. Die vermutlich für Mollenhauer aktuellste ist die 3. Auflage aus den Jahren
1957-1962. [Lisa-Katharina Heyhusen]
Editorial Note
Vgl. Lorenz,
1963 [Lisa-Katharina Heyhusen]
Editorial Note
Kamper, 1997, S. 408 [Lisa-Katharina Heyhusen]
Editorial Note
Kamper, 1997, S. 411 [Lisa-Katharina Heyhusen]
Editorial Note
Im Personenregister taucht der Name Lorenz tatsächlich nur
einmal auf, er wird jedoch auch in Macho 1997,
S.
942 genannt und taucht im
Literaturverzeichnis von Görlich 1997, S. 883 auf. [Lisa-Katharina Heyhusen]
Über Christoph Wulf (Hrsg.): Vom
Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel: Beltz 1997.
1160 S. Preis: 98,00 DM
[V84:1] Was ist
„Historische Anthropologie“
? Ein
kürzlich publiziertes Handbuch
versucht, Auskunft zu geben. Der Anspruch ist ziemlich hoch angesetzt; die
Beteiligten versprechen, nach ihrem Renommee, ein beeindruckendes Niveau;
die Gliederung des Werks (Kosmologie, Welt und Dinge, Genealogie und
Geschlecht, Körper, Medien und Bildung, Zufall und Geschick, Kultur) erweckt
Neugier. Schließlich ist es die erste Veröffentlichung ihrer Art; sie will
Standards vorgeben; an solchen sollte man sie messen. Die 1160 Seiten
enthalten drei ziemlich verschiedene Text- bzw. Argumentationssorten: eher
der naturwissenschaftlichen Argumentation verpflichtete Texte, denen die
Historizität ihrer Problemstellung weniger wichtig ist (z.B. Gehirn, S.
425ff.); ferner Texte, die nichts im Sinn haben außer der
Erläuterung eines Begriffs, für den freilich anthropologische Relevanz
beansprucht wird (z.B. Generation, S. 295ff.), ohne indessen irgend auf
Historisches Bezug zu nehmen; schließlich solche Argumentationen, die ein
anthropologisches Problem in seinem geschichtlichen Verlauf zu dokumentieren
suchen und damit dem Titel des Handbuches am nächsten liegen, seinen
Anspruch am ehesten einlösen (z.B. Gefühl, S. 525ff.).
[V84:2] Die meisten Artikel suchen in dieser Problemkonstellation einen
Mittelweg. Der aber läuft häufig auf eine Verkürzung der historischen Tiefe
hinaus. Es ist dann, gelegentlich, nur von der europäischen Neuzeit die
Rede, so als beziehe sich das Adjektiv
„historisch“
nur
auf diejenigen Epochen, die über das (angeblich) verfügen, was spätestens
seit Dilthey
„historisches Bewußtsein“
genannt wird. Naturgemäß
überwiegen dabei sprachliche Dokumente, und unter diesen vor allem solche,
deren differentielles Vokabular in der europäischen Neuzeit leichter
auszumachen ist als an anderen Orten und zu anderen Zeiten (z.B. Gesellschaft,
Institution, Familie, Schule, Utopie, Wissen). Es
wäre wohl auch zuviel verlangt, wollte man erwarten, daß sich hier auch das
findet, was etwa im
„Pauly“
oder in
„RGG“
steht. Es geht dem Herausgeber und den
Autorinnen und Autoren um die Erprobung einer Sichtweise, in der an
historischen Befunden die aus unserer Gegenwart stammenden kategorialen
Ordnungen gebrochen werden und mithin gerade das Vorläufige jeder
anthropologischen Behauptung zum Vorschein gebracht wird. Das Vorhaben einer
historischen Anthropologie wird deshalb in solchen Beiträgen am genauesten
getroffen, in denen nicht nur von je zeitgenössischen Kommentaren die Rede
ist, sondern auch, mit historiographisch weiten Rückgriffen, das
Kommentierte, die nicht-sprachlichen Do|a 120|kumente von
Lebensformen, in die Argumentationen einbezogen werden (z.B. Straße, Stadt, Haus, Kleidung, Sitzen, Geld, Musik).
