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Dialog

Über Christoph Wulf (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel: Beltz 1997. 1160 S. Preis: 98,00 DM

[V84:1] Was ist
Historische Anthropologie
? Ein kürzlich publiziertes Handbuch versucht, Auskunft zu geben. Der Anspruch ist ziemlich hoch angesetzt; die Beteiligten versprechen, nach ihrem Renommee, ein beeindruckendes Niveau; die Gliederung des Werks (Kosmologie, Welt und Dinge, Genealogie und Geschlecht, Körper, Medien und Bildung, Zufall und Geschick, Kultur) erweckt Neugier. Schließlich ist es die erste Veröffentlichung ihrer Art; sie will Standards vorgeben; an solchen sollte man sie messen. Die 1160 Seiten enthalten drei ziemlich verschiedene Text- bzw. Argumentationssorten: eher der naturwissenschaftlichen Argumentation verpflichtete Texte, denen die Historizität ihrer Problemstellung weniger wichtig ist (z.B. Gehirn, S. 425ff.); ferner Texte, die nichts im Sinn haben außer der Erläuterung eines Begriffs, für den freilich anthropologische Relevanz beansprucht wird (z.B. Generation, S. 295ff.), ohne indessen irgend auf Historisches Bezug zu nehmen; schließlich solche Argumentationen, die ein anthropologisches Problem in seinem geschichtlichen Verlauf zu dokumentieren suchen und damit dem Titel des Handbuches am nächsten liegen, seinen Anspruch am ehesten einlösen (z.B. Gefühl, S. 525ff.).
[V84:2] Die meisten Artikel suchen in dieser Problemkonstellation einen Mittelweg. Der aber läuft häufig auf eine Verkürzung der historischen Tiefe hinaus. Es ist dann, gelegentlich, nur von der europäischen Neuzeit die Rede, so als beziehe sich das Adjektiv
historisch
nur auf diejenigen Epochen, die über das (angeblich) verfügen, was spätestens seit Dilthey
historisches Bewußtsein
genannt wird. Naturgemäß überwiegen dabei sprachliche Dokumente, und unter diesen vor allem solche, deren differentielles Vokabular in der europäischen Neuzeit leichter auszumachen ist als an anderen Orten und zu anderen Zeiten (z.B. Gesellschaft, Institution, Familie, Schule, Utopie, Wissen). Es wäre wohl auch zuviel verlangt, wollte man erwarten, daß sich hier auch das findet, was etwa im
Pauly
oder in
RGG
steht. Es geht dem Herausgeber und den Autorinnen und Autoren um die Erprobung einer Sichtweise, in der an historischen Befunden die aus unserer Gegenwart stammenden kategorialen Ordnungen gebrochen werden und mithin gerade das Vorläufige jeder anthropologischen Behauptung zum Vorschein gebracht wird. Das Vorhaben einer historischen Anthropologie wird deshalb in solchen Beiträgen am genauesten getroffen, in denen nicht nur von je zeitgenössischen Kommentaren die Rede ist, sondern auch, mit historiographisch weiten Rückgriffen, das Kommentierte, die nicht-sprachlichen Do|a 120|kumente von Lebensformen, in die Argumentationen einbezogen werden (z.B. Straße, Stadt, Haus, Kleidung, Sitzen, Geld, Musik).
[V84:3] Der (vorläufig)
fraktale Charakter historisch-anthropologischen Wissens
(S. 14)
wird so zwar offensichtlich, gibt aber ein starkes Motiv her, das Projekt weiter zu betreiben. Viele Beiträge lesen sich als Skizze eines Forschungsprogramms, für das viele Jahre zu veranschlagen wären. Das betrifft nicht nur die historiographischen Recherchen und Beschreibungen, sondern auch das Verhältnis zwischen Begriff und Beobachtung: Je mehr das anthropologische Vokabular Kontinuitäten unterstellt oder herausarbeitet, um so eher mündet das Vorhaben doch wieder in eine
Anthropologie von dem Menschen
, in eine verbesserte, erweiterte Form
philosophischer Anthropologie
(S. 13)
.
