Methoden erziehungswissenschaftlicher Bildinterpretation
1. Voraussetzungen der Methode
1.1 Hermeneutik
In Hinsicht auf das Objekt | In Hinsicht auf den Interpreten | |
„Grammatische“ Interpretation |
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„Psychologische“ Interpretation |
1.2 Was oder wann ist ein Bild?
1.3 Historizität
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–[141:15] Materialien mit ähnlichem Sujet aus der gleichen historischen Situation oder, gröber gedacht, der Epoche.
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–[141:16] Materialien nach Regionen geordnet. Fotografien oder Ölbilder aus Berlin, um 1870 hergestellt, haben bei gleich scheinendem Sujet vermutlich nicht die gleiche Bedeutung wie solche Produkte aus Paris oder dem viktorianischen England derselben Jahre.
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–[141:17] Selbstdeutungen derer, die solche Objekte herstellten.
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–[141:18] Sprachliche Dokumente, die es erlauben, das Bilddokument im Lichte der Diskurse zu erläutern: z.B. erzählende Prosa zum gleichen Sujet, pädagogisch-theoretische Texte derselben Zeit, aber auch Schriften zur philosophischen Ästhetik.
1.4 Ordnungen und Sorten
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–[141:21] Man sollte nicht – jedenfalls nicht ohne höchst sorgfältige und historisch genaue Begründungen – Mosaike des 8. mit Holzschnitten des 16., Ölbildern des 17. und Fotografien des 20. Jahrhunderts vergleichen, etwa nur deshalb, weil auf ihnen allen„Kinder“vorkommen. Es gibt„Epochen-Regeln“. Außerdem hat auch jede Darstellungstechnik ihre eigene Regel, und die ist nicht immer synchron mit den sonst üblichen Epocheneinteilungen.
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–[141:22] Man sollte den jeweiligen Verwendungssinn der Bilder beachten. Das Bild von Mutter und Kind in einem ikonenartigen Gestus gemalt, im 12. oder 13. Jahrhundert, hat einen anderen, nämlich christlich-rituellen Verwendungssinn, als ein Mutter-und-Kind-Bild von , oder . Die einen Bilder sind für christlich-religiöse Andacht hergestellt, andere für den bürgerlichen Innenraum, wieder andere für öffentliche Agitation oder für Werbezwecke. Gelegentlich werden Bilder auch für andere als die ursprünglich gemeinten Zwecke verwendet. Ein schönes Beispiel dafür sind die in Radierungen übertragenen Ölbilder (18. Jahrhundert), deren pädagogisch eindringliche Motive nun zur massenhaften moralischen Erbauung und Belehrung dienten.
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–[141:23] Man sollte die Sujets unterscheiden. Eine bäurische Szene, von gemalt, auch wenn darin Kinder vorkommen sollten, kann man kaum mit einem Kinderportrait von (zur gleichen Zeit, am Anfang des 17. Jahrhunderts) vergleichen oder mit der Fotografie einer Schulklasse des 20. Jahrhunderts. Man muß sich entscheiden: entweder das Einzelportrait von Kindern und Jugendlichen, oder das Kind in Interaktion mit einem Erwachsenen, oder Gruppenszenen usw. Man kann freilich die Sujets kombinieren oder aufeinander beziehen. Dann allerdings empfiehlt sich eine Beschränkung auf sehr strikt definierte historische Zeiträume.
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–[141:24] Schließlich sollte man nicht meinen, von pädagogischem Interesse seien nur solche Bilder, die ausdrücklich pädagogische Konstellationen zur Darstellung bringen. Zur Pädagogik gehört auch, wie der Erwachsene, die erziehende Generation also, sich selber sieht; dies ist allemal der Ausgangspunkt für den Umgang mit der nachwachsenden Generation. Wir, als die„Erziehenden“, können uns nicht annullieren und bringen deshalb notwenig unseren eigenen Lebensentwurf ins Spiel. Damit wird die für erziehungswissenschaftliche Analyse interessante Bildsorte erweitert: Bilder nämlich, in denen visuelle Formeln vorgeschlagen werden für die Weise, in der wir, die Erziehenden, uns im kulturellen Kontext lokalisieren mögen oder nicht mögen. Hervorragende Beispiele dafür sind der„“ von (1810), die„“ von (1882), aber auch ein von (1927), in dem das Verhältnis zwischen Kleinstkind und Erwachsenenbereich zur Darstellung kommt (beispielhaft interpretiert von D. Lenzen 1993). Da dieser Blick der Erwachsenen nicht nur die eigene Welt, sondern auch die der nachwachsenden Generation betrifft, darf man sagen, daß die Auseinandersetzung mit der jeweilig gegenwärtigen Bilderwelt eine notwendige Komponente erziehungswissenschaftlicher Forschung ist. Wir verstehen uns besser, wenn wir auch die |a 253|Bildformeln verstehen, mit denen unsere Kultur uns versorgt; die Bildermacher sollten wir nicht geringer achten als die Theoretiker.
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–[141:25] Endlich sollte nicht vergessen werden, daß auch Kinder und Jugendliche visuelle Objekte herstellen. Es wäre dem hermeneutischen Forschungsinteresse ganz unangemessen, würde man diese Bildsorte nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit und Strenge interpretieren wie die Produkte der„Kunst“. Obwohl sich gewiß von den entwicklungspsychologischen und psychoanalytischen Deutungen vieles lernen läßt (vgl. Widlöcher 1974, Richter 1984), auch von den an Curriculum und Didaktik interessierten Studien (vgl. Otto/Otto 1987), muß man in hermeneutischem Interesse geltend machen, daß bildnerische Ausdrücke von Kindern und Jugendlichen Kulturtatsachen sind, die sowohl für sich selbst als auch als Momente des kulturellen Kontextes interpretiert werden sollten, zunächst unabhängig von den entwicklungslogischen, sozialisationstheoretischen oder psychoanalytischen Begriffen und hypothetischen Ordnungen.
2. Methodisches
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1.[141:27]Erziehungswissenschaftliche Bildinterpretation unterscheidet sich von der Kunstgeschichtsschreibung durch ein eingeschränktes thematisches Interesse. Nicht Bilderwelten überhaupt sind ihr Thema, sondern solche Bildmaterialien, die sich, mal mit strenger, mal mit weiterer Perspektive, auf das Verhältnis zwischen den Generationen beziehen lassen. Es sind vor allem drei Themenkreise, die erziehungswissenschaftlich von besonderem Interesse sind: die Lage der jungen Generation (Bilder von Kindern und Jugendlichen, als Portraits oder innerhalb von anderen Inszenierungen u.ä.), Beziehungskonstellationen zwischen dieser und der Generation der Erwachsenen (Mütter und Väter mit Kindern, Lehrer und Schüler u ä.) und das Bild, das die Erwachsenen von sich selbst haben, als eine der Bedingungen des je besonderen Generationenverhältnisses (Portraits, Selbstbildnisse, abstrakte Kunst, Installationen und Performances u.ä.). Man könnte sich auch an anderen Themen-Klassifikationen orientieren – etwa das Bild vom Körper/Leib des Menschen, Vorstellungen von Interaktion, die pädagogische Beziehung, die Lehre. Immer aber, und das unterscheidet die erziehungswissenschaftliche von der kunsthistorischen Bilddeutung, sollte man Rechenschaft geben von der Relevanz, die der Bildsorte für die Thematik zugesprochen werden kann.
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2.[141:28]Darin steckt eine mögliche Verführung: Bilder treffen, jedenfalls in unserer Kultur, immer schon auf eine in Sprache gedeutete Welt – z.B. in der Form des gerade zur Klassifikation von Bildsorten verwendeten Vokabulars. Es könnte deshalb naheliegen, ihre„Aussagen“nach Maßgabe solcher Deutungen, auch derer der Erziehungswissenschaft, zu beschreiben und zu interpretieren. Man entdeckt dann wieder, was in den dabei ins Spiel kommenden Verstandesbegriffen schon gesagt ist: in einer Familien- oder Schulszene„Rollen“, in Portraits„Individualität“, in einer Installation„Entfremdung“, in einem Interieur„bürgerliche Familie“, in einem Mutter-und-Kind-Bild„symbiotische Beziehung“usw. Das alles ist möglich, verschenkt aber den Erkenntnissinn der Auseinandersetzung mit Bildmaterialien, den schon in der„Kritik der Urteilskraft “als„reflexiv“bestimmte und damit meinte, daß Kunstobjekte sich erst dann dem an Erkenntnis interessierten Urteil erschlössen, wenn solche„bestimmenden Verstandesurteile“suspendiert würden, um die vielleicht passenden Begriffe erst zu suchen (deshalb„reflexiv“). Bildinterpretation in pädagogischer Absicht operiert also immer, wenn sie nicht nur illustrativ sein will, an dieser Grenze entlang.
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3.[141:29]Beispiele dafür sind – jedenfalls in der erziehungswissenschaftlichen Forschung – noch selten. Die wenigen aber sind studierenswert: so z.B. eine Interpretation von Säuglings-Darstellungen (Lenzen 1993, Wünsche 1991 und 1993), die Analyse der pädagogischen Paar-Gruppe über größere historische Distanzen hinweg (Schulze 1993), die Deutung eines Bildes von () als didaktisches Modell (Parmentier 1991), einer Geißelungs-Szene von als bildungstheoretischer Diskurs (Mollenhauer 1983), ein als frühes (1280) Beispiel für einen neuen Begriff von Kindheit (Mollenhauer 1987), die Beschreibung der„“ von als ein Lehrstück für die visuelle Bildung des Betrachters (Gruschka 1996). An all diesen Beipielen zeigt sich indessen die oben angedeutete Schwierigkeit. Mit Ausnahme vielleicht der Deutungsversuche (vgl. Wünsche 1996; besonders, methodologisch auf die Fotografie bezogen, auch 1997) schwanken die bildthematischen Bemühungen hin und her zwischen ikonographischen und phänomenologischen Verfahren der Beschreibung und Deutung. Das hat seinen Grund vermutlich in dem thematischen Interesse der Erziehungswissenschaft: Wer durch Bilder etwas über Erziehung und Bildung erfahren will, folgt schon einer kategorial geordneten Aufmerksamkeit, seinen„Verstandesbegriffen“also; er versucht, ikonographisch, die zumeist gegenständlichen Bildzeichen seinem historischen Wissen („was bedeutet der Spiegel im Hintergrund?“) und seinen begrifflichen Klassifikationen (Spiegel = Hinweis auf eine„Identitäts-Problematik“?) zuzuordnen. Der phänomenologische Blick hingegen – er entstand ungefähr zeitgleich mit der Malerei nach – versucht zunächst, das Bild„als Bild“zu verstehen, ein Umweg, zu dem Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sich schwer entschließen. Dieser Umweg aber könnte höchst produktiv sein. So haben z.B. die Kunsthistoriker und gezeigt, was die Zeitgenossen über ihre eigene Bildung und also auch über die Komponenten |a 255|einer modernen Bildungstheorie Neues erfahren können, wenn sie sich, in phänomenologischer Aufmerksamkeit, der modernen Malerei konfrontieren (beispielhaft Boehm 1993, Imdahl 1986).„Phänomenologisch“heißt, daß nun aufgeklärt werden soll, was im Vorgang des„Lesens“von Bildern mit der Sinnestätigkeit dessen geschieht, der sich interpretierend dem Objekt zuwendet. Dann können plötzlich die Bilder (geb. 1928) mit ihren„kindlichen“Kritzelspuren zu bildungstheoretischen Quellen ersten Ranges werden. Das erziehungswissenschaftliche Problem also, zwischen einer ikonographischen und einer phänomenologischen Hermeneutik, zwischen bestimmenden Verstandesbegriffen und reflektierenden Urteilen dauernd vermitteln zu müssen, bleibt, so ist zu vermuten, niemandem erspart, der in diesem Felde arbeiten will. Den schwierigen methodischen Prozeß hat gut getroffen, wenngleich in knappster Formulierung:„Die(Wünsche 1991, S. 275)‚Akte der Interpretation‘beginnen wie der Leseprozeß mit dem Abtasten der Bildtextseite. Die tastende Bewegung des Auges ist der Anfang der Beschreibung des Bildes, die Augen bewegen sich über die Fläche nach bestimmten Regeln, so daß das perzeptuelle Bild entsteht. Parallel zum Lesevorgang folgen Fixierungen und Identifizierungen, Dekodierungen und deren Überprüfung mit Hilfe von Korrektiven, bis die bewußte Deutung der gewußten Bedeutungen vorläufig abgeschlossen ist. Die Einordnung in einen stilgeschichtlichen Horizont bedarf einer Wiederholung des ursprünglichen Tastens, das perzeptuelle Bild wird zurückgerufen, um es den Bedeutungen zu unterlegen. So ähnlich könnte das Diagramm einer Bildlektüre verlaufen, das den Vorgang analytisch wiedergibt, um ihn methodisch verfügbar zu machen.“
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4.[141:30]Damit es nicht bei abstrakten Imperativen bleibt, folgen nun zwei Beispiele, allerdings aus den Beständen gegenständlicher Bilder, eine Zeichnung und eine Fotografie. Beide Objekte verlangen und verdienen eine gründliche Auseinandersetzung. Für den Zweck dieses Artikels muß es genügen, einige Fragen zu formulieren (Abb. 1).Die ersten spontanen begrifflichen„Fixierungen und Identifizierungen, Decodierungen“stellen sich rasch ein: Mutter (?) und Kleinkind, Beziehungsgesten, pädagogische Situation. Das aber trifft für Tausende von Bildern zu. – Aber was ist dieses Bild? Was sagt die Anordnung der Flächen, die Verteilung von Licht und Schatten, die Führung des Strichs? Wie also„bewegen sich unsere Augen über die Fläche“, nach welchen Regeln? – In welchen„stilgeschichtlichen Horizont“kann man die Graphik einordnen? Ist in einer Graphik anderes„sagbar“als in einem Ölbild? Das Bild stammt von ; hat er ähnliche andere Graphiken angefertigt? Welche Unterschiede zeigen sich zu anderen niederländischen Malern der gleichen Zeit und zum vergleichbaren Sujet? – Ikonologische Fragen: Handelt es sich um einen„Bild-Logos“, der für größere Zeiträume gilt, etwa bis zu den Mutter-und-Kind-Zeichnungen von , den Kinderbildern oder auch zu anderen Sujets hin? Ist der pädagogische Bild-Logos dem verwandt, was in denselben Jahren schrieb, oder diesem nicht eher entgegengesetzt? Hat es etwas mit der ikonographischen Tradition von -und-Kind-Bildern zu tun? |a 256|Ist es überhaupt ein Beispiel für pädagogische Ikonographie oder nicht, viel elementarer, ein phänomenologisches Bild von fundamentalen Gesten des menschlichen Leibes? usw.
Abb. 1: Abb. 2: Anonymer Fotograf Fragen von dieser Art sind auch an die Fotografie zu richten. Allerdings treten Bedingungen der Produktionstechnik dabei noch stärker hervor (Abb. 2).Auch hier die zunächst sich einstellenden„Verstandesbegriffe“:„Mädchen“, vielleicht„nicht-europäisch“,„Adoleszenz“, oder auch„Beziehungsverlust“,„Zukunftsungewißheit“o.ä. – Aber auch diese Fotografie ist nicht einfach nur eine illustrierende Abbildung für etwas, das wir schon wüßten. Also wieder zurück zum disziplinierten Sehen: eine dunkle Figur? Wirkt sie opak? Tritt das Gesicht heraus? Wohin blickt es? Was bewirkt der Hintergrund, was die Diagonale unten? – Ikonologisch: Ist es eine säkularisierte Ikone? In welcher Tradition also steht das Foto? Imitiert es Malerei?„Dokumentiert“es oder„inszeniert“es? Wie ist der anonyme Fotograf zu lokalisieren, zwischen Bildermachern und (angeblich) die Realität reproduzierenden Foto-Berichterstattern (vgl. dazu besonders Wünsche 1997)? Wie verhält sich dies alles zum erziehungswissenschaftlichen Diskurs über Bildung und Jugendalter im 20. Jahrhundert? usw. -
5.[141:31]Die hermeneutische Auseinandersetzung mit Bildmaterialien folgt also den gleichen Regelschritten, die auch für den|a 257|„qualitativen“Umgang mit sprachlichen Texten (vor allem autobiographischen) geltend gemacht werden: Das gleichsam„naive“Ins-Spiel-Bringen kategorial gelernter Sichtweisen – das Einklammern und Zurückstellen solcher Vorannahmen – die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Singularität des Objekts – das Einfädeln des Objekts in die Kontexte seiner Gattung – die Bestimmung des so ermittelten„Wissens im Bild“im Rahmen der zur pädagogischen Thematik gehörenden Theorien.Aber wo bleiben dabei diejenigen, die solche Kulturprodukte hervorgebracht haben, wo bleiben die„Intentionen“, die Absichten also, die sich mit Text oder Bild verbanden oder verbinden? Sie dürfen zunächst als nebensächlich gelten, können allerdings gelegentlich höchst interessant sein, wie vielleicht bei oder überhaupt bei solchen, deren Wirken zu entnehmen ist, daß sie eine individuell-besondere Stellung im Rahmen ihrer Zeitumstände einzunehmen trachten. In anderen Fällen aber ist es für die Erziehungswissenschaft besser, den objektiven Gehalt der Produkte herauszuarbeiten und diese nicht nach Maßgabe der Absichten zu interpretieren, die damit verbunden waren. Die Bedeutung der kulturellen Funktion eines Mütterlichkeits-Idols aus archaisch-matrilinearen Kulturen können wir auch gut beschreiben, ohne über Biographie, Absichten und Geschlecht derer, die es hervorbrachten, irgend etwas zu wissen. Allerdings ist ebenso richtig, daß wir ein Produkt noch besser verstehen – nach der zitierten Meinung , daß zum vollständigen Verstehen nicht nur die„grammatische“sondern auch die„psychologische“Komponente des Werks geltend gemacht werden müsse –, je genauer wir die biographischen Produktionsbedingungen kennen.
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6.[141:32] Die Auslegung von Bildelementen in erziehungswissenschaftlicher Absicht hat indessen – der individuellen Intention gleichsam entgegengesetzt – immer auch die Komponente ihrer gesellschaftlichen Verwendung ins Auge zu fassen. Dem subjektiv gemeinten steht der objektiv realisierte Sinn gegenüber. Dieser zeigt sich nicht nur im Werk, sondern auch auf dem„Markt“bzw. auf dem politisch beherrschten Feld, auf dem er verwendet wird; die Semantik eines Bildes, was es kulturell bedeutet, muß also auch von dieser Seite her entschlüsselt werden und erfordert methodische Zugänge, die mit weiteren Quellen-Materialien arbeiten (Dokumente über Auftraggeber, die zeitgenössischen Kommentare und Kritiker, die private oder öffentliche Verwendung u.ä.).
3. Theoretisches und Hypothetisches
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1.[141:34] Kein Bild ist derart einmalig, daß es nur für sich selber stünde. Wäre es anders, dann wären Ausdrücke wie„Verstehen“,„Zeichen“,„Bedeutung“sinnlose Vokabeln. Sage ich also„ich verstehe dieses Bild“– wenngleich vorerst nur spontan, noch nicht im Sinne eines hermeneutisch aufgearbeiteten Verständnisses –, dann ist diese Aussage nur dann sinnvoll, wenn ich irgendwelche mir schon vertrauten Begriffe zu ihm in Beziehung setze („Dies ist ein Kind“,„dort |a 258|sehe ich eine Dreieckskonstruktion“,„hier sind zwei Komplementärfarben,„das ist ein Graffito“,„dies ist die Kritzelzeichnung eines etwausw.). Schon in solchen Behauptungen sind also Hypothesen enthalten, die ich mir zum Bewußtsein bringen sollte.„zweijährigen“Kindes“
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2.[141:35] Die Beschäftigung mit Bildern findet – über jene spontanen begrifflichen Zuordnungen hinaus – in einem immer schon geordneten und vermessenen Feld erziehungswissenschaftlicher und historiographischer (vgl. dazu Haskell 1995), auch gesellschaftsanalytischer Theorien statt. Die Forschung folgt – nicht immer, aber zumeist – einem thematischen Interesse, das sich in Theorien niederschlägt und dann zu bildspezifischen Hypothesen führt: Man möchte prüfen, ob die Behauptung (Hypothese) zutrifft, eine konturierte Vorstellung von„Kindheit“gebe es erst seit der Renaissance; man möchte wissen, ob Interaktionstheorien auch von Bildmaterialien bestätigt werden können; man möchte fragen, ob es eine Geschichte der Familienerziehung gebe, die aus Bildern zu gewinnen sein könnte; oder man fragt: Ist die Tätigkeit des Fotografierens als„Bildungsbewegung“des Fotografen zu beschreiben (Wünsche 1997); sind Graffiti ein Ausdruck jugendlicher Subkultur; zeigen auch Bilder die Auswirkungen institutionalisierter Formen des Lernens; seit wann gibt es pädagogisch arrangierte Lernumwelten für Kinder außerhalb von Schulen, und wie machen Bilder dies zum Thema? Jede dieser Fragen ergibt sich aus dem Hypothesen-Reservoir der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft. Für jede gilt, daß zunächst offen bleibt, ob die Annahmen bekräftigt, modifiziert oder verworfen werden können.
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3.[141:36] Für die Hypothesen-Diskussion und Prüfung genügt nicht, wie schon mehrfach betont, ein einzelner Fall. Auch die qualitative Forschung ist auf Vergleich angewiesen. Das gilt jedenfalls dann, wenn man mehr im Sinn hat als eine illustrierende Bestätigung vorhandener Hypothesen (vgl. Schiffler/Winkeler 1991, Pöggeler 1992). In jedem Fall möchte auch die pädagogisch interessierte Bildhermeneutik zu verallgemeinerungsfähigen Aussagen kommen. Man ist also immer mit der Frage konfrontiert, welche Vergleichsreihen nötig sind, um die qualitativen Befunde zu„objektivieren“: Wer die Vermutung hat, daß bereits gegen Ende des 13. Jahrhunderts ein neues Bild von Kindheit entsteht (Mollenhauer 1987), für dessen Argumentation ist ein einzelnes Bild von 1280 nicht hinreichend; er muß zeigen, daß die am Bild erarbeiteten qualitativen Charakteristika auch für viele andere geltend gemacht werden können. Wer die Veränderung der pädagogischen Paargruppe im Auge hat (Schulze 1993), muß historische Reihen dieses Sujets zusammenstellen, und zwar für jede behandelte Epoche. Wer pädagogische Themen in der Werbe-Fotografie behandeln will, der benötigt verschiedene Stichproben, auch wenn die Fallzahlen recht klein sein sollten. Damit das Kritzelbild des Kleinkindes nicht als genialischer Kreativitäts-Akt (miß-)verstanden wird, sind entwicklungslogische Vergleiche und auch solche mit moderner Malerei unerläßlich (Mollenhauer 1996).
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4.[141:37] Dennoch hätte man die Chancen qualitativer Bildinterpretation verschenkt, würde man nur derart hypothesenkritisch vorgehen. Diese Art von Forschung, das wurde auch von„Hardlinern“der quantitativ-hypothesenprüfenden Metho|a 259|dologie nie geleugnet, kann auch zur Findung neuer Hypothesen verwendet werden, beispielsweise wenn Bilddokumente in die Aufmerksamkeit rücken, die vordem in der erziehungswissenschaftlichen Forschung gar nicht berücksichtigt wurden. Das war etwa der Fall, als (1975) für seine„Geschichte der Kindheit “erstmalig in größerem Umfang Bildbestände der europäischen Malerei verwendete (daß seine Hypothesenbildung später nicht durchweg überzeugte, ist eine andere Frage). Das kann auch der Fall sein, wenn Bildprodukte von Kindern und Jugendlichen – durch die moderne Kunst und ihre Rückgriffe auf„Kindliches“und„Archaisches“nahegelegt – versuchsweise nicht nach Maßgabe von Entwicklungs- oder Jugendtheorien gedeutet werden, sondern als selbständige ästhetische Äußerungen (Mollenhauer 1996), oder wenn eine„Bildgattung“(Fotografie, Montage oder Film etwa), ein Sujet (Geschlechterbeziehungen, Darstellungen von Körperlichkeit, Gewalt) erstmals besondere pädagogische Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Anstöße dazu kommen zumeist von außen: durch einen überraschenden Schritt der kulturellen Bildproduktion, durch neuere Diskussionen in anderen Disziplinen, etwa der historischen Anthropologie (z.B. Mollenhauer/Wulf 1996), durch das Finden von Materialien, die vordem im Blick der Erziehungswissenschaft nicht auftauchten (z.B. Lenzen 1993, Wünsche 1991 u.1996), durch neue Hypothesen (etwa zum Verhältnis der Geschlechter zueinander). Ein interessanter Fall in diesem Zusammenhang ist die Entdeckung des Selbstportraits als einer erziehungswissenschaftlich interessanten Bildsorte. Die erstaunlichen Transformationen, die dieses Genre in der Moderne durchlaufen hat (vgl. z.B. die Dokumentation in Identity and Alterity 1995, Das Selbstportrait 1985, auch und für derartige Probleme grundlegend Boehm 1985), das schon drei Jahrzehnte währende erziehungswissenschaftliche Interesse an Autobiographien (vgl. Schulze in diesem Band), die immer wichtiger werdenden theoretischen Annahmen über das„Selbst“und„Identität“– all dies rückt das Selbstbildnis in die pädagogische Aufmerksamkeit, aber immer noch ist nicht gewiß, in welcher Sprache, mit welchen Begriffen, mit welchen Hypothesen diese dramatische Komponente der gegenwärtigen Bildproduktion im erziehungswissenschaftlichen Diskurs zur Geltung gebracht werden könnte (wichtige Studien auf diesem Weg sind z.B. Boehm 1993, Schulze 1996, Parmentier 1997). Zwar geht es in allen diesen und ähnlichen Fällen zumeist darum, eine erziehungswissenschaftlich interessierende Hypothese allererst zu formulieren; dennoch aber ist auch diese Tätigkeit nicht frei von Vorannahmen, etwa: daß die Auseinandersetzung mit dem„Körper“kulturtheoretisch relevant sei; daß ein Säuglingsbild von Teil des pädagogischen Diskurses sei; daß eine (neue) Komponente der Erziehungswirklichkeit ins Bild bringe, die in den sprachlichen Texten jener Zeit fehlt; daß Karikaturen von bildungstheoretischem Interesse sein können; daß die Werbefotografie eine Art von stilisiertem Alltagsdiskurs über pädagogische Sachverhalte inszeniert. Auch die qualitative Bildinterpretation (für sprachliche Materialien gilt das gleiche) kann also einer eingespielten und häufig schon theoretisch-hypothetisch geordneten Begrifflichkeit nicht vollständig entgehen, andererseits aber auch neue, noch nicht vermessene Forschungsfelder in Sicht bringen.
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5.[141:38]Um so wichtiger ist es, sich selbst über den historischen Ort des eigenen Forschens aufzuklären – soweit das möglich ist. Nehmen wir an, ich sei an der Phänomenologie und Geschichte von Lehr-Lern-Situationen interessiert. Nehmen wir ferner an, ich sei bei der Suche nach Bildmaterial fündig geworden, u.a. mit den folgenden vier Produkten, die mehr als 400 Jahre auseinanderliegen (Abb. 3, 4, 5, 6):
Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Der historische Ort, von dem her ich auf diese Bilder blicke, enthält mehrere Annahmen, die zunächst vor allem meine eigene Historizität, die aus meiner eigenen Gegenwart stammenden Sichtweisen, Seh- und Ordnungsgewohnheiten betreffen, nicht aber ein (gewichtiges) Merkmal der Bilder selbst sein müssen: an dem Bilde (ca. 1511) könnten mir auch die Jünglingsgestalten, an der Zeichung (Mitte des 17. Jahrhunderts) die nachdenkliche Haltung der Frau, an (1736/37) der Umgang mit Perspektive und |a 261|kaltfarbiger Komposition, an der Installation (1993) die Raumtiefe wichtig sein. Indem ich„Lehr-Lern-Situation“sage, sehe ich (zunächst) von solchen Bildmerkmalen ab und sehe statt dessen: Schriftzeichen und Bücher, auch deren Verschwinden (offenbar bin ich Mitglied einer Schriftkultur und habe unwillkürlich die damit verbundenen Hypothesen im Kopf). Ich habe Dokumente ausgewählt, die das Lernen an Schriftlichem aus anderen Zusammenhängen herauslösen (offenbar lebe ich in einer Kultur, in der solches„Herauslösen“wichtig ist und in der es Hypothesen dazu gibt, daß dies ein Vorteil/Nachteil sei). Ich habe personal-dialogisch akzentuierte Beispiele gewählt, nicht das Kind vor dem Computer, nicht im Gehäuse, keine Massenszene englischer Industrieschulen des beginnenden 19. Jahrhunderts, habe also offenbar Vermutungen über die Bedeutung personaler Interaktion im Kopf. Ich habe schließlich, als letztes Beispiel, eine Art Kontrapunkt gewählt, ein Rätselbild, das das Vorhergehende in eine ironische Frage hineinzieht, aber in solcher Frage immer noch an das andere gebunden bleibt – denn stellt die„Lehre“als geschlossenen Kubus dar, in den man nicht hineinblicken kann; wer die Leiter besteigt, sieht auf der Gegenseite (vielleicht) nur einen anderen, ebenso verblüfften Museumsbesucher. Ich befinde mich also notwendig in einem Geflecht von Annahmen und Optionen, die nicht exterritorial sind, sondern, in diesem Fall, der vor allem in Europa entwickelten Lehr-Lern-Kultur zugehören.