[V84:3] Der (vorläufig)
„fraktale Charakter historisch-anthropologischen
Wissens“
(S. 14)
wird so zwar offensichtlich, gibt aber ein starkes Motiv her, das
Projekt weiter zu betreiben. Viele Beiträge lesen sich als Skizze eines
Forschungsprogramms, für das viele Jahre zu veranschlagen wären. Das
betrifft nicht nur die historiographischen Recherchen und Beschreibungen,
sondern auch das Verhältnis zwischen Begriff und Beobachtung: Je mehr das
anthropologische Vokabular Kontinuitäten unterstellt oder herausarbeitet, um
so eher mündet das Vorhaben doch wieder in eine
„Anthropologie von dem Menschen“
, in eine
verbesserte, erweiterte Form
„philosophischer Anthropologie“
(S. 13)
.
[V84:4] K. M.:
„Vom Menschen“
also ist in dem
angezeigten Handbuch die Rede,
und zwar in der Form
„historischer Anthropologie“
.
Nun ist mir zwar im Ohr das Diktum Diltheys, daß
der Mensch
„nur“
aus der Geschichte wissen könne, wer
er sei. Etwas davon aber bleibt mir unaufgeklärt; und das betrifft jenes
„nur“
. Das zitierte Handbuch laboriert an dieser
Schwierigkeit, wenn ich recht gelesen habe. Einige Autorinnen und
Autoren unterstellen gattungsspezifische Sachverhalte, ohne
historiographische Relativierungen; andere mögen nur über die
Besonderheiten des historischen Verlaufs schreiben; Dritte schließlich
erläutern nur den aktuellen Gebrauch von Begriffen oder Vokabeln. Ist
das nicht für den Naturwissenschaftler, der Du bist, ziemlich
irritierend? Im
Vorwort jenes Handbuchs
wird behauptet:
„Nicht länger ist es möglich, von dem Menschen zu sprechen“
. Viele Artikel tun es dennoch. Bin ich naiv, oder liegt da ein
Problem?
[V84:5] F. C.:Wie soll der Mensch wissen, wer er
sei, wenn er nicht selber einen Anfang
setzt, sich den Dekalog vom Berge Sinai holt, sich ans Kreuz nageln
läßt, das cogito ergo sum hinschreibt.
Andererseits ist unsere Zeit für solche mutigen, individuellen
Setzungen, von denen ich gerade nur drei genannt habe, denkbar
ungeeignet, seit der Evolutionsgedanke alles, aber
auch alles erfaßt hat. Damit ist nicht nur die biologische
Seite des Anthropos in die historischen Wissenschaften eingegliedert
worden, sondern auch seine verhaltensmäßige, ethische und moralische
Seite. Mit Recht kann daher Konrad Lorenz seinem Buch über
Aggression nunmehr den Untertitel geben: Über das sogenannte Böse. Sind moralisch-ethische Kategorien damit aus
der Anthropologie hinausbugsiert? In der Tat sehe ich in dem Handbuch keinen einzigen Beitrag
aus diesem Bereich, der doch der Menschheit neben Nicht-Verhungern und
Fortpflanzung mindestens seit der Eiszeit der wichtigste war. Zu den
beiden letzteren Bereichen finde ich zahlreiche Artikel. Auch dem homo faber sind mehrere Abschnitte gewidmet,
aber der homo religiosus geht
gänzlich leer aus. Ich zitiere aus
J. Mittelstrass (Enzyklopädie Philosophie und
Wissenschaftstheorie Bd. 1, S. 128)
:
„... Der damit erzeugte
Auseinanderfall nicht nur von Anthropologie und Ethik,
sondern auch von Identitätsinterpretation und
Normenbegründung (bzw. -kritik) hat der Anthropologie den
Vorwurf eingetragen, einen Rückzug in sozial und politisch
weitgehend unverbindliche Überlegungen zum unmittelbaren
Persönlichkeitsbereich und dessen Problemen angetreten zu
haben, und die Ethik in den Verdacht einer bloß
strategischen Theorie zur Normenplanung gebracht. So lassen
sich Versuche verstehen, die Anthropologie wieder mit einer
normativen Ethik zu verbinden bzw.
Identitätsinterpretationen für die Normenbegründung und
-interpretation zu verwenden. In diesem Sinne erhalten etwa
Versuche ihre Bedeutung, aus den identitätsrepräsentierenden
Redestrukturen ethische Prinzipien herauszulesen (K. O. Apel,
J.
Habermas). In einer auch die beiden Disziplinen
Anthropologie und Ethik wiedervereinenden Absicht ist auch
der |a 121|Versuch Kamlahs
unternommen, eine philosophische Anthropologie auch als
Ethik zu konzipieren“
.
[V84:6] Um auf Deine Frage einzugehen:
Man muß auch weiterhin von dem Menschen reden, trotz unserer
Individualisierung und kulturellen und evolutiven Aufspaltung, denn
Anthropologie will eine Wissenschaft sein, und Wissenschaft muß das
Allgemeine und Verbindende herausarbeiten. Dennoch ist die Heterogenität
der Artikel dieses Bandes
offensichtlich. Vielleicht hätten Herausgeber und Redakteur hier eine
etwas härtere Hand haben sollen?
[V84:7] K. M.:Daß die Artikel des Handbuchs ziemlich heterogen sind, ist vielleicht nicht
unbedingt ein Mangel; es handelt sich ja, wenn ich recht sehe, um einen
ersten Versuch, den Stand des Wissens zu einer historischen (!)
Anthropologie zusammenzutragen. Die Verschiedenartigkeit der Beiträge
bringen dem kritischen Leser sogar einen Gewinn ein: Man entdeckt, daß
das Projekt sich noch am Anfang befindet; es bleibt noch unbestimmt, wie
das
„Allgemeine“
, das Du einforderst, sich zum
historisch Besonderen verhält. Es gibt mehrere Beiträge, die ihr
Stichwort gleichsam in universalistischer Einstellung bearbeiten, z.B.
Körper, Raum, Institution, Generation,
Mimesis, Seele usw.; dort wird je ein
Sachverhalt als anthropologisch universell unterstellt. Dabei gerät der
Sachverhalt einer besonderen, historisch-kulturellen Formation
gelegentlich aus dem Blick, so etwa, wenn vom Verschwinden der
„Seele“
die Rede ist, so als sei sie eine universell
zu unterstellende Entität, die man nur mal mehr, mal weniger zu Gesicht
bekommt. Es entstehen dann eigenartige Paradoxien: Zwar wird behauptet,
daß die Seele
„verschwunden“
sei, dennoch aber werde ihr etwas
„eingeschrieben“
(S. 973)
. Wie das? Mir scheint, hier wird durchaus von dem Menschen geredet. [V84:8] Wie vertrackt aber die Problemstellung ist, führt der Beitrag Carsten Colpes
über Religion vor (der homo religiosus fehlt also nicht gänzlich),
übrigens der einzige Beitrag, in dem die wissenschaftstheoretischen
Komplikationen knapp und genau benannt werden, mit denen die
„Historische Anthropologie“
zu tun haben muß: Mit
welcher Zuverlässigkeit lassen sich (beispielsweise) Funde aus der
Steinzeit als Indikatoren nehmen für das, was wir
„Religion“
nennen? Überspitzt gefragt: Gab es damals überhaupt
den
„homo religiosus“
? Die Sachlage ist hier offenbar anders als im Falle des
„Gehirns“
oder der (naturwissenschaftlich
beschriebenen)
„Evolution“
.