[V84:4] K. M.:
Vom Menschen
also ist in dem angezeigten Handbuch die Rede, und zwar in der Form
historischer Anthropologie
. Nun ist mir zwar im Ohr das Diktum Diltheys, daß der Mensch
nur
aus der Geschichte wissen könne, wer er sei. Etwas davon aber bleibt mir unaufgeklärt; und das betrifft jenes
nur
. Das zitierte Handbuch laboriert an dieser Schwierigkeit, wenn ich recht gelesen habe. Einige Autorinnen und Autoren unterstellen gattungsspezifische Sachverhalte, ohne historiographische Relativierungen; andere mögen nur über die Besonderheiten des historischen Verlaufs schreiben; Dritte schließlich erläutern nur den aktuellen Gebrauch von Begriffen oder Vokabeln. Ist das nicht für den Naturwissenschaftler, der Du bist, ziemlich irritierend? Im
Vorwort jenes Handbuchs
wird behauptet:
Nicht länger ist es möglich, von dem Menschen zu sprechen
. Viele Artikel tun es dennoch. Bin ich naiv, oder liegt da ein Problem?
[V84:5] F. C.: Wie soll der Mensch wissen, wer er sei, wenn er nicht selber einen Anfang setzt, sich den Dekalog vom Berge Sinai holt, sich ans Kreuz nageln läßt, das cogito ergo sum hinschreibt. Andererseits ist unsere Zeit für solche mutigen, individuellen Setzungen, von denen ich gerade nur drei genannt habe, denkbar ungeeignet, seit der Evolutionsgedanke alles, aber auch alles erfaßt hat. Damit ist nicht nur die biologische Seite des Anthropos in die historischen Wissenschaften eingegliedert worden, sondern auch seine verhaltensmäßige, ethische und moralische Seite. Mit Recht kann daher Konrad Lorenz seinem Buch über Aggression nunmehr den Untertitel geben: Über das sogenannte Böse. Sind moralisch-ethische Kategorien damit aus der Anthropologie hinausbugsiert? In der Tat sehe ich in dem Handbuch keinen einzigen Beitrag aus diesem Bereich, der doch der Menschheit neben Nicht-Verhungern und Fortpflanzung mindestens seit der Eiszeit der wichtigste war. Zu den beiden letzteren Bereichen finde ich zahlreiche Artikel. Auch dem homo faber sind mehrere Abschnitte gewidmet, aber der homo religiosus geht gänzlich leer aus. Ich zitiere aus
J. Mittelstrass (Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. 1, S. 128)
:
... Der damit erzeugte Auseinanderfall nicht nur von Anthropologie und Ethik, sondern auch von Identitätsinterpretation und Normenbegründung (bzw. -kritik) hat der Anthropologie den Vorwurf eingetragen, einen Rückzug in sozial und politisch weitgehend unverbindliche Überlegungen zum unmittelbaren Persönlichkeitsbereich und dessen Problemen angetreten zu haben, und die Ethik in den Verdacht einer bloß strategischen Theorie zur Normenplanung gebracht. So lassen sich Versuche verstehen, die Anthropologie wieder mit einer normativen Ethik zu verbinden bzw. Identitätsinterpretationen für die Normenbegründung und -interpretation zu verwenden. In diesem Sinne erhalten etwa Versuche ihre Bedeutung, aus den identitätsrepräsentierenden Redestrukturen ethische Prinzipien herauszulesen (K. O. Apel, J. Habermas). In einer auch die beiden Disziplinen Anthropologie und Ethik wiedervereinenden Absicht ist auch der |a 121|Versuch Kamlahs unternommen, eine philosophische Anthropologie auch als Ethik zu konzipieren
. [V84:6] Um auf Deine Frage einzugehen: Man muß auch weiterhin von dem Menschen reden, trotz unserer Individualisierung und kulturellen und evolutiven Aufspaltung, denn Anthropologie will eine Wissenschaft sein, und Wissenschaft muß das Allgemeine und Verbindende herausarbeiten. Dennoch ist die Heterogenität der Artikel dieses Bandes offensichtlich. Vielleicht hätten Herausgeber und Redakteur hier eine etwas härtere Hand haben sollen?
[V84:7] K. M.: Daß die Artikel des Handbuchs ziemlich heterogen sind, ist vielleicht nicht unbedingt ein Mangel; es handelt sich ja, wenn ich recht sehe, um einen ersten Versuch, den Stand des Wissens zu einer historischen (!) Anthropologie zusammenzutragen. Die Verschiedenartigkeit der Beiträge bringen dem kritischen Leser sogar einen Gewinn ein: Man entdeckt, daß das Projekt sich noch am Anfang befindet; es bleibt noch unbestimmt, wie das
Allgemeine
, das Du einforderst, sich zum historisch Besonderen verhält. Es gibt mehrere Beiträge, die ihr Stichwort gleichsam in universalistischer Einstellung bearbeiten, z.B. Körper, Raum, Institution, Generation, Mimesis, Seele usw.; dort wird je ein Sachverhalt als anthropologisch universell unterstellt. Dabei gerät der Sachverhalt einer besonderen, historisch-kulturellen Formation gelegentlich aus dem Blick, so etwa, wenn vom Verschwinden der
Seele
die Rede ist, so als sei sie eine universell zu unterstellende Entität, die man nur mal mehr, mal weniger zu Gesicht bekommt. Es entstehen dann eigenartige Paradoxien: Zwar wird behauptet, daß die Seele
verschwunden
sei, dennoch aber werde ihr etwas
eingeschrieben
(S. 973)
. Wie das? Mir scheint, hier wird durchaus von dem Menschen geredet. [V84:8] Wie vertrackt aber die Problemstellung ist, führt der Beitrag Carsten Colpes über Religion vor (der homo religiosus fehlt also nicht gänzlich), übrigens der einzige Beitrag, in dem die wissenschaftstheoretischen Komplikationen knapp und genau benannt werden, mit denen die
Historische Anthropologie
zu tun haben muß: Mit welcher Zuverlässigkeit lassen sich (beispielsweise) Funde aus der Steinzeit als Indikatoren nehmen für das, was wir
Religion
nennen? Überspitzt gefragt: Gab es damals überhaupt den
homo religiosus
? Die Sachlage ist hier offenbar anders als im Falle des
Gehirns
oder der (naturwissenschaftlich beschriebenen)
Evolution
.
[V84:9] F. C.: In der Tat ist der Beitrag Religion nicht nur irgendeiner der vielen Artikel, sondern eine genaue Standortbestimmung und eine Definition von dem, was Historische Anthropologie sein könnte. Das im Vorwort vom Herausgeber dazu Gesagte bleibt da etwas schwammig, und die dort vorgestellte Gliederung erscheint mir nicht zwingend. Allerdings bleibt die Frage, ob ein so immenser und heterogener Stoff in einem Handbuch, das nicht gerade ein Konversationslexikon sein will, überhaupt gegliedert werden kann. Begriffe wie z.B. Zeit, Nahrung, Sitzen, Seele, Schweigen unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zu betrachten, ist ein schwieriges Unterfangen, und das ist wohl das Problem der Historischen Anthropologie. Ist sie überhaupt ein wissenschaftliches Fach? Ich lese viele interessante, geistvolle, manchmal auch manieristisch übersteigerte oder stilistisch aufgeblasene Essays, aber ein wissenschaftliches Handbuch, denke ich, ist das nicht. Das heißt nicht, daß ich nicht das meiste mit großem Gewinn lese und mir unter den meisten Stichworten kompetentesten Rat holen kann. [V84:10] Aber noch einmal zurück zum Artikel Carsten Colpes und dem von mir angemahnten homo religiosus. Hier spricht Colpe über die Erweiterung der historischen Anthropologie |a 122|um das verkleinerte Religionsthema. Das ist nun allerdings arg verkleinert. Auch die Zehn Gebote oder die aztekischen Menschenopfer mit den mit Obsidianmessern herausgeschnittenen Herzen oder die Zen-Praktiken sind Religion. Demgegenüber ist die Frage, wie die Höhlenmalereien von Altamira zu interpretieren sind, untergeordnet. Den wichtigsten Beitrag zur historischen Anthropologie in der Moderne hat m.E. C. G. Jung geleistet, der im Buch nur ein einziges Mal in ganz anderem Zusammenhänge erwähnt wird (S. 262). Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Titel des Buches sind von C. G. Jung nicht nur behandelt, sondern auch übergreifend zusammengefaßt worden, ich denke etwa an Elemente, Sexualität, Familie, Generation, Körper (der entsprechende Artikel S. 407 – 416 ist ein Musterbeispiel für die oben erwähnte stilistische Aufgeblasenheit), Seele, Religion, Ritual, Mythos. Warum wird C. G. Jung so ausgespart? [V84:11] In diesem Zusammenhang ein Wort zum Artikel Seele. Der Artikel beginnt mit dem Satz:
Aus den Wissenschaften ist der Begriff
Seele
verschwunden
. Das stimmt wohl. Also müßte dieses Stichwort aus diesem wissenschaftlichen Handbuch verschwinden. Aber so einfach ist die Sache eben nicht. Die Wissenschaft hat die ursprüngliche Seele in zwei Teile aufgespalten: die Psyche, die in der Psychologie und Psychiatrie wissenschaftlich behandelbar ist, und die eigentliche Seele, die nur noch in der Religion (s. o.), allenfalls in der Liebe oder Poesie als ein nicht mehr in unsere wissenschaftliche Zeit passendes Fossil vorkommt. Aber auch für die Liebe sieht das Handbuch kaum Zukunft, wenn es unter Liebe 2000 auf
S. 353
heißt:
Zerbrechlicher war Liebe nie, fast schon unmöglich
. Diesem Gefühls-, Religions-, Liebes-Pessimismus kann ich mich nicht anschließen. Ich halte ihn für eine vorübergehende Modeerscheinung.
[V84:12] K. M.: Du hast gerade den Ausdruck
eigentliche Seele
verwendet. Etwas Ähnliches scheint auch in dem zitierten Handbuchartikel unterstellt zu werden. Ebenso folgt Dein Hinweis darauf, daß Colpe das Religionsthema
verkleinert
habe, der gleichen Vorstellung, wenn ich recht sehe. Damit habe ich Schwierigkeiten. Das Handbuch enthält, neben anderen, zwei verschiedene Kategorien von Stichworten, die sich prima vista gut unterscheiden lassen: solche, die (auch) durch empirische Beobachtung zugängliche Sachverhalte bezeichnen (Auge, Ohr, Hand, Gehirn, Gen, Sitzen, Stadt, Straße, Kleidung, Geburt usw.) und andererseits solche, die in dieser Weise unzugänglich sind, weil es sich um Interpretationskonstrukte handelt (etwa Gesellschaft, Identität, Glück, Schönheit, Religion, Fremde, Maschine, Seele usw.). Im Hinblick auf diese, so scheint mir, kann man nicht in demselben Sinne sagen, daß es sie gebe, wie im Hinblick auf jene, vor allem nicht, wie Du es tust, von der
eigentlichen
Seele oder Religion. Es ist ja gerade eine der Grundannahmen der historischen Anthropologie, daß nicht nur ein identischer Bestand von universellen Themen durch die Geschichte hindurch variiert wird, sondern daß Themen, und damit auch ihre Gegenstände, auftauchen und verschwinden können. [V84:13] Deinen Argwohn, es könne sich bei dem Projekt einer historischen Anthropologie um etwas handeln, was dem Kreis wissenschaftlicher Tätigkeiten oder Fächer vielleicht gar nicht zugehört, teile ich deshalb nicht. Nicht das Thema, sondern die Methode unterscheidet, nach meinem Dafürhalten, die Wissenschaft von der Alltagsmeinung. Ob das Thema universelle Probleme aufwirft oder solche, die nur für eine historisch begrenzte kulturelle Formation gelten, ist dann nebensächlich. Wichtig ist allein, ob Autorin oder Autor mit den historischen Quellen methodisch gründlich und zuverlässig verfahren. Dies allerdings geschieht in dem hier diskutierten Handbuch auf durchaus unterschiedlichen Niveaus. (Merkwürdig ist, daß die außerordentlich materialreiche und inzwischen im 5. |a 123|Jahrgang erschienene Zeitschrift
Historische Anthropologie
keinerlei Erwähnung findet.) Man sieht, daß es gelungene und weniger gelungene Zugänge zur historischen Anthropologie als
Wissenschaft
gibt; das aber stellt noch nicht die Wissenschaftlichkeit des ganzen Unternehmens in Frage.
[V84:14] F. C.: Ein weniger gelungenes Kapitel im Sinne der eben von Dir angesprochenen
Wissenschaftlichkeit
scheint mir das Kapitel Körper zu sein (S. 407ff.). Obwohl es einen wichtigen Abschnitt einleitet, in dem anschließend die einzelnen Körperfunktionen besprochen werden, bietet es keine Einsichten in den gegenwärtigen Stand der anthropologischen Diskussionen über Körper und Körperlichkeit, sondern im Gegenteil, es erweckt den Eindruck einer pessimistischen, heute unzeitgemäßen Körperfeindlichkeit, wenn es z.B. heißt
(S. 407)
:
Am Körper und seinen Sinnen kann eine spezifische Leidensgeschichte nachgelesen werden, die eine der Folien der Geschichte des europäischen Nihilismus abgibt, also jener geistigen Grundrichtung, die beim kleingeschriebenen
nichts
endet.
Der Diskussion über den Körper sollte man kein Hegel-Zitat voranstellen, schon gar nicht ein so verquastes:
Der Geist ist die existierende Wahrheit der Materie, daß die Materie selbst keine Wahrheit hat.
Natürlich hat die Materie Wahrheit, das geht schon allein aus der Tatsache hervor, daß sie sich zum Körper, zum lebendigen, denkenden Körper organisiert, daß sie das schöpferisch evolutive Phänomen der Selbstorganisation zeigt. Es ist unglücklich und verwirrend, dem obigen Hegel-Zitat das wahrhaftig dunkle (wenn auch schöne) Hölderlin-Wort entgegenzusetzen:
Ein Zeichen sind wir//Schmerzlos sind wir und haben fast/Die Sprache in der Fremde verloren
(S. 413)
. Freilich sind die Zeichen des Menschlichen, die Höhlenmalereien, mythologische Runen, Zahlenmystik und Kinderbilder Zeichen des Menschlichen, aber ich kenne bisher nur einen einzigen halbwegs wissenschaftlichen Versuch, solche Zeichen des Menschlichen historisch-anthropologisch zu deuten, das ist die Deutung der Archetypen in der Psychologie von C. G. Jung. Zwar wird der Aspekt der Evolution kurz gestreift (S. 407), aber wiederum nur in dem nun schon bekannten pessimistisch-destruktiven Sinne, der schließlich den menschlichen Körper als Fehlkonstruktion, Störenfried und
Müllproblem
apostrophiert. [V84:15] So wenig befriedigend der Einführungsartikel zum Thema Körper ist, ja ich möchte ihn geradezu als unwissenschaftlich bezeichnen, so befriedigend und genau sind andererseits einige der folgenden Kapitel unter dem Oberthema Körper. Ich denke dabei z.B. an die Abhandlung von Hajo Eickhoff, Sitzen: das ist eine knappe, informative, äußerst lesbare Kulturgeschichte des Sitzens.
[V84:16] K. M.: Ich möchte etwas zur Verteidigung des Artikels Körper sagen (trotz der höchst plausiblen zeitdiagnostischen Hypothesen). Es wird dort ja ein methodischer Vorschlag gemacht, nämlich beim Theoretisieren über den Körper die
Einbildungskraft
in den Dienst einer
exakten Phantasie
(Goethe) zu stellen. Das ist, wie mir scheint, ein phänomenologisches Programm. Allerdings verwischt der Appell, dabei
so unmethodisch wie möglich zu verfahren
(S. 413)
, wieder den Gewinn, der aus
exakter Phantasie
zu ziehen wäre, und läßt die Argumentation im Ungefähren. Goethes naturwissenschaftliche Schriften enthalten hingegen geradezu Musterbeispiele für methodische Strenge. [V84:17] Gelungen scheinen indessen auch mir solche Artikel zu sein, die historiographisch zuverlässig vorgehen und anthropologische Sachverhalte in möglichst großer Genauigkeit und empirisch gehaltvoll beschreiben. Beispiele dafür sind Gefühl, Stadt, Straße, Haus, aber auch die Behandlung einer scheinbaren Trivialität wie Sitzen, ein Artikel, der auch |a 124|Dich, wie Du sagst, befriedigt. Hier wird – freilich nur in groben Zügen – etwas zum Thema gemacht, was nun wirklich in der philosophischen Anthropologie
des
Menschen bisher keinen rechten Ort hatte; das kommt zudem so zur Darstellung, daß der Leser am Leitfaden historischer Befunde sowohl mit deren anthropologischer Relevanz bekannt gemacht als auch (methodisch) instand gesetzt wird, die vorgetragenen Behauptungen am Material der Geschichte zu prüfen. Man wird über Sachverhalte informiert und nicht nur über riskante Hypothesen der Verfasser. Unter diesen wagt sich am weitesten vor die Vermutung, wir befänden uns
in einer historischen Situation des Wechsels der Grundorientierung vom
animal rationale
zum
deus qua machina
(Artikel Mensch)
– übrigens wird der darin enthaltene dramatisch-pessimistische Ton im Artikel Maschine nüchtern korrigiert. Bei derartigen Problemen fragt man sich, wie in einer
Historischen Anthropologie
eigentlich das Verhältnis sprachlicher Selbstdeutungen des Menschen zu den
Realien
seiner Lebensweisen und -formen gedacht und untersucht werden soll. Auf der Grenze zwischen beiden nun liegt, wenn ich recht sehe, auch das Konzept der Evolution. Dies aber wird im Handbuch nirgends erörtert, mit Ausnahme Deines eigenen Beitrages (S. 49f.). Ist das nicht ein Versäumnis, und zwar deshalb, weil der Begriff Evolution von beiden, von den Natur- und den Geisteswissenschaften, in Anspruch genommen wird? Und weiter: Läßt sich eine Vermutung wie die vom drohenden Ende des
animal rationale
oder eine andere, etwa von der
historisch entstandenen (und zu korrigierenden) Dummheit des Körpers
(S. 410)
, mit Hilfe des Evolutionskonstruktes genauer diskutieren?
[V84:18] F. C.: Ich greife das gerne auf. Durch die Vorstellung von der Natur als dem Resultat eines evolutionären Prozesses hat sich seit dem 19. Jahrhundert das Bild unserer Welt vollständig verändert. Natur ist nicht mehr statisch, sondern sie ist dynamisch, evolutiv und kreativ. Und natürlich ist der Mensch das Produkt dieser Evolution. In dieser Evolution sind nicht nur sein Körperbau, sein Zentralnervensystem, sondern auch große Teile seines Verhaltens ein für allemal ausgebildet worden, das müßte in einer historischen Anthropologie ausführlich, an vielen Stellen und immer wieder zur Sprache kommen, geschieht aber nicht. Der Name Konrad Lorenz kommt nur ein einziges Mal vor (S. 64)), und auch dort nur in äußerst abschätzigem Sinne. Der Name Tinbergen erscheint überhaupt nicht. Die Evolutionsgeschichte ist die Geschichte der Natur und des Menschen. Wie kommt es, daß dieser Aspekt so vernachlässigt werden konnte? Gibt es noch immer die unselige (und meines Erachtens unnötige) Trennung zwischen den zwei Kulturen? Hier wurde im Handbuch meines Erachtens eine Chance versäumt, nämlich am Leitfaden des Evolutionsbegriffs natur- und geisteswissenschaftliche Sicht aufeinander zu beziehen. [V84:19] Noch ein Wort aber zu dem, was mir eher gelungen erscheint. Geradezu vorbildlich umfassend und zugleich knapp, klar im Stil und lebendig ist der Artikel von Hartmut Böhme über Gefühl. Hier kommt, wie Du ganz richtig sagst, etwas zur Sprache, was in der philosophischen Anthropologie bisher keinen rechten Ort hatte und für das ich oben unter dem Stichwort Seele eine Vermißtenanzeige erstattet habe. Wir tun uns heute so schwer, wissenschaftlich über Seele, Religion, Liebe und eben Gefühl zu reden. Böhme wagt es, und es gelingt! Im Gegensatz dazu bleibt der Artikel Liebe sehr an der Oberfläche und stellt eher eine dürre Aufzählung dar. Dieser Artikel endet mit dem leichtfertig pessimistischen Satz:
Zerbrechlicher war Liebe nie, fast schon unmöglich
(S. 853)
. [V84:20] Warum zieht sich dieser pessimistische Skeptizismus, diese Angst, sich einzulassen, wie ein roter Faden durch unser heutiges Denken und auch durch Teile dieses Buches? Ist |a 125|das ein Relikt der 68er-Kälte? Ist uns das Denken und das Gefühl keines leidenschaftlichen Engagements mehr wert? Freilich ist Skepsis die einzige mögliche Grundhaltung des Philosophierens, wie das Odo Marquard immer wieder gesagt hat. Aber das kann doch nicht heißen, daß man sich resignativ aus jedem Engagement zurückzieht! Oder wie Hartmut Böhme am Ende seines schönen Artikels sagt:
Die Gesellschaft wäre souveräner und reicher, gehörte das Sich-Überlassen-Können zu den kulturellen Fähigkeiten ihrer Mitglieder
(S. 544)
.
[V84:21] K. M.: Dir klingt manches, was in dem Handbuch zur Darstellung kommt, zu resignativ, wie Du sagst. Ich möchte aber gern unterscheiden zwischen der Stimmung, die im Darstellungsstil zum Ausdruck kommt, und dem Objektfeld, das dargestellt werden soll. Auch in der Einstellung dieser oder jener Gestimmtheit kann ja dennoch Treffendes über die Gegenwart gesagt werden. Bei Nietzsche findet man ja Ähnliches; auch die Behauptungen Mitscherlichs über die
Unwirtlichkeit
der Städte oder der Blick, den R. Sennett auf die moderne Großstadt wirft (in
Fleisch und Stein
), enthalten Gefühle der Bedrückung. Ich möchte so etwas akzeptieren. Nicht akzeptieren aber kann ich, und das meinst Du wohl, wenn solche Gestimmtheiten zu zeitdiagnostischen Aussagen führen, die angesichts der verfügbaren empirischen Befunde nicht zureichend gestützt werden können, und das, was in strengerem Sinne
Hypothese
heißt, nun zu allerlei Vermutungen verführt, die gebotene Sachlichkeit also hinter der je subjektiv-individuell gestimmten Sichtweise verblaßt. Aber selbst dafür ließe sich noch eine ganz entfernte Rechtfertigung finden: Da wir ja allemal Beteiligte sind am kulturellen Geschehen und seiner anthropologischen Implikationen, gehören solche Gestimmtheiten zum darzustellenden anthropologischen Problem, mindestens aber zu seiner Entdeckung. Ich vermute, daß eine solche Meinung der Naturwissenschaft ziemlich fern liegt.
[V84:22] F. C.: Ich räume ein, daß in den Geisteswissenschaften das, was wir
Gestimmtheiten
nennen können oder was andernorts gelegentlich als
Lebensgefühl
beschrieben wird, eine wesentlich wichtigere Rolle spielt als in den Naturwissenschaften. In den Geisteswissenschaften wird nicht nur die Motivation zur wissenschaftlichen Arbeit, die Aufmerksamkeit für diese Phänomene auf Kosten jener, durch solche Gestimmtheiten erzeugt, sondern auch der Fortgang der Arbeit und deren Resultate mitbestimmt. Das zeigt sich beispielsweise ziemlich deutlich an der romantischen Naturphilosophie. Dagegen ist in den Naturwissenschaften das Ideal die Objektivität. Daß diese auch in den Naturwissenschaften gegenwärtig nicht immer durchgehalten wird oder vielleicht auch gar nicht durchgehalten werden kann, daß es immer wieder Ausbruchsversuche aus dem Objektivitätspostulat gibt, entwertet jedoch nicht das Postulat. Solche Ausbruchsversuche sehe ich beispielsweise in manchen Beiträgen zur modernen Quantentheorie. Ich glaube aber, daß gegenwärtig die vernünftige Tendenz besteht, Natur- und Geisteswissenschaften einander zu nähern, daß das ohne Preisgabe des Objektivitätspostulats möglich ist und daß also der Graben zwischen den zwei Kulturen schmaler werden kann. Das Handbuch leistet hierzu in vielen Artikeln einen sehr bedenkenswerten Beitrag.