Pädagogik der “kritischen Theorie” [Teil 3] [Textfassung B]
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Literaturverzeichnis

Einführende Literatur

    [V48:1] Apel, K.O.: Artikel
    Hermeneutik
    , in: Chr. Wulf (Hrsg.): Wörterbuch der Erziehung, München 1974
    [V48:2] Klafki, W.: Artikel
    Handlungsforschung
    , in: Chr. Wulf (Hrsg.): Wörterbuch der Erziehung, München 1974
    [V48:3] Krappmann, L.: Neuere Rollenkonzepte als Erklärungsmöglichkeit für Sozialisationsprozesse, in: Familienerziehung, Sozialstatus und Schulerfolg, Hrsg. von der b:e-Redaktion, Weinheim 1971
    [V48:4] Lenzen, D.: Didaktik und Kommunikation, Frankfurt 1973
    [V48:5] Mollenhauer, K.: Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1972 (darin: 2. Kapitel, S. 84–167)
    [V48:6] Mollenhauer, K./Rittelmeyer, Chr.: Methoden der Erziehungswissenschaft, München 1977

Weiterführende Literatur

    [V48:7] Adorno, Th.W.: Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Stichworte, Frankfurt 1969
    [V48:8] Benner, D.: Pädagogisches Experiment zwischen Technologie und Praxeologie, in: Pädagogische Rundschau, Jg. 26, 1972 S. 25–53
    [V48:9] Blankertz, H.: Theorien und Modelle der Didaktik, München 1971
    [V48:10] Blankertz, H.: Strategien zur Entwicklung des Lehrplans für das Fach Arbeitslehre, in: Blankertz (Hrsg.): Curriculumforschung – Strategien, Strukturierungen, Konstruktion, 2. Aufl., Essen 1971
    [V48:11] Blankertz, H.: Fachdidaktische Curriculumforschung – Strukturansätze für Geschichte, Deutsch, Biologie, Essen 1973
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    [V48:12] Brumlik, M. : Pädagogische Probleme des symbolischen Interaktionismus, Frankfurt/M. 1973
    [V48:13] Feuerstein, Th.: Emanzipation und Rationalität: München 1973
    [V48:14] Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse, in: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M. o. J.
    [V48:15] Habermas, J.: Theorie und Praxis, Neuwied 1963
    [V48:16] Habermas, J.: Thesen zur Theorie der Sozialisation, Frankfurt 1968
    [V48:17] Heinze, Th. /u.a.: Handlungsforschung, München 1975
    [V48:18] Klafki, W.: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, Weinheim 1976
    [V48:19] Krappmann, L.: Soziologische Dimension der Identität, Stuttgart 1975
    [V48:20] Lempert, W.: Leistungsprinzip und Emanzipation, Frankfurt 1971
    [V48:21] Lorenzer, A.: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Frankfurt 1972
    [V48:22] Mollenhauer, K.: Interaktion und Organisation in pädagogischen Feldern, in: Z.f.Päd. 13. Beiheft, hersg. von H. Blankertz
    [V48:23] Mollenhauer, K./Brumlik, M./Wudtke, H.: Die Familienerziehung, München 1975
    [V48:24] Moser, H.: Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften, München 1975
    [V48:25] Oevermann, U. u.a.: Beobachtungen zur Struktur der sozialisatorischen Interaktion. Theoretische und methodologische Fragen der Sozialisationsforschung, in: Auwärter (Hrsg.): Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität, Frankfurt 1976
    [V48:26] Oevermann, U.: Programmatische Überlegungen zu einer Theorie der Bildungsprozesse und zur Strategie der Sozialisationsforschung, in: Hurrelmann (Hrsg.): Sozialisation und Lebenslauf, Reinbek 1976
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    [V48:27] Ottomeyer, K.: Soziales Verhalten und Ökonomie im Kapitalismus, Gaiganz 1974
    [V48:28] Rittelmeyer, Chr./Wartenberg, G.: Verständigung und Interaktion. Zur politischen Dimensionder Gruppendynamik, München 1975
    [V48:29] Schäfer, K.-H./Schaller, K. : Kritische Erziehungswissenschaft und kommunikative Didaktik, Heidelberg 1976
    [V48:30] Wulf , Chr.: Aspekte kitisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, München 1977
    [V48:31] Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 1975 , Heft 5; Jg. 1976:, Heft 3
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Lernziele

