagogik«
als ein Ensemble theoretischer Bemühungen und Konstruktionen hat als Referenz einen Handlungszusammenhang, der einem gesellschaftlich auferlegten Telos folgen soll. Selbst dann noch, wenn dieser Endzweck
»Selbständigkeit«
,
»Mündigkeit«
,
»Emanzipation«
oder sonst ähnlich heißt, bleibt die Kant in seiner Pädagogik-Vorlesung und seitdem beunruhigende (scheinbare) Paradoxie erhalten, nämlich Selbständigkeit des Urteilens und Handelns hervorzubringen unter den (erziehungsempirischen) Bedingungen der Unselbständigkeit. Es gibt also, wie Fiedler schrieb,
»Menschen, die den Beruf des Lebens ... darin (finden), den anderen Menschen vorzuhalten, was sie leisten sollten«
(I, 50)
. Dieser
»Beruf«
gerät nicht notwendig in Paradoxien, aber doch in schwierige Lagen. Im Hinblick auf die Bildung sprachlicher oder mathematischer Kompetenzen ist das Rätsel nicht gar so schwer zu lösen. Im Hinblick auf Probleme der ästhetischen Erfahrung aber droht es, opak zu bleiben, undurchsichtig. Um es durchsichtig und also in pädagogischen, besonders in Unterrichtshandlungen zugänglich zu machen, kann man bei Lerntheorien, in der Erläuterung von
»Lebenswelt«
-Bezügen, bei semantischen Projektionen, gar bei der Erwartung Hilfe suchen, auch die ästhetische Erfahrung könne ein Moment von Autonomie und damit kritischen Blick vermitteln. Dennoch bleibt ein schwer aufklärbarer Rest. Merleau-Ponty beschrieb ihn als die
»primordiale«
Verfaßtheit ästhetischer Erfahrung9
9Maurice Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes. In: G. Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 39–59. Zur näheren Begründung vgl. Anm. 8.
; Fiedler versuchte ihn als
»Ursprung der künstlerischen Tätigkeit«
zu fassen (I, 111 ff.). Im folgenden möchte ich einige Argumente für die Hypothese beibringen, daß das Paradoxon der Pädagogik der Aufklärung erst in den Fragen einer
»ästhetischen Bildung des Menschen«
seine angemessene Beschreibung erfährt, durch Fiedler bekräftigt, vom common sense der Pädagogik allerdings immer noch schwer rezipierbar. Es besteht darin, daß schon die sinnlich konstituierten Komponenten von Individualität sich nur als Respons oder Resonanz zu einer kollektiv präsentierten Formenwelt herausbilden und konturieren können.
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2. Schiller, Fiedler und die
»aktive Bestimmbarkeit«

[138:8] Die didaktische Bildungstheorie tat sich leicht mit der Einfügung der Argumente Schillers in das Corpus pädagogischen Nachdenkens, soweit es den Bildungsweg des Menschen zum Citoyen betraf, dem Zielpunkt oder Telos pädagogischer Bemühungen also. Liest man aber Schiller mit den Augen Fiedlers, sieht es anders aus. Die Brücken sind stabiler, als es scheinen mag; und es scheint mir nützlich, nun etwas dichter an der Wörtlichkeit der in Rede stehenden Texte zu bleiben. Es beruhe, so schreibt Fiedler,
»auf einer groben Selbsttäuschung ..., wenn der Mensch meint, das geistige Tun und Dasein ... mehr und mehr von der Gemeinschaft eines leiblichen Geschehens befreien zu können«
(I, 167)
. Schiller nannte einen solchen, von aller Leiblichkeit
»befreiten«
Zustand oder Habitus, mit einem uns heute in dieser Bedeutung nicht mehr unmittelbar verständlichen Wort,
»barbarisch«
, im Unterschied zum
»Wilden«
.
»Der Mensch kann sich ... auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören«
10
10Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erstehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen, 4. Brief (div. Ausgaben).
. Was Schiller in geschichtspraktischem Interesse auf Epochen oder gesellschaftliche Lagen bezog, das brachte Fiedler als Problem einer angemessenen Beschreibung des Verhältnisses von
»geistigem Tun«
und
»leiblichem Geschehen«
zur Sprache, und zwar bereits so, wie beispielsweise später H. Plessner es in seiner Ästhesiologie des Geistes versuchte11
11Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften III. Anthropologie der Sinne. Frankfurt/M. 1980
. Will man überhaupt
»kunstförmige«
Erfahrung in den Themenkreis einer pädagogisch interessierten Theorie der Bildung einfädeln – man muß es ja nicht –, dann wäre hier ihr Ausgangsproblem zu finden. Jenes Schiller-Zitat ist – in einer vielleicht dem Verlauf der Problemgeschichte unangemessen dramatischen Metapher gesagt – das Startsignal für Fiedler. Mir scheint nämlich, daß er eben diese Thematik aufnimmt, und zwar in einer Engführung, von der ich denke, daß Schiller ihr hätte zustimmen müssen. Der etwas undeutliche Ausdruck
»Gefühl«
, aber auch andere an dessen Stelle wie
»Empfindung«
oder
»Sinnlichkeit«
überhaupt, wird von Fiedler präzisiert, und zwar auf den Gesichtssinn hin; er wird damit eingeschränkt und zusätzlich noch von der Uneindeutigkeit gereinigt, die der Verwendung des Wortes
»ästhetisch«
in den Texten Schillers anhaftet.
[138:9] In größerer Distanz zu den Affektenlehren als Schiller und zugleich in Kenntnis der Fortschritte der Physiologie konnte Fiedler nun die Linie von der
»großen«
bildenden Kunst auf ganz elementare Ereignisse der Bildungsgeschichte bis in die Kindheit hinein verfolgen – ein Weg übrigens, den E. Hanslick mit sonst ähnlich gerichteten Interessen im Felde der Musik nicht gegangen ist12
12Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst (1854), Wiesbaden ²⁰1980.
. Eine Textpassage |a 100|beispielsweise, von der ich mich frage, warum sie Pädagogen oder Didaktikern nicht aufgefallen ist, lautet:
»Muß man sich nun auch sagen, daß das, was die Hand zu tun vermag, indem sie die Arbeit des Auges darstellend, bildend aufnimmt, unendlich mühsam, unbeholfen, stümperhaft erscheint im Vergleich zu der mühelosen und doch so wunderbaren Tätigkeit des Auges, die in jedem Augenblick eine ganze Welt von Bildern vor das Bewußtsein zaubert, so muß man sich doch zugleich eingestehen, daß man mit dem schüchternsten, kindlichsten Versuch bildlicher Darstellung am Anfang einer Tätigkeit steht, durch die es ganz allein möglich ist, aus den Wahrnehmungsbildern des Auges Vorstellungen in dem Sinne zu entwickeln, daß dieselben zu realisierten, in sinnlich nachweisbarer Form vorhandenen Bestandteilen des Bewußtseins werden«
(I, 166)
.
[138:10] Ich zitiere diesen nicht ganz leicht durchschaubaren Satz in der vollen Länge, weil ich denke, daß er gut die Mühe dokumentiert, die die Beschreibung eines bildungstheoretisch zentralen Sachverhalts macht, wenn die Beschreibung zugleich eine authentische Selbsterfahrung zur Sprache bringen soll. Die Schwierigkeit besteht darin, daß eine Gleichzeitigkeit von Rezeptivität und Spontaneität beschrieben werden soll, und zwar so, daß diese beiden noch einmal gleichsam gebrochen erscheinen im Zusammenspiel der Organe Auge und Hand. Da dieser Typus von Tätigkeit eine Sorte von Kulturprodukten (Bildern) hervorbringt, die einerseits schon in dem schüchternsten,
»kindlichsten Versuch«
sich zeigen, andererseits zu
»in sinnlich nachweisbarer Form vorhandenen Bestandteilen des Bewußtseins werden«
, wird bekräftigt, daß es sich dabei um eine fundamentale Komponente der Bildung handelt, und zwar von Anfang an (das Argument liest sich wie eine Vorwegnahme der Erläuterung
»präsentativer Symbole«
durch S. Langer13
13Susanne Langer, Philosophie auf neuen Wegen. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/M. 1965.
).
[138:11] Der umständlich lange Satz Fiedlers scheint mir nun überdies, wie viele andere ähnliche Sätze auch, eine erfahrungsdichtere Erläuterung eines Theorems zu sein, das Schiller eher knapp und abstrakt zur Geltung zu bringen suchte. Eine seiner zentralen Formeln war die, daß wir, im Zustand ästhetischer Tätigkeit, eine
»aktive Bestimmbarkeit«
erführen, und zwar wie sonst fast nirgends (20. Brief). Fiedler hätte gut diese Formel aufnehmen können, trifft sie doch den Kern dessen, was er, bildungstheoretisch interpretiert, im Sinne hatte, denn die Vorstellung beider ist diese: Das Individuum findet sich vor in einer Lage (gleichviel in welchem Lebensalter), in der es im Verhältnis zu seiner Sinnentätigkeit pragmatisch konstituiert ist, als aufnehmend oder rezipierend all das, was als lebensdienlich erscheint; nun beginnt es, mit Bezug auf diesen oder jenen Sinn, tätig zu werden, z. B. dadurch, daß es versucht, Linien oder Farben auf das Papier zu bringen, oder auch einfach nur dadurch, daß es im Museum vor diesem oder jenem Bild stehenbleibt. Was geschieht in solchen Momenten? An diesen Momenten ist Fiedler interessiert; es ist genau der (oder das) Moment, von dem Schiller im
20. seiner Briefe zur ästheti|a 101|schen Erziehung
spricht. Dort heißt es:
»Das Gemüt geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich tätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben, und durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken. Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüt weder physisch noch moralisch genötigt wird ..., verdient vorzugsweise eine freie Stimmung zu heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen, den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so muß man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen«
. Der Erläuterung des Ausdrucks
»ästhetisch«
, die Schiller in einer Fußnote beifügte (
»... Eine Erziehung zum Geschmack und zur Schönheit«
;
20. Brief, Fußnote 10
), mochte Fiedler nicht folgen, denn es war ihm ja gerade daran gelegen, das
»Ästhetische«
als allgemeine Sinnenaufmerksamkeit, an Lust und Unlust, Geschmack und Schönheit gebunden, von dem zu unterscheiden, was die künstlerische Tätigkeit ausmacht. Dennoch aber ist das Gemeinsame zwischen beiden Autoren wichtig genug, um hier hervorgehoben zu werden.
[138:12] Obwohl die begriffliche Unterscheidung noch unklar bleibt, will auch Schiller die
»ästhetische Beschaffenheit«
von der
»physischen«
wegrücken. Damit eröffnete er ein Thema, das bei Fiedler in der Erörterung der Frage kulminiert, in welchem Sinne davon die Rede sein könne, daß es in der künstlerischen Tätigkeit
»Wirkungen«
geben könne. Unmißverständlich macht er deutlich, daß – Josef König hat das dann viel später präzisiert14
14Josef König, Die Natur der ästhetischen Wirkung. In: Vorträge und Aufsätze, hrsg. von G. Patzig. Freiburg/München 1978.
– es sich dabei überhaupt nicht um jene Art von Wirkungen handeln könne, die als
»physische«
oder als gesellschaftliche, sozialpsychologische nach empirischen Kausalitätsannahmen interpretiert werden, sondern um solche, die eher nach den Regeln sprachlicher Interaktion gedeutet werden müssen (vgl. I, 112 und 215 ff.). Schon deshalb kann das Eigentümliche der Kunsterfahrung auf gar keine Weise in Aisthesis, in Wahrnehmung überhaupt fundiert werden.
[138:13] Eine Theorie der Bildung durch kunstförmige Ereignisse hätte sich aber auch zu bewahren vor dem, was heute häufig und mißverständlich
»Lebenswelt«
genannt wird, bei Schiller mit dem Wort
»moralische Beschaffenheit«
angedeutet oder von Fiedler als jene Blickverengung beschrieben, der
»das menschliche Leben unter dem Gesichtspunkt einer Gesamtarbeit«
erscheint,
»in der sich das einzelne individuelle Streben nur als Glied in der großen Verkettung einer nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung sich vollziehenden Entwickelung«
darstellt
(I, 219)
. Zu derartigen Wirkungen oder Verkettungen hält die künstlerische Tätigkeit, bedenkt man ihren Ursprung und ihre Bedeutung für die Bildung des Menschen und im Lichte von Schillers und Fiedlers Argumentationen genau, entschieden Distanz. Zu dem gleichgewichtigen Spiel zwischen Rezeption und Spontaneität, zum Zustand der
»aktiven Bestimmbarkeit«
kann es ja nur kommen, wenn das Individuum von den |a 102|physischen und den moralischen Nötigungen entlastet ist. Es kann deshalb gar nicht verwundern, daß die pädagogische Literatur weder Fiedler zustimmen mochte noch sich auf den 5. und 20. der Briefe Schillers zur ästhetischen Erziehung intensiver einließ. Es mußte so erscheinen, als würde durch derartige Argumentationsfiguren eine wesentliche Komponente des modernen Bildungsbegriffs außer Kraft gesetzt. Am Ende der institutionalisierten Bildungswege wurde die Gestalt eines Bürgers, einer Bürgerin gedacht, deren bis dahin durchaus als verschieden annehmbare Komponenten der Existenz sich endlich im
»Citoyen«
zusammenfinden, ein durch und durch pragmatisches Kalkül, in dem, letzten Endes, die Moralität des Handelns und die epistemische Dignität des Urteilens die entscheidenden Kriterien hergeben. Dieses seit Rousseau moderne Projekt der Bildung – in dem doppelten Sinne von
»Vorhaben«
und
»Projektion«
– wird nun in Zweifel gezogen. Darf man das zulassen?

3. Nachahmung

[138:14] Um diese Frage nicht über Gebühr zu dramatisieren, soll ein Detail der Annahmen Schillers und Fiedlers noch einmal aufgegriffen und etwas näher erläutert werden, und zwar im Lichte der Kognitionstheorie J. Piagets. Schiller hatte, für den Vorgang ästhetischer Erfahrung, von
»aktiver Bestimmbarkeit«
geschrieben; Fiedler wurde nicht müde, den Begriff der
»Nachahmung«
für künstlerische Produktion und Kunsterfahrung zurückzuweisen. Was hat es damit auf sich?
[138:15] Beide, so scheint es, sind auf der Suche nach einem Vokabular, mit dessen Hilfe die Eigentümlichkeit einer Bildungsbewegung beschrieben werden kann, die sich dadurch vor anderen Bildungsbewegungen auszeichnet, daß in ihr die Tätigkeit des Sinnes ebenso zur Geltung gebracht wird wie die vernunftförmige Aufmerksamkeit auf das, was sich in der Sinnentätigkeit ereignet. Was geht vor zwischen Auge, Hand und Bewußtsein? Der Prototyp dieser Problemstellung ist für Fiedler die Tätigkeit des Künstlers; Schiller wählt dafür die Vokabel
»Spiel«
. Beide Autoren halten Distanz zu dem, was in der Bedeutungsgeschichte der Ausdrücke
»Nachahmung«
,
»Imitatio«
,
»Mimesis«
mal mehr, mal weniger hervortrat, nämlich der damit häufig konnotierten Komponente von Passivität, von Erleiden, von Rezeptivität, bloßer Wiederholung von Vorbildern, angeblich
»realistischer«
Naturnachahmung usw. Eine solche Vorstellung vom
»Spiel«
oder von der
»Kunst«
sei falsch. Vielmehr handele es sich in vielen Fällen um eine Art von Tätigkeit, die gerade dadurch, daß sie von epistemischen und praktisch-moralischen Zumutungen entlastet ist, eine eigentümlich schwebende Charakteristik, nämlich die von Spiel und Kunst zur Geltung bringen kann. Die Beschreibung der Bildungsbewegung, in die das Individuum – sei es das spielende Kind, sei es der Künstler – dabei gerät, bedarf eines Vokabulars, das eben dieses zur Sprache bringt.
[138:16] Die dadurch eröffnete bildungstheoretische Fragerichtung hat nun in J. Piaget einen kongenialen Fortsetzer gefunden, wenngleich er sich nur gelegentlich auf Vorgänge |a 103|der Kunsterfahrung bezieht. Was ist Nachahmung? Piagets (empirischer) Befund ist dieser: Es gibt überhaupt keine Art der Auseinandersetzung des menschlichen Organismus mit seiner Umwelt, die nicht durch zwei Komponenten bestimmt wäre: Akkommodation und Assimilation. Akkommodation, also das Sich-Anbequemen an die mir durch die Sinne zugeführten Daten ist in jedem Lebensvorgang ebenso eine
»Aufgabe«
des Organismus, wie es die Assimilation ist, nämlich die Verarbeitung solcher Daten im Sinne einer Einfügung in die schon vorhandenen Bestände, auch einer darin stattfindenden Transformation, in der die Sinnesdaten einerseits ihr Gewicht behalten, andererseits aber in neue Bedeutungskontexte überführt werden. Die langatmigen, gelegentlich gar ermüdenden Erläuterungen Fiedlers kreisen um dieses Problem. Was er
»künstlerische Tätigkeit«
nennt, ist ein Vorgang der Weltbemächtigung, in dem die Komponente der Assimilation das Geschehen leitet. Sie nimmt ihren Anfang – nach Piagets Beobachtungen und Deutungen – spätestens im dritten Lebensjahr, zeigt sich vor allem im Spiel, wird dann zum bewußten,
»symbolischen Denken«
und tritt schließlich hinter die Herrschaft der pragmatischen Akkommodations-Zumutungen in Epistemie und Praxis wieder zurück15
15Vgl. dazu besonders Jean Piaget, Nachahmung Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Mit einer Einführung von H. Aebli, Stuttgart 1969.
. Die Kompetenz in dieser Dimension der Auseinandersetzung des Individuums mit der Welt bleibt erhalten, die Performanzen aber werden seltener.
[138:17] Dieses assimilierende Spiel mit den Möglichkeiten des symbolischen Denkens,
»aus den Wahrnehmungsbildern des Auges Vorstellungen ... zu entwickeln«
und sie zu
»Bestandteilen des Bewußtseins werden«
zu lassen, wie Fiedler schrieb, hat Piaget nicht streng auf die Bedingungen des Gesichtssinnes bezogen. Die Logik der Argumentation aber ist bei beiden Autoren gleich, läßt man das entwicklungstheoretische Interesse Piagets vorübergehend außer Betracht.
»Symbolisches Denken«
oder
»künstlerische Tätigkeit«
sind aktive, hervorbringende Auseinandersetzungen mit
»Welt«
, und zwar solche, in denen ein Erkenntniszugang zum Verhältnis von Ich und Welt sich eröffnet, dessen Telos weder in theoretischen (wissenschaftlichen) noch in praktischen (moralischen, ethischen) Urteilen gefunden werden kann; auch nicht in den Anpassungs-/Akkommodationsleistungen, die der Organismus notwendig und lebenslang erbringen muß. In Spiel und Kunst hingegen sind die Daten des Milieus höchstens das Material aus voraufgegangenen Rezeptionen, insofern nämlich, als die assimilierende Tätigkeit irgendein in den Sinnen gegebenes und kognitiv zum
»Schema«
verarbeitetes Etwas braucht, um voranzukommen. Unter solchen Umständen wird der Gebrauch des Terminus
»Nachahmung«
fraglich, wenn nicht schon seine wechselvolle Bedeutungsgeschichte, auch in den Varianten von Mimesis und Imitatio, die Schwierigkeit gezeigt hätte.
[138:18] Nachahmung wurde allerdings schon in der klassischen, vor allem aber in der romantischen Theorie der Bildung des Menschen zum Grundproblem. Weder Piaget noch Fiedler heben hervor, daß sie sich in dieser Tradition befinden. 1799 |a 104|bemerkte Ludwig Tieck:
»Die Töne der Instrumente ... diese Töne, die die Kunst auf wunderbare Weise entdeckt hat ... sind von einer durchaus verschiedenen Natur [als die Töne,
die die Natur hervorbringt
], sie ahmen nicht nach, sie verschönern nicht, sondern sie sind eine abgesonderte Welt für sich selbst«
16
16Zitiert nach
Carl Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, 15.
, sie folgen, würde Piaget sagen, den Regeln des assimilierenden Symbolspiels. Die damit gesetzte Differenz zu einem vulgären Nachahmungsbegriff interessierte die romantischen Bildungstheoretiker ungemein. Man darf annehmen, daß wenigstens für Schleiermacher – schon seiner frühen Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel und seiner Mitarbeit am Athenäum, besonders aber seiner späteren Ästhetik wegen – die Kunsterfahrung eine wesentliche Komponente der 1813 und 1826 ausgearbeiteten Pädagogik war. In deren Zentrum steht u. a. die Frage, wie man sich, für den Verlauf der Bildung des menschlichen Individuums, das Verhältnis von Rezeptivität und Spontaneität zu denken habe. In Ermangelung systematisch-empirischer Beobachtungen, die erst Piaget 100 Jahre später beigebracht hat, erörtert er das Problem als spekulierende Abwägung von Hypothesen und Fehlerquellen. Eine seiner Schlußfolgerungen ist die
»Maxime«
, daß der Moment der Zukunft nicht aufgeopfert werden dürfe17
17Friedrich Daniel Schleiermacher, Pädagogische Schriften I. Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826. Unter Mitwirkung von Th. Schulze hrsg. von E. Weniger, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983, 45 ff.
– in Hegels Ästhetik wird das Problem mit Bezug auf die Musik als die
»Selbigkeit«
der
»Jetztpunkte«
diskutiert, wie Dahlhaus sagt; Hegel meint damit die Eigentümlichkeit musikalischer Erfahrung, die, weil sie nur in der Zeit ermöglicht wird, auf einer Aufeinanderfolge des je erfüllten einen und nächsten
»Itzt«
beruhe18
18
Vgl. G. W. Hegel, Ästhetik 2. Nach der zweiten Auflage Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Fr. Bassenge, Berlin und Weimar 1984, 277
; ferner
C. Dahlhaus, a. a. O., 254 f.
.
»Zukunft«
ist, in der Bedeutung dieser Maxime, nicht nur das lebensgeschichtlich je Spätere, sondern es ist das Netzwerk bürgerlich-pragmatischer Existenzweise, das letzten Endes, perspektivisch gemalt, als Fluchtpunkt der Bildungsprozesse gedacht wurde. Schleiermacher verwendet auf die Beschreibung dessen, was innerhalb solcher
»Momente«
geschieht, nur wenige Seiten, und als deren Paradigma, von Schiller profitierend, das Spiel. Da er nun, mit Tieck vertraut, dieses Spiel nicht als
»nachahmend«
bestimmen mochte, sondern in ihm vorwiegend
»Spontaneität«
am Werke sah; und da andererseits wir, durch Piaget belehrt, darin eben jene
»assimilierende«
Tätigkeit finden, die weder den Standards bürgerlicher Nützlichkeit unterworfen ist noch sonstwie als Nachahmung der Natur oder anderer Komponenten des sinnlich zugänglichen Milieus zutreffend charakterisiert werden kann, dürfen wir vermuten, daß hier ein bildungs- und ein kunsttheoretisches Theorem konvergieren: beide konturieren die Argumentationsfigur des autonomen Subjekts. Dazu nun hatte Fiedler einiges beizutragen.
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4. Autonomie

[138:19]
»Das, was den Künstler auszeichnet, ist, daß er sich nicht passiv der Natur hingibt und sich den Stimmungen überläßt, die sich in ihm erzeugen, sondern daß er aktiv das, was sich seinen Augen darbietet, in seinen Besitz zu bringen sucht«
(I, 172)
. An diesem Zitat ist, im Hinblick auf eine Beschreibung der
»Autonomie«
des Subjekts, einiges der Hervorhebung wert.
  1. 1.
    [138:20]
    »Natur«
    ist nicht nur das, was den Sinnen zugänglich ist, sondern auch, was
    »sich«
    innerhalb des Organismus
    »erzeugt«
    . Die Distanzierung von der vulgären, aber schon von K. Ph. Moritz (1788), eine Generation früher bereits für die Musiktheorie von Hiller (1754), besonders ausführlich aber von Schelling zurückgewiesenen Nachahmungsvorstellung wird also nach zwei Seiten hin vorgenommen: Nicht nur zur äußeren Natur, sondern auch zur inneren hin versagt der Nachahmungsbegriff als zuverlässige Kategorie für die Beschreibung der interessierenden Vorgänge. Auch dies ist ein Erbe der romantischen Kunsttheorien, für die Musik von Dahlhaus eindringlich beschrieben. Diese hier dem Künstler zugeschriebene Bewegung der Distanzierung von den Beständen des (äußeren oder inneren) Materials oder
    »Stoffs«
    (Schiller) ist auch eine Grundfigur des klassisch-romantischen Nachdenkens über Bildung, nämlich:
  2. 2.
    [138:21] Auf gar keinen Fall
    »sich den Stimmungen«
    , und das ist etwas durchaus anderes als
    »Empfindungen«
    , überlassen und sie, die innere Natur, in quasi direktem Ausdruck abzuschildern, das ist ein wesentlich romantisches Denkmotiv. Es zeigt sich in den Athenäums-Fragmenten ebenso wie bei Schumann, der 1835 bekräftigte, daß die Kunstidee der sogenannten
    »Empfindsamkeit«
    , Hanslick nannte das etwas später
    »verrottete Gefühlsästhetik«
    , aber ebenso die späteren verbürgerlichten Kompositionen des Biedermeier (Schumann dachte z. B. an die Oper
    »Hugenotten«
    von Meyerbeer) eine Sackgasse seien19
    19Vgl. C. Dahlhaus, a. a. O.
    . Warum? Weil Gefühl, Stimmung, Empfindung, Innenweltliches also, nicht einfach in irgendeinem Medium, Sprache, Bild oder Musik, abgebildet werden können, um den Status von
    »Kunst«
    zu erreichen, sondern einer Brechung bedürfen. Kleist/Brentano haben das, in jener immer wieder zitierten Notiz zu Friedrichs Bild Der Mönch am Meer (1810), auf einen bildhermeneutischen Punkt gebracht, freilich wiederum in Metaphern.
  3. 3.
    [138:22] Die notwendige Brechung spontaner Ausdrucks- oder Akkommodationsbedürfnisse ist, im Rahmen einer Theorie der Bildung, auch ein Problem der Bildung von
    »Individualität«
    . Das ganze historische Projekt einer Transformation der feudalen in eine republikanisch-demokratische gesellschaftliche Form hängt, wie wir heute empirisch zuverlässiger wissen als damals, u. a. an der Frage, ob es gelingt, konturierte Individualitäten mit dem kulturell oder gesellschaftlich Allgemeinen zu vermitteln. Humboldts Formel dafür war,
    »soviel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er (der Mensch) nur kann, mit sich zu verbinden«
    , und zwar so, daß |a 106|dabei die je individuellen
    »Kräfte«
    hervorgebracht oder gestärkt werden20
    20
    Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen. In: Werke in fünf Bänden, Bd. 1, hrsg. von A. Flitner und K. Giel, Darmstadt 1960, 235.
    ,
    »Welt«
    also, wie Fiedler sagte,
    »in seinen Besitz zu bringen«
    ist. Der damit gemeinte Vorgang ist ohne Selbstreflexion nicht vorstellbar, besonders dann, wenn es sich um Innenweltliches handelt. Erst auf dem Wege solcher Selbstreflexion – so die Bildungstheorie Humboldts, Schleiermachers und Fröbels – kann es gelingen, die kulturellen Solidaritätserwartungen mit den Individualitätsentwürfen in eine manierliche Balance zu bringen. Das Kunstprodukt oder auch die Tätigkeit des Künstlers ist der paradigmatische Fall für dieses Problem, denn, wie Fiedler schreibt, das
    »Merkwürdige in der künstlerisch begabten Natur«
    bestehe darin,
    »daß in ihr ein Vorgang, den wir in gewissen Ausdrucksbewegungen ganz allgemein bei allen Menschen angedeutet finden, zu einer einseitigen und das gewöhnliche Maß weit übersteigenden Entwicklung gelangt«
    (I, 174)
    .
  4. 4.
    [138:23] Dieser
    »Vorgang«
    , dieses
    »Sich-in-seinen-Besitz-Bringen«
    , ist nun, so Fiedlers Meinung, äußerst dicht mit der Leibhaftigkeit des Menschen verbunden (
    »was sich seinem Auge darbietet«
    ). Eine solche Differenzierung der
    »Autonomie«
    -Figur gelang bildungstheoretisch erst zwei Generationen später. Sie zeigt, zur Außen- und Innenwelt-Seite hin, daß das Projekt
    »Autonomie«
    , als fiktiver Fluchtpunkt für Bildungsprozesse, die besondere Charakteristik der Sinne uns als bedenkenswerte Problemstellung aufgibt, jedenfalls dann, wenn wir es nicht in soziologischer Verkürzung denken. Man müsse
    »fortsetzen, was das Auge begonnen hat«
    (I, 174)
    , müsse
    »jene unberechtigte Scheidung zwischen geistigem und körperlichem Tun aufgeben«
    (I, 175)
    – das klingt fast schon wie eine Behauptung H. Plessners zur Ästhesiologie des Geistes – und erst dann zeige sich
    »in der künstlerisch bildenden Tätigkeit eine bestimmte Art der Entwicklung bewußten Lebens«
    (I, 176)
    , ein
    »Bewußtsein der Wirklichkeit ..., das durch kein Denken (dasjenige, das in diskursiver Rede sich ausdrückt) jemals erreicht werden kann«
    (I, 180)
    .
[138:24] Diese vier Momente eines konturierten Begriffs von der möglichen Autonomie des Subjekts – die Unterscheidung von äußerer und innerer Natur, deren Brechung in distanzierender Reflexion, die Verarbeitung der Erfahrung zur Bildung individueller Kraft und die ästhesiologische Präzisierung des besonderen Leibverhältnisses – sind, in ausgearbeiteter Form, das Hauptstück von Fiedlers Beitrag zu einer Theorie der Bildung des Menschen. Daß dies von Pädagogen nicht zur Kenntnis genommen wurde, verdient einige erläuternde Hypothesen: Die schwierige, aber gleichwohl inflationär verwendete Vokabel
»Kreativität«
machte glauben, daß die damit ins Auge gefaßten Sachverhalte hinreichend deutlich seien; der Autonomie-Begriff wurde nahezu ausschließlich zur Beschreibung von Sozialbeziehungen verwendet; die Verführung durch die Psychoanalyse war so stark, daß man meinen konnte,
»Autonomie«
nicht nur als Welt-, sondern auch als Selbstverhältnis sei mit ihr hinreichend beschrieben; das wiederum schwächte das Interesse für phänomeno|a 107|logische Argumentationen, wie Fiedler sie vortrug und dessen Interesse – mit einer hier etwas willkürlichen Zusammenfügung zweier Termini Merleau-Pontys und Plessners – ich als Aufmerksamkeit für die primordiale exzentrische Positionalität des Menschen bezeichnen möchte21
21Vgl. dazu, besonders auch im Hinblick auf die phänomenologisch erläuterbaren Schwierigkeiten der Rede von
»Autonomie«
, Käthe Meyer-Drawe, Illusionen von Autonomie, München 1990.
. Schließlich spielte für die deutsche Pädagogik nach 1960 ein kulturhistorisches Stereotyp eine Rolle, in dem Romantik mit Biedermeier, Phänomenologie mit
»unpolitisch«
konnotiert wurde; die damit verbundenen Traditionen und Problemstellungen wurden (allenfalls) auf Fußnoten verkürzt.

5. Ästhesiologische Bildungstheorie

[138:25]
»Nur wenn wir uns von der Voreingenommenheit freimachen, als ob die Kunst der Erfüllung von Aufgaben zu dienen habe, die anderen Gebieten des Lebens entnommen sind, werden wir ihrem inneren Leben zu folgen vermögen«
, und
»nicht als ein notwendiges Glied in einem ihr fremden Zusammenhange vielfacher Lebenszwecke werden wir sie mehr betrachten, sondern wie eine Erscheinung, die überall hervortreten muß, wo menschliche Zustände sich entwickeln«
(I, 195)
. Stellt man in Rechnung, daß dies vor dem Hintergrund des Interesses an einer Explikation der Leistungs- und Steigerungsfähigkeit des Gesichtssinnes gesagt ist, dann darf man folgern: Fiedler ist auf der Spur einer ästhesiologisch interessierten Bildungstheorie. Mehrere Gründe, über Fiedlers explizite Argumentationen hinaus, lassen sich dafür geltend machen:
  • [138:26] Zur Vorgeschichte seiner Argumentationen sind Diderot und vor allem Herder zu nennen22
    22Z. B. Denis Diderot, Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden (1749). In: ders., Philosophische Schriften, hrsg. v. Theodor Lücke, Bd. 1, Berlin 1984; ders., Brief über die Taubstummen. Zum Gebrauch für die Hörenden und Sprechenden (1751). In: ders., Ästhetische Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1984; ders., Versuch über die Malerei (1765). In: ders., Philosophische Schriften, a. a. O.; J . G. Herder, Kritische Wälder. Oder Betrachtung über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen: über Riedels Theorie der schönen Künste (1769). In: ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. B. Suphan, Bd. 4, Berlin 1877, Reprint Hildesheim 1967; ders., Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume (1778). In: ders., Sämtliche Werke, a. a. O.
    . Die von ihnen begonnenen Beschreibungen der unhintergehbaren Leibgebundenheit von Bildungsvorgängen, der Aufsatz über die
    »Plastik«
    , die Studien über Blinde, Taube und Stumme, die Ausstellungskommentare zu den Pariser
    »Salons«
    , all dies wird von Fiedler für das Feld des Sehens fortgesetzt, wenngleich ohne ausdrückliche Bezugnahmen.
  • [138:27] Er schrieb nicht über Kunst,
    »Kunstförmiges«
    und die dabei ins Spiel kommende Tätigkeit der Sinne überhaupt, sondern hielt es für geboten, eine differenzielle |a 108|Anthropologie der Sinne ins Auge zu fassen, ähnlich wie Eduard Hanslick, an dieser Frage allerdings weniger interessiert, es für das Ohr versuchte und wie später H. Plessner es unternahm, die ästhesiologische Besonderheit der Sinne in Kontrast zu ihrer
    »Einheit«
    zu skizzieren.
  • [138:28] Schließlich beginnt in der gegenwärtigen Pädagogik, vor allem im Bereich der Erziehungsphilosophie, eine ziemlich grundlegende Neuorientierung, wenngleich eher am Rande des
    »mainstreams«
    : Die zumeist schulförmig entworfenen Theorien der Bildung, auch die Kognitionstheorie Piagets und seiner Nachfolger, werden auf die Verluste hin befragt, die sie mit sich brachten. Und diese finden wir eindeutig in jener Richtung des Nachdenkens, die sich die eigentümliche Ordnung der Sinne zum Gegenstand macht.
[138:29] Insofern hätte die Lektüre Fiedlers schon seit langem ein Gespräch zwischen Pädagogik und Kunstphilosophie möglich machen können. Es blieb aus; vermutlich deshalb, weil die
»Kunstförmigkeit«
menschlicher Erfahrung, der
»Ursprung der künstlerischen Tätigkeit«
angesichts der Kulturprodukte, die sich in einen materialen Bildungskanon einfädeln lassen, neben der pädagogischen Thematik zu liegen schien. Das darf man heute anders sehen: Nirgends, so denke ich, erfährt man gegenwärtig mehr über die ästhesiologischen Fundamente der Bildung als durch Studien zur Hermeneutik des Bildes und der Musik – ausgenommen vielleicht die jüngsten Fortschritte der Neurophysiologie und Biochemie23
23Vgl. dazu Friedrich Cramer, Gratwanderungen. Das Chaos der Künste und die Ordnung der Zeit, Frankfurt/M. 1995.
. Das hat einen Grund in der Sache, den Fiedler immer wieder umschreibt: Die Produktionsweise des Künstlers wie die Sinnestätigkeit derer, die sich auf den Weg der Aneignung solcher Produkte begeben, sind mit einer kulturellen Tätigkeit befaßt, deren besondere Charakteristik zwar mit dem verbunden ist, was auch psychologischer oder physiologischer Beschreibung zugänglich gemacht werden kann, als kulturelle Tätigkeit aber den historisch konturierten Lebensformen zugehört. Insofern scheint Fiedler sich des theoretischen Status’ seiner Argumentationen nicht ganz gewiß gewesen zu sein; jedenfalls lassen die gelegentlich universalistisch klingenden Formulierungen diese Vermutung zu. Dieses Problem tritt ziemlich deutlich hervor, wo von der Eigentümlichkeit der
»Wirkungen«
der Kunst die Rede ist.
[138:30] Diese Art von
»Wirkung, welche der Mensch von der Kunst empfängt«
, und zwar im Unterschied zum
»Zustand passiver Empfänglichkeit«
, in dem man sich freilich angesichts von Kunstwerken auch befinden kann, stelle sich nur ein, wenn es gelingt,
»sich aus dem Gewirr konkurrierender Sinneswahrnehmungen zu erheben ..., allen Ideenverbindungen zu entsagen ..., auf den Genuß zu verzichten«
; dann erst
»fühlen wir uns in die Sphäre einer bestimmten zu immer zunehmender Klarheit fortschreitenden Tätigkeit erhoben«
(I, 216)
. Das sind Formulierungen eines modernen Subjekts, im Sinne von Selbstbeschreibungen – und es sind zugleich Aufforderungen zur Hermeneutik der eigenen Sinnestätigkeit unter den |a 109|Bedingungen der Moderne und angesichts von kulturellen Produktionen, für die der Status von
»Autonomie«
beansprucht wird. Wie dies aus dem Status des Meinens in den einer zuverlässigen Kunsthermeneutik überführt werden kann, zeigt sich heute vielerorts, z. B. in M. Imdahls Analysen der Arena-Fresken von Giotto24
24Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München ²1988.
; das sind die Lesarten der Moderne. Giottos Zeitgenossen lasen seine Opera gewiß anders, ohne daß ihnen deshalb und umstandslos nur der
»Zustand passiver Empfänglichkeit«
zugesprochen werden könnte. Die Kunstwirkung, die Fiedler meint, verweist deshalb, über die phänomenologische Skizzierung dieser Wirkung hinaus, auf eine Komponente der Charakteristik modernen, also historisch besonderen Welt- und Selbstverständnisses und versteht dies, zu Recht, nicht nur als Beschreibung, sondern auch als Aufgabe der Bildung. Diese Aufgabe besteht darin – so verstehe ich Fiedler –, den Zeitgenossen, gleich welchen Alters, zur Selbstauslegung zu verhelfen. Humboldt dachte sich für diese Selbstauslegung als Fluchtpunkt noch die
»proportionierliche«
Ausbildung der Kräfte, die Formierung der Individualität, als autonomen Gegenpol zu den kollektiven Erwartungen an die Gestalt des funktionalen und in dieser oder jener Hinsicht nützlichen Bürgers. Die Kunstdidaktik der 70er Jahre drehte den Spieß um (wie eingangs erläutert): nicht die Individualität, sondern die Beteiligungskompetenz an dem, was man
»gesellschaftliche Realität«
nannte, sollte nun als Maßstab der Bildung gelten. Zwischen beiden Fluchtpunkten entstand allmählich ein nicht mehr perspektivisch interpretierbares Panorama von Sinn-Richtungen, Ich-Entwürfen, Identitäts-Erwartungen.25
25Vgl. dazu neuerdings und besonders eindrucksvoll Käthe Meyer-Drawe, Menschen im Spiegel ihrer Maschinen, München 1996.
Daran war kräftig beteiligt nicht nur die Entwicklung der modernen Kunst, die phänomenologische Anthropologie, sondern schließlich auch die Interkulturalität unseres gegenwärtigen Erfahrungsfeldes. Bildung heute läßt sich nicht gut diskutieren ohne Rücksicht auf solche im historischen Prozeß entstandenen Pluralisierungen oder Dezentrierungen. Fiedler hat gleichsam am Scharnier dieses Umschlagens gedacht. Seit die Tür sich geöffnet hat, Schritt für Schritt, sehen wir deutlicher, daß das Ich des Auges ein anderes ist als das des Ohres, daß die
»Realität«
der soziologisch inspirierten Bildungstheorie andere Orte unserer Selbstauslegung erreicht als eine, die
»ästhesiologisch«
verfährt, daß schulische und andere Bildungskarrieren manchmal ihr Ziel erreichen, manchmal nicht. Fiedler gibt einen Fingerzeig auf den Weg, der hinter der geöffneten Tür sich dem Auge darbietet.