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Dialogische Reflexionen I
[V87:1] Mollenhauer:
Ich weiß nicht, ob es günstig ist, jetzt Fragen,
die Roland Merten am Schluß
seines Beitrags angesprochen hat,
nochmal aufzugreifen. Ich möchte es versuchen im Sinne einer Beschreibung
eigener Vorlieben und dabei ganz vorsichtig sein. [V87:2] Das Wort Theorie taucht dauernd auf, bei Merten besonders häufig. Aber
mir entgleitet, was dieses Wort bedeutet. Also: Theorie scheint irgendeine
Form der verstehbaren Form der Rede zu sein. Alles das, was sozusagen
nachvollziehbar ist durch andere, das ist es auf dem einen Extrem.
[V87:3] Ich bekenne, daß ich einen sehr
asketischen Begriff von Theorie mir selber zurechtgelegt habe und mit dem
auch zu operieren versuche. Dieser asketische Begriff von Theorie führt z.
B. dazu, die alte Theorie-Praxis-Behauptung für Unfug zu erklären. Das ist
zwar von Erich Weniger
entwickelt, ein dankbar akzeptiertes, auch von mir in meinem Studium in
Proseminaren 1948/49 akzeptiertes Angebot gewesen, aber es ist die
Beschreibung von verschiedenen Stufen des Denkens. Und es ist nicht die
Beschreibung eines Sachverhaltes, aus dem etwa hervorginge, daß Theorie und
Praxis zusammengebunden werden müssen. So eine Formulierung hat Roland Merten vorhin verwendet.
Also versuche ich zu unterscheiden zwischen verschiedenen Vokabularien.
[V87:4] Es gibt ein Vokabular, in dem die
Praxis sich selber beschreibt. Soweit ich daran nicht beteiligt bin, habe
ich da nichts zu suchen. Das kann ich höchstens beobachten. [V87:5] Es gibt zweitens ein Vokabular, in dem man
versucht, Theorien in dem asketischen Sinne zu formulieren, und das sind
solche Satzzusammenhänge, aus denen Hypothesen generierbar sind, die
revidierbar sind durch die Prüfung von Hypothesen, ihre Qualifikation usw.
Das ist eine sehr strenge Form der Rede, aber gerade die strenge Form der
theoretischen Rede eröffnet Forschungsspielräume und läßt Forschung
sozusagen auf kontrollierte Weise ablaufen. [V87:6] Und dann gibt es sozusagen ein drittes Vokabular, und
das bevorzugt Hans Thiersch,
indem Praxis und Theorie irgendeine Ehe eingehen oder irgendwie symbiotisch
sind. Der Ausdruck Lebenswelt ist dafür charakteristisch. Das ist ein
symbiotischer Begriff, der versucht, Erinnerungen an asketische Theorie zu
verknüpfen mit Erwartungen im Bereich des Praxisfeldes. [V87:7] Wenn man sich immer vor Augen hält, auf welcher Ebene,
auf welcher Vokabularebene man sich bewegt, entfällt sehr viel von dem
Streit. Es ist dann z. B. völlig uninteressant, ob man über das gesamte Feld
der Sozialarbeit oder Sozialpädagogik redet, man kann gut sagen, unter
praktischen Bedürfnissen ein praktisches Vokabular sich denken, das
sozusagen handhabbare Zusammenfassungen, Vereinheitlichungen, Beschreibungen
und auch Trennungen macht.|a 69|[V87:3] Für eine an Forschung interessierte Theorie empfiehlt
sich dieser Weg nicht. Aber selbst da wäre es mir gleichgültig, wenn
irgendein Dritter das, was ich tue, als pädagogisch oder irgendwie anders
auffaßt, da kommt es darauf an, ob das, was ich als Theorie formuliere,
hinreichend präzise ist, um tatsächlich Hypothesen und nicht Praxishilfe,
theoretische Hypothesen zu generieren. Das ist ein relativ konservativer
Standpunkt. Was Wissenschaft und ihre Forschung betrifft, ist mir nichts
Besseres über den Weg gelaufen. [V87:8] Solange wir das nicht deutlich auseinander halten, werden Leute von
außerhalb der Sozialpädagogik / Sozialarbeit immer sagen: Wie reden die denn
daher! – weil unklar ist, welches Vokabular nun eigentlich in Anspruch
genommen wird. Ist das in einem engeren Sinne theoretisches Vokabular, oder
sind nicht da ganz andere Absichten im Spiel? [V87:9] Mein erster Schritt wäre, mit dem Märchen endlich
Schluß zu machen, daß es so etwas wie eine Theorie-Praxis-Kontinuität gibt.
Sie gibt es in theoretischer Einstellung nicht. Es gibt sie unter der
Einstellung praktischer Erwartungen im Feld, d. h. pragmatische, quasi
theoretische Diskurse gibt es natürlich, und sie mögen auch nützlich sein in
der Praxis. Aber für die Identität, wie Roland Merten formuliert hat, für die
Identität eines Faches gibt das nichts her, sondern macht sich eher
verdächtig.
[V87:10] Thiersch:
Ich finde die Diskussion schwierig, weil Sachen
angesprochen wurden, die man diffizil verhandeln muß. In kurzen Statements
geht es nicht. Ich würde in einem Satz darauf insistieren wollen, daß die
von mir beschriebene Mixtursprache oder in der Mitte liegende Sprache nicht
auf Un-Unterscheidungen oder Nicht-Unterscheidungen hinzielt, sondern nur
aus der Notwendigkeit produktiver Konfrontationen begründet ist und würde
mich da auf Schütz, auf Bourdieu und auch auf den alten
Weniger beziehen, daß es
nämlich darauf ankommt, die Sprachmuster zu unterscheiden, aber sie
konfrontativ oder in irgendeiner Weise produktiv aufeinander zu beziehen. Da
kann man im einzelnen auch zeigen, daß diese Konstruktion von
Auseinandersetzungen zwischen den Sprachebenen immens wichtig ist und sehr
häufig zur Zeit, was mir nicht gefällt, bei einer Betonung der Differenz
wegfällt.
[V87:11] Merten:
Das Theorie-Praxis-Verhältnis muß man anders
bestimmen, als es gemeinhin getan wird. Ich finde, der tollste Begriff, der
neuerdings durch die Gegend kursiert, ist der einer Praxistheorie. Es hat
mir bisher noch nicht eingeleuchtet, was sie denn sein soll. Mein
Theorie-Praxis-Verständnis ist ein kantianisches. Da würde ich aufzeigen
wollen, daß es eine theoretische Fundierung braucht, die dann überhaupt erst
zu einer Praxis kommen kann. Es gilt insofern nicht die Vorrangigkeit der
Praxis vor der Theorie. Da markiere ich den Unterschied, und den muß man
auch systematisch herausarbeiten. Das andere ist – da würde ich Herrn Mollenhauer widersprechen: daß wir Theorien
brauchen, und zwar im Sinne von paradigmatischen Orientierungen, die Fragen
der Zuordnung innerhalb der Disziplin klären. |a 70|Wir
können nicht so tun, als ob wir dergleichen nicht hätten. Wir diskutieren
über Michael Winkler, der
einen Pflock gesetzt hat mit seiner dezidiert pädagogischen Fundierung der
Sozialpädagogik. Und wir haben natürlich auch alternative Entwürfe, wir
haben die Arbeit von Thomas
Olk vorliegen, der einen dezidiert systemtheoretischen Entwurf
unterbreitet hat. Da ist an dieser Stelle nichts zu vermitteln, sondern man
muß einfach die Differenz als Differenz markieren und damit paradigmatische
Unterschiede auch herausheben, wo sie sind. Das halte ich für nicht
dramatisch, sondern für was völlig Normales. Es ist überall so, und der
Versuch, das zusammenzuführen, zeigt einen Mangel an
wissenschaftstheoretischer Reflexion bzw. den Versuch der Quadratur des
Kreises. Das muß mißlingen, und das wird auch mißlingen, und da scheint es
mir vernünftiger zu sein, Differenzen zu markieren und verschiedene
Positionen deutlich herauszuarbeiten in ihren Tragfähigkeiten, in ihren
Reichweiten, aber auch in ihren Grenzen.
[V87:12] Siegfried
Müller:
Also: ich würde ja gerne wissenschaftlich oder alltagssprachlich argumentieren, Herr Mollenhauer; aber ich habe mitunter mit einer
solchen Unterscheidung Schwierigkeiten. Gelegentlich fahre ich im Zug mit
Fußballfans, denen merkt man deutlich an, daß ihr Verein verloren hat. Und
das mag bei Arminia Bielefeld
nicht anders sein als bei Kaiserslautern...
»Wenn der Spieler, dieser
blöde Affe, endlich mal in die Tiefe gelaufen wäre, dann hätte er auch
mehr Pässe gekriegt, dann hätten wir auch gewonnen.«
Ein Satz,
alltagssprachlich formuliert, begrifflich nicht sehr abstrakt, aber... Ist
das nicht auch ein theoriefähiger Diskurs?
[V87:13] Otto:
Für die Fußballtrainer ja.
[V87:14] S.
Müller:
Natürlich ist das ein theoriefähiger Diskurs, der
zur Hypothesenbildung auffordert, wie Mollenhauer
dies angemahnt hat.