[V48:42] Wenn Sie diese Studieneinheit durchgearbeitet haben, dann sollten Sie
  • [V48:43] wissen, wie einige Erziehungswissenschaftler der Gegenwart versucht haben, die Anregungen der Kritischen Theorie für die Bearbeitung pädagogischer Probleme (Interaktionsanalyse, Didaktik, Methoden der Forschung) fruchtbar zu machen;
  • [V48:44] verstanden haben, wie innerhalb der Erziehungswissenschaft, im Anschluß an die Kritische Theorie, der Zusammenhang zwischen theoretischer Arbeit und praktischer Bedeutsamkeit hergestellt werden kann;
  • [V48:45] imstande sein, ein pädagogisches Thema ihrer Wahl analog zu skizzieren.
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Einleitung

[V48:46] Als in der 2. Studieneinheit von der Thematik der Kritischen Theorie die Rede war – beispielsweise vom
autoritären
und
narzißtischen
Charaktertypus – da wurden die charakterologischen und die Sozialisationsprobleme schon immer mit Bezug auf das soziale Verhalten von Individuen dargestellt. Es ging letzten Endes um die Art von Beziehungen, die die Individuen eingehen und um die gesellschaftlichen Bedingungen, die auf Form und Inhalt dieser Beziehungen Einfluß nehmen.
[V48:47] Aufgabe 1
[V48:48] Lesen Sie sich noch einmal das 1. Kapitel der 2. Studieneinheit durch und versuchen Sie zu ermitteln,
  • [V48:49] wo Beziehungsprobleme angesprochen werden,
  • [V48:50] wie solche Probleme beschrieben wurden,
  • [V48:51] wie die Art dieser Probleme erklärt wird.
[V48:52] Die Kritische Theorie – und das wurde im 3. Kapitel über die Normen-Problematik in der 2. Studieneinheit dargestellt – beschränkt sich aber nicht auf die Beschreibung und Erklärung dessen, was ist, sie versucht auch zu praktischen Urteilen zu gelangen, also zu entscheiden, ob eine Handlung moralisch richtig ist, welche Normen für das Handeln mit Gründen Geltung beanspruchen können.
[V48:53] Lesen Sie auch zu dieser Frage noch einmal im 3. Kapitel der 2. Studieneinheit nach.
[V48:54] Beide Probleme nun sind offensichtlich von unabweisbarer pädagogischer Bedeutung: Wie auch immer ein Erziehungsvorgang beschaffen sein mag, immer wird durch ihn eine bestimmte Gestalt interpersoneller Beziehung (Interaktion) etabliert, immer steht auch der Erzieher vor der Frage, welche die pädagogisch richtige Form dieser Beziehung ist. W. Klafki spricht deshalb auch von
kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft
. Die normative Frage, an welchen Prinzipien sich letzten Endes die Gestaltung einer pädago|B 8|gischen Beziehung orientieren solle, werden wir jedoch in dieser Studieneinheit nicht mehr ausführlich erläutern. Stattdessen wollen wir erläutern, wie von den Vertretern der kritischen Pädagogik Erziehung als kommunikatives Handeln bestimmt wird und welche erziehungswissenschaftlichen Aufgaben sich aufgrund solcher Bestimmung stellen.

1 Erziehung als Interaktion

1.1 Die Struktur interpersonellen Handelns

[V48:55] In sehr freier Abwandlung eines Satzes aus der
Deutschen Ideologie
von Karl Marx
[V48:56]
Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren
[V48:57] wollen wir für den Bildungsprozeß des heranwachsenden Menschen sagen:
[V48:58] Man kann den Bildungsprozeß eines Menschen als Entfaltung seiner Anlagen, als Anpassung an gesellschaftliche Normen, als zwangsläufiges Produkt seiner materiellen Situation, als Entwicklung seiner Vernunft oder was immer man sonst will bestimmen; das Kind selbst jedenfalls fängt an sich zu bilden, wenn es in tätige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, zumal mit den Personen, die mit ihm leben, eintritt.
[V48:64] In dieser Behauptung sind mindestens drei Bestimmungen der Bildung enthalten, die als Orientierungspunkte für das pädagogische Denken folgenreich sind:
  1. 1.
    [V48:65] Der sich bildende heranwachsende Mensch ist das Subjekt (Ego) seines Bildungsprozesses; er bildet sich zu einem empfindenden, urteilenden und verantwortlich handelnden Menschen; er ist
    selbsttätig
    .
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  3. 2.
    [V48:66] Er ist aber auch – in diesem Bildungsprozeß – gebunden an andere (Alter), mit denen er interagiert; er kann sich nur bilden im Hinblick auf diese anderen; er wird zum Subjekt in der Interaktion mit diesen, bildet deshalb nicht nur sich selbst, sondern wird auch in diesen Beziehungen gebildet.
  4. 3.
    [V48:67] Beide – Ego und Alter, bzw. das Insgesamt der interpersonellen Beziehungen der sich bildenden Subjekte – leben in einem Kontext, in Lebenszusammenhängen, den vorwiegend nicht sie bestimmen, sondern der bereits historisch bestimmt ist. Ihre Interaktionen also sind höchstens nur zum Teil ihr eigenes Werk. Zum anderen Teil sind sie
    Ausdruck
    oder
    Resultat
    oder
    Spiegelung
    dessen, was historisch geworden ist: der kulturellen Traditionen, der Formen gesellschaftlichen Verkehrs, der Machtverhältnisse, der Weisen der gesellschaftlichen Produktionen usw. – und zwar deshalb, weil
    Alter
    , d.h. die Beziehungspersonen für das sich bildende Subjekt, immer schon in diese historischen Verhältnisse eingebunden ist.
[V48:68] Die erste Frage, deren Beantwortung wir versuchen wollen, soll deshalb lauten: Durch welche Merkmale läßt sich die Struktur einer interpersonellen Beziehung kennzeichnen? Das
Konstrukt
(oder auch
Modell
oder
Strukturbild
), das sich auf diese Weise ergibt, wollen wir schrittweise aufzeichnen!
[V48:70] 1. Schritt:
[V48:71] Wir hatten gesagt, daß für die Bildung des Menschen sowohl Ego wie Alter notwendig sind. Daher gehen wir in unserem Modell zunächst von der kleinsten Einheit aus: der Dyade. Eine natürliche Dyade z.B. ist die Mutter-Kind-Beziehung, die für den Bildungsprozeß jedes Kindes von wesentlicher Bedeutung ist.
[V48:72] (Störungen in dieser Dyade haben – wie z.B. die Psychoanalyse gezeigt hat – fundamentale Konsequenzen für den Bildungsprozeß.)
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[V48:69] Beteiligt sind die Personen A und B. Beide interagieren miteinander mittels eines Systems von Symbolen (sprachlichen und nichtsprachlichen), die für beide gleiche Bedeutung haben:
Hier ist eine Abbildung zu symbolischer Interaktion zu sehen.
[V48:73] Dieses Interaktionsmodell wurde von G.H. Mead vor allem in seinem Buch
Geist, Identität, Gesellschaft
(Frankfurt 1968, erste Aufl. Chicago 1934) entwickelt und grundlegend beschrieben. Die sich auf diesen sozialpsychologischen Ansatz gründende Theorie wird
Symbolischer Interaktionismus
genannt.
[V48:74] Wie ist es zu verstehen, daß für A und B die Symbole
die gleiche Bedeutung haben?
[V48:75] Mead zeigt das vor allem an dem spezifischen menschlichen SpracheSymbolsystem, der Sprache. Im Unterschied zu
Gesten
, die sowohl dem menschlichen wie dem tierischen Verhalten eigen sind, bildet die Sprache ein übersituatives System von Laut-Gesten, in dem eine Verknüpfung von gegenständlicher Welt und sprachlichem Ausdruck besteht. A und B können sich deshalb nicht nur über das verständigen, was sie aktuell wahrnehmen, sondern auch über Situationenunabhängiges, über das z.B., was gestern war oder morgen sein wird oder an einem anderen Ort vor sich geht.
[V48:79] 2. Schritt:
[V48:76] Sowohl A als auch B vollziehen dabei mindestens zwei Operationen:
  • [V48:77] sie machen eine Erfahrung mit dem anderen, nehmen sein Verhalten, sein Handeln wahr und
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  • [V48:78] sie verarbeiten diese Erfahrung zu einer Darstellung dem anderen gegenüber, zu eigenem Handeln.
[V48:80] Beispiel
[V48:81] Ein Kleinkind (A) sieht einen Hund, sieht die Mutter an und sagt:
Wau-Wau
(es bringt also eine Erfahrung/Wahrnehmung zur Darstellung). Die Mutter nun nimmt diese Darstellung des Kindes wahr und, weil sie selbst Angst vor Hunden hat, interpretiert sie die Mitteilung des Kindes nicht nur als
dies ist ein Hund
, sondern auch als
ich (das Kind) bin gefährdet
; dies ist ihre Erfahrung von der Darstellung des Kindes. Sie nimmt also das Kind bei der Hand und versucht, es ganz leicht vom Hunde wegzuziehen und sagt dazu:
Komm! sei vorsichtig!
(Darstellung). Das Kind wiederum macht nun eine Erfahrung mit der Darstellung der Mutter; und diese Erfahrung ist zusammengesetzt aus der wahrgenommenen  Ängstlichkeit der Mutter und (vielleicht) dem Wunsch, den Hund anzufassen. Es bringt dies zur Darstellung, indem es auf den Hund zustrebt und noch einmal sagt:
Wau-Wau!
Die Erfahrung, die jetzt die Mutter mit der Darstellung des Kindes macht, ist verschieden von der ersten Erfahrung; sie könnte vielleicht ihre  Ängstlichkeit überwinden und eine neue Darstellung geben usw.
[V48:82] 3. Schritt
[V48:83] Aus dem Beispiel geht hervor, daß das Interaktionsgeschehen nicht nur aus den symbolischen Darstellungen hervorgeht. Die Darstellungen selbst sind gleichsam die
Oberfläche
, die von den Interaktionspartnern (oder dem beobachtenden Wissenschaftler) entschlüsselt werden muß im Hinblick auf das, was die Darstellungen in der
Tiefe
bedeuten. A und B sind keine
unbeschriebenen Blätter
; in der Interaktion können sie allmählich voneinander erfahren, was auf diesen Blättern steht; und dies wiederum ist die Erfahrung unzähliger vorangegangener Interaktionen mit anderen. In dieser Erfahrung sind aber nicht nur
Bilder
enthalten, die man von sich selbst und anderen hat und die sich gelegentlich festsetzen (A hält B für ängstlich; B glaubt von A, er sei leichtsinnig), sondern auch Impulse, die aus dem Organismus stammen. In jeder Interaktionssituation müssen sich also A und B mit zwei weiteren Komponenten auseinandersetzen:
  • [V48:84] mit den eigenen Impulsen oder Antrieben;
  • [V48:85] mit den Bildern, die sie von den Interaktionspartnern (Alter) sich gemacht haben.
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[V48:89] Man kann das auch so ausdrücken:
[V48:90] A und B haben beide eine Vorstellung von sich selbst (Ego) und eine Vorstellung von den Erfahrungen und Darstellungen des anderen (Alter); beide Vorstellungen sind Teile des Individuums und beeinflussen, in jeder Situation wieder neu, das Interaktionsgeschehen, also die Erfahrungen und Darstellungen; beide Individuen, als A und B, nehmen in ihrem Handeln in gewissem Umfang vorweg, was an Interaktion möglich sein wird; sie antizipieren nicht nur die vermutbaren eigenen Handlungen (Darstellungen), sondern auch die vermutbaren Handlungen (Darstellungen) des anderen:
[V48:91] Das hier beschriebene Modell der Interaktion enthält noch einen
Fehler
. Es ist nämlich – trotz unseres Beispiels – auf die Interaktion zwischen voll kompetenten Handlungspartnern zugeschnitten. Die damit behauptete Symmetrie trifft aber in pädagogischen Situationen um so weniger zu, je jünger das Kind ist; die volle Symmetrie beschreibt das Ende eines Prozesses, in dem sich die einzelnen Komponenten erst allmählich im Kinde ausbilden. Zwar hat das Kind vom Beginn seiner Entwicklung an Impulse bzw. Antriebe; ebenso hat es von Beginn an Wahrnehmungen (es ist also, wie es schon in der klassischen Bildungstheorie, z.B. bei Schleiermacher, heißt, sowohl
spontan
als auch
rezeptiv
). Aber erst allmählich lernt es, sich selbst von Dingen und Personen zu unterscheiden, sich von diesen getrennt sehen zu können,
ich
zu sagen, dann auch sich ein Bild von anderen zu machen (
Mama
sagen) und dieses Bild nach neuen Erfahrungen revidieren zu können usw. Es lernt das dadurch, da  es in Interaktionen mit Erwachsenen derartige Differenzierungen erfährt. Auf eine kurze Formel gebracht können wir sagen: Der Bildungsprozeß  des Kindes besteht in seinem ersten und fundamentalen Teil in dem Erwerb von Interaktionskompetenz; diese Kompetenz erwirbt es aber nur durch Teilnahme an Interaktionen, in denen mindestens ein Partner über diese Kompetenz bereits verfügt.
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[V48:92] Die in diesem Abschnitt nur sehr skizzenhaft dargestellten Gedankengänge gehen zwar auf G. H. Mead zurück; sie sind aber in der neuern Literatur erweitert und konkretisiert worden, z.B. in:
    [V48:93] Laing, R.D./Phillipson, H./Lee, A.R.: Interpersonelle Wahrnehmung, Frankfurt 1971;
    [V48:94] Lindesmith, A.R./Strauss, A.L.: Symbolische Bedingungen der Sozialisation, Düsseldorf 1974;
    [V48:95] Lorenzer, A.: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Frankfurt/M. 1973.
[V48:96] Aufgabe 2
[V48:97] Notieren Sie eine kurze pädagogische Interaktion (Mutter-Kind, Lehrer-Schüler oder ähnliches) möglichst genau (wörtliches Protokoll bzw. genaue Beschreibung des nichtsprachlichen Austauschs von Informationen/Symbolen).
[V48:98] Versuchen Sie dann, möglichst viele der in unserem Schema enthaltenen Begriffe auf das Protokoll anzuwenden. also:
    [V48:99] Wie stellt sich A für B dar?
    [V48:100] Welche Erfahrung macht B von A?
    [V48:101] Welches Bild hat (oder macht sich) A von B? usw.