[V84:9] F. C.:In der Tat ist der Beitrag Religion nicht nur
irgendeiner der vielen Artikel, sondern eine genaue Standortbestimmung
und eine Definition von dem, was Historische Anthropologie sein könnte.
Das im Vorwort vom Herausgeber
dazu Gesagte bleibt da etwas schwammig, und die dort vorgestellte
Gliederung erscheint mir nicht zwingend. Allerdings bleibt die Frage, ob
ein so immenser und heterogener Stoff in einem Handbuch, das nicht
gerade ein Konversationslexikon sein will, überhaupt gegliedert werden
kann. Begriffe wie z.B. Zeit, Nahrung, Sitzen,
Seele, Schweigen unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zu
betrachten, ist ein schwieriges Unterfangen, und das ist wohl das Problem der Historischen Anthropologie. Ist
sie überhaupt ein wissenschaftliches Fach? Ich lese viele interessante,
geistvolle, manchmal auch manieristisch übersteigerte oder stilistisch
aufgeblasene Essays, aber ein wissenschaftliches Handbuch, denke ich,
ist das nicht. Das heißt nicht, daß ich nicht das meiste mit großem
Gewinn lese und mir unter den meisten Stichworten kompetentesten Rat
holen kann. [V84:10] Aber noch einmal
zurück zum Artikel Carsten Colpes und dem von mir angemahnten
homo religiosus. Hier spricht Colpe über die Erweiterung der historischen
Anthropologie |a 122|um das verkleinerte
Religionsthema. Das ist nun allerdings arg verkleinert. Auch die Zehn
Gebote oder die aztekischen Menschenopfer mit den mit Obsidianmessern
herausgeschnittenen Herzen oder die Zen-Praktiken sind Religion.
Demgegenüber ist die Frage, wie die Höhlenmalereien von Altamira zu
interpretieren sind, untergeordnet. Den wichtigsten Beitrag zur
historischen Anthropologie in der Moderne hat m.E. C. G. Jung geleistet, der im Buch nur ein einziges Mal in ganz
anderem Zusammenhänge erwähnt wird (S. 262). Ein nicht unbeträchtlicher Teil
der Titel des Buches sind von
C. G. Jung nicht nur behandelt, sondern auch übergreifend
zusammengefaßt worden, ich denke etwa an Elemente, Sexualität, Familie, Generation, Körper (der entsprechende
Artikel S. 407 – 416 ist ein Musterbeispiel für die oben erwähnte
stilistische Aufgeblasenheit), Seele, Religion, Ritual,
Mythos. Warum wird C. G. Jung so
ausgespart? [V84:11] In diesem
Zusammenhang ein Wort zum Artikel Seele. Der Artikel beginnt
mit dem Satz:
„Aus den Wissenschaften ist der Begriff
‚Seele‘
verschwunden“
. Das stimmt wohl. Also müßte dieses Stichwort aus diesem
wissenschaftlichen Handbuch
verschwinden. Aber so einfach ist die Sache eben nicht. Die Wissenschaft
hat die ursprüngliche Seele in zwei Teile aufgespalten: die Psyche, die
in der Psychologie und Psychiatrie wissenschaftlich behandelbar ist, und
die eigentliche Seele, die nur noch in der Religion (s. o.), allenfalls
in der Liebe oder Poesie als ein nicht mehr in unsere wissenschaftliche
Zeit passendes Fossil vorkommt. Aber auch für die Liebe sieht das Handbuch kaum Zukunft, wenn es
unter Liebe 2000 auf
S. 353
heißt:
„Zerbrechlicher war Liebe nie, fast schon
unmöglich“
. Diesem Gefühls-, Religions-, Liebes-Pessimismus kann ich mich
nicht anschließen. Ich halte ihn für eine vorübergehende
Modeerscheinung.
[V84:12] K. M.:Du hast gerade den Ausdruck
„eigentliche
Seele“
verwendet. Etwas Ähnliches scheint auch in dem zitierten
Handbuchartikel unterstellt
zu werden. Ebenso folgt Dein Hinweis darauf, daß Colpe das Religionsthema
„verkleinert“
habe, der gleichen Vorstellung, wenn ich recht
sehe. Damit habe ich Schwierigkeiten. Das Handbuch enthält, neben anderen,
zwei verschiedene Kategorien von Stichworten, die sich prima vista gut
unterscheiden lassen: solche, die (auch) durch empirische Beobachtung
zugängliche Sachverhalte bezeichnen (Auge, Ohr, Hand, Gehirn,
Gen,
Sitzen, Stadt, Straße, Kleidung,
Geburt usw.) und andererseits solche, die in dieser
Weise unzugänglich sind, weil es sich um Interpretationskonstrukte
handelt (etwa Gesellschaft, Identität, Glück,
Schönheit, Religion, Fremde,
Maschine, Seele usw.). Im Hinblick
auf diese, so scheint mir, kann man nicht in demselben Sinne sagen, daß
es sie gebe, wie im Hinblick auf jene, vor allem nicht, wie Du es tust,
von der
„eigentlichen“
Seele oder Religion. Es ist ja
gerade eine der Grundannahmen der historischen Anthropologie, daß nicht
nur ein identischer Bestand von universellen Themen durch die Geschichte
hindurch variiert wird, sondern daß Themen, und damit auch ihre
Gegenstände, auftauchen und verschwinden können. [V84:13] Deinen Argwohn, es könne sich bei dem Projekt
einer historischen Anthropologie um etwas handeln, was dem Kreis
wissenschaftlicher Tätigkeiten oder Fächer vielleicht gar nicht
zugehört, teile ich deshalb nicht. Nicht das Thema, sondern die Methode
unterscheidet, nach meinem Dafürhalten, die Wissenschaft von der
Alltagsmeinung. Ob das Thema universelle Probleme aufwirft oder solche,
die nur für eine historisch begrenzte kulturelle Formation gelten, ist
dann nebensächlich. Wichtig ist allein, ob Autorin oder Autor mit den
historischen Quellen methodisch gründlich und zuverlässig verfahren.
Dies allerdings geschieht in dem hier diskutierten Handbuch auf durchaus
unterschiedlichen Niveaus. (Merkwürdig ist, daß die außerordentlich
materialreiche und inzwischen im 5. |a 123|Jahrgang
erschienene Zeitschrift
„Historische Anthropologie“
keinerlei Erwähnung
findet.) Man sieht, daß es gelungene und weniger gelungene Zugänge zur
historischen Anthropologie als
„Wissenschaft“
gibt;
das aber stellt noch nicht die Wissenschaftlichkeit des ganzen
Unternehmens in Frage.
[V84:14] F. C.:Ein weniger gelungenes Kapitel im Sinne der eben von Dir
angesprochenen
„Wissenschaftlichkeit“
scheint mir das
Kapitel Körper zu sein (S. 407ff.). Obwohl es einen wichtigen
Abschnitt einleitet, in dem anschließend die einzelnen Körperfunktionen
besprochen werden, bietet es keine Einsichten in den gegenwärtigen Stand
der anthropologischen Diskussionen über Körper und Körperlichkeit,
sondern im Gegenteil, es erweckt den Eindruck einer pessimistischen,
heute unzeitgemäßen Körperfeindlichkeit, wenn es z.B. heißt
(S. 407)
:
„Am Körper und seinen Sinnen kann eine
spezifische Leidensgeschichte nachgelesen werden, die eine der
Folien der Geschichte des europäischen Nihilismus abgibt, also
jener geistigen Grundrichtung, die beim kleingeschriebenen
‚nichts‘
endet.“
Der Diskussion über den Körper sollte man kein Hegel-Zitat voranstellen, schon gar nicht ein so
verquastes:
„Der Geist ist die
existierende Wahrheit der Materie, daß die Materie selbst
keine Wahrheit hat.“
Natürlich hat die Materie Wahrheit, das geht schon allein aus der
Tatsache hervor, daß sie sich zum Körper, zum lebendigen, denkenden
Körper organisiert, daß sie das schöpferisch evolutive Phänomen der
Selbstorganisation zeigt. Es ist unglücklich und verwirrend, dem obigen
Hegel-Zitat das wahrhaftig dunkle (wenn auch
schöne) Hölderlin-Wort entgegenzusetzen:
„Ein Zeichen sind
wir//Schmerzlos sind wir und haben fast/Die Sprache in der
Fremde verloren“
(S. 413)
. Freilich sind die Zeichen des Menschlichen, die Höhlenmalereien,
mythologische Runen, Zahlenmystik und Kinderbilder Zeichen des Menschlichen, aber ich kenne bisher nur einen
einzigen halbwegs wissenschaftlichen Versuch, solche
Zeichen des Menschlichen historisch-anthropologisch zu deuten,
das ist die Deutung der Archetypen in der Psychologie von C. G. Jung. Zwar wird der Aspekt der Evolution kurz
gestreift (S. 407), aber wiederum
nur in dem nun schon bekannten pessimistisch-destruktiven Sinne, der
schließlich den menschlichen Körper als Fehlkonstruktion, Störenfried
und
„Müllproblem“
apostrophiert. [V84:15] So wenig befriedigend der
Einführungsartikel zum Thema Körper ist, ja ich möchte ihn geradezu als
unwissenschaftlich bezeichnen, so befriedigend und genau sind
andererseits einige der folgenden Kapitel unter dem Oberthema Körper.
Ich denke dabei z.B. an die Abhandlung von Hajo Eickhoff,
Sitzen: das ist eine knappe,
informative, äußerst lesbare Kulturgeschichte des Sitzens.
[V84:16] K. M.:Ich möchte etwas zur Verteidigung des Artikels Körper
sagen (trotz der höchst plausiblen zeitdiagnostischen Hypothesen). Es
wird dort ja ein methodischer Vorschlag gemacht, nämlich beim
Theoretisieren über den Körper die
„Einbildungskraft“
in den Dienst einer
„exakten Phantasie“
(Goethe) zu stellen. Das ist, wie mir scheint, ein
phänomenologisches Programm. Allerdings verwischt der Appell, dabei
„so unmethodisch wie möglich zu
verfahren“
(S. 413)
, wieder den Gewinn, der aus
„exakter Phantasie“
zu ziehen wäre, und läßt die
Argumentation im Ungefähren. Goethes naturwissenschaftliche
Schriften enthalten hingegen geradezu Musterbeispiele für methodische
Strenge. [V84:17] Gelungen scheinen
indessen auch mir solche Artikel zu sein, die historiographisch
zuverlässig vorgehen und anthropologische Sachverhalte in möglichst
großer Genauigkeit und empirisch gehaltvoll beschreiben. Beispiele dafür
sind Gefühl, Stadt, Straße, Haus,
aber auch die Behandlung einer scheinbaren Trivialität wie Sitzen,
ein Artikel, der auch |a 124|Dich, wie Du sagst,
befriedigt. Hier wird – freilich nur in groben Zügen – etwas zum Thema
gemacht, was nun wirklich in der philosophischen Anthropologie
„des“
Menschen bisher keinen rechten Ort hatte; das
kommt zudem so zur Darstellung, daß der Leser am Leitfaden historischer
Befunde sowohl mit deren anthropologischer Relevanz bekannt gemacht als
auch (methodisch) instand gesetzt wird, die vorgetragenen Behauptungen
am Material der Geschichte zu prüfen. Man wird über Sachverhalte
informiert und nicht nur über riskante Hypothesen der Verfasser. Unter
diesen wagt sich am weitesten vor die Vermutung, wir befänden uns
„in einer historischen Situation
des Wechsels der Grundorientierung vom
‚animal
rationale‘
zum
‚deus qua
machina‘
“
(Artikel Mensch)
– übrigens wird der darin enthaltene dramatisch-pessimistische
Ton im Artikel Maschine nüchtern korrigiert. Bei derartigen
Problemen fragt man sich, wie in einer
„Historischen
Anthropologie“
eigentlich das Verhältnis sprachlicher
Selbstdeutungen des Menschen zu den
„Realien“
seiner
Lebensweisen und -formen gedacht und untersucht werden soll. Auf der
Grenze zwischen beiden nun liegt, wenn ich recht sehe, auch das Konzept
der Evolution. Dies aber wird im Handbuch nirgends erörtert, mit
Ausnahme Deines eigenen Beitrages
(S.
49f.). Ist das nicht ein Versäumnis, und zwar
deshalb, weil der Begriff Evolution von beiden, von den Natur- und den
Geisteswissenschaften, in Anspruch genommen wird? Und weiter: Läßt sich
eine Vermutung wie die vom drohenden Ende des
„animal rationale“
oder eine
andere, etwa von der
„historisch entstandenen (und zu korrigierenden) Dummheit des
Körpers“
(S. 410)
, mit Hilfe des Evolutionskonstruktes genauer
diskutieren?
[V84:18] F. C.:Ich greife das gerne auf. Durch die Vorstellung von der
Natur als dem Resultat eines evolutionären Prozesses hat sich seit dem
19. Jahrhundert das Bild unserer Welt vollständig verändert. Natur ist
nicht mehr statisch, sondern sie ist dynamisch, evolutiv und kreativ.
Und natürlich ist der Mensch das Produkt dieser Evolution. In dieser
Evolution sind nicht nur sein Körperbau, sein Zentralnervensystem,
sondern auch große Teile seines Verhaltens ein für allemal ausgebildet
worden, das müßte in einer historischen Anthropologie ausführlich, an
vielen Stellen und immer wieder zur Sprache kommen, geschieht aber
nicht. Der Name Konrad Lorenz kommt nur ein einziges Mal
vor (S. 64)),
und auch dort nur in äußerst abschätzigem Sinne. Der Name Tinbergen erscheint überhaupt nicht. Die
Evolutionsgeschichte ist die Geschichte der
Natur und des Menschen. Wie kommt es, daß dieser Aspekt so
vernachlässigt werden konnte? Gibt es noch immer die unselige (und
meines Erachtens unnötige) Trennung zwischen den zwei
Kulturen? Hier wurde im Handbuch meines Erachtens eine Chance versäumt, nämlich am
Leitfaden des Evolutionsbegriffs natur- und geisteswissenschaftliche
Sicht aufeinander zu beziehen. [V84:19] Noch ein Wort aber zu dem, was mir eher gelungen erscheint. Geradezu
vorbildlich umfassend und zugleich knapp, klar im Stil und lebendig ist
der Artikel von Hartmut Böhme über Gefühl. Hier kommt, wie Du ganz richtig sagst, etwas zur
Sprache, was in der philosophischen Anthropologie bisher keinen rechten
Ort hatte und für das ich oben unter dem Stichwort Seele eine
Vermißtenanzeige erstattet habe. Wir tun uns heute so schwer, wissenschaftlich über Seele, Religion, Liebe und
eben Gefühl zu reden. Böhme wagt es, und es gelingt! Im
Gegensatz dazu bleibt der Artikel Liebe sehr an der Oberfläche und
stellt eher eine dürre Aufzählung dar. Dieser Artikel endet mit dem
leichtfertig pessimistischen Satz:
„Zerbrechlicher war Liebe nie, fast schon
unmöglich“
(S. 853)
. [V84:20] Warum zieht sich dieser
pessimistische Skeptizismus, diese Angst, sich einzulassen, wie ein
roter Faden durch unser heutiges Denken und auch durch Teile dieses
Buches? Ist |a 125|das ein Relikt der 68er-Kälte? Ist uns das Denken und das
Gefühl keines leidenschaftlichen Engagements mehr wert? Freilich ist
Skepsis die einzige mögliche Grundhaltung des Philosophierens, wie das
Odo Marquard immer wieder gesagt hat. Aber das kann
doch nicht heißen, daß man sich resignativ aus jedem Engagement
zurückzieht! Oder wie Hartmut
Böhme am Ende seines schönen
Artikels sagt:
„Die Gesellschaft wäre souveräner und reicher,
gehörte das Sich-Überlassen-Können zu den kulturellen
Fähigkeiten ihrer Mitglieder“
(S. 544)
.
[V84:21] K. M.:Dir klingt manches, was in dem Handbuch zur Darstellung kommt, zu
resignativ, wie Du sagst. Ich möchte aber gern unterscheiden zwischen
der Stimmung, die im Darstellungsstil zum Ausdruck kommt, und dem
Objektfeld, das dargestellt werden soll. Auch in der Einstellung dieser
oder jener Gestimmtheit kann ja dennoch Treffendes über die Gegenwart
gesagt werden. Bei Nietzsche findet man ja Ähnliches;
auch die Behauptungen Mitscherlichs über die
„Unwirtlichkeit“
der Städte oder der Blick,
den R. Sennett auf die moderne Großstadt wirft (in
„Fleisch und Stein“
), enthalten Gefühle der
Bedrückung. Ich möchte so etwas akzeptieren. Nicht akzeptieren aber kann
ich, und das meinst Du wohl, wenn solche Gestimmtheiten zu
zeitdiagnostischen Aussagen führen, die angesichts der verfügbaren
empirischen Befunde nicht zureichend gestützt werden können, und das,
was in strengerem Sinne
„Hypothese“
heißt, nun zu
allerlei Vermutungen verführt, die gebotene Sachlichkeit also hinter der
je subjektiv-individuell gestimmten Sichtweise verblaßt. Aber selbst
dafür ließe sich noch eine ganz entfernte Rechtfertigung finden: Da wir
ja allemal Beteiligte sind am kulturellen Geschehen und seiner
anthropologischen Implikationen, gehören solche Gestimmtheiten zum
darzustellenden anthropologischen Problem, mindestens aber zu seiner
Entdeckung. Ich vermute, daß eine solche Meinung der Naturwissenschaft
ziemlich fern liegt.
[V84:22] F. C.:Ich räume ein, daß in den Geisteswissenschaften das, was wir
„Gestimmtheiten“
nennen können oder was
andernorts gelegentlich als
„Lebensgefühl“
beschrieben wird, eine wesentlich wichtigere Rolle spielt als in den
Naturwissenschaften. In den Geisteswissenschaften wird nicht nur die
Motivation zur wissenschaftlichen Arbeit, die Aufmerksamkeit für diese Phänomene auf Kosten jener, durch solche Gestimmtheiten erzeugt, sondern auch der
Fortgang der Arbeit und deren Resultate mitbestimmt. Das zeigt sich
beispielsweise ziemlich deutlich an der romantischen Naturphilosophie.
Dagegen ist in den Naturwissenschaften das Ideal die Objektivität. Daß diese auch in den Naturwissenschaften
gegenwärtig nicht immer durchgehalten wird oder vielleicht auch gar
nicht durchgehalten werden kann, daß es immer wieder Ausbruchsversuche
aus dem Objektivitätspostulat gibt, entwertet jedoch nicht das Postulat.
Solche Ausbruchsversuche sehe ich beispielsweise in manchen Beiträgen
zur modernen Quantentheorie. Ich glaube aber, daß gegenwärtig die
vernünftige Tendenz besteht, Natur- und Geisteswissenschaften einander
zu nähern, daß das ohne Preisgabe des Objektivitätspostulats möglich ist
und daß also der Graben zwischen den zwei
Kulturen schmaler werden kann. Das Handbuch leistet hierzu in vielen
Artikeln einen sehr bedenkenswerten Beitrag.