1.2
Gestörte
Interaktion

[V48:102] Das bisher skizzierte Modell der Interaktion könnte suggerieren, daß zwischen A und B immer eine symmetrische Beziehung besteht. Das aber ist in pädagogischen Interaktionen nicht der Fall. Vielmehr kommt ja eine pädagogische Handlung überhaupt nur dadurch zustande, daß zwischen den Interaktionspartnern ein Gefälle im Hinblick auf Kompetenzen (Handlungs-, Rede-, Denkfähigkeit usw.) besteht und deshalb der eine Part eine
autoritative
Stellung hat (in der Regel auch noch durch institutionelle Macht gestützt). Dennoch gestattet uns das Modell zu ermitteln, wo und welche Probleme in der Interaktion auftreten können, die nicht notwendig auf dieses Gefälle zurückgeführt werden müssen. Wir wollen die wichtigsten solcher
Problem-Dimensionen
anführen:
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  1. 1.
    [V48:103] Die Verständigung zwischen A und B kann mißlingen; d.h. die Symbole, die beide verwenden, werden nicht in hinreichendem Ausmaß von beiden gleich interpretiert, sind nicht hinreichend verständlich, sei es, weil sie noch unbekannt sind, sei es, weil sie vieldeutig geworden sind; (für den letzten Fall z.B.: die Mutter sagt zu ihrem Kind:
    Komm mein Schatz
    ; dem Kinde aber bleibt undeutlich, ob diese soziale Geste Zuwendung, Kontrolle oder etwas anderes bedeutet). Alfred Lorenzer (
    Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie
    , Frankfurt 1972) nennt solche Verzerrung von Interaktion, wenn durch psychische oder situative Zwänge Bedeutungsteile der sprachlichen Verständigung entzogen bleiben,
    Desymbolisierung
    oder
    Klischee
    (S. 128 ff.)
  2. 2.
    [V48:104] Die
    wahrhaftige
    Darstellung A’s für B kann mißlingen. A kann Schwierigkeiten haben, auszudrücken, was er meint, z.B. dadurch, daß die Situation ihm einen angemessenen Ausdruck nicht gestattet (er möchte weinen, aber
    ein Junge weint doch nicht
    ); oder wenn ein farbiges Kind in den USA beim Spiel mit Puppen zu erkennen gibt, daß die farbigen Puppen immer die
    Bösen
    , die weißen dagegen immer die
    Guten
    sind; es hat sich in diesem Fall das Bild, das sich andere von ihm machen, derart zu eigen gemacht, daß es sich selbst ebenso sieht, wie andere (die Weißen) es sehen; sein
    Selbst
    ist
    entfremdet
    , das Verhältnis des Interaktionsspartners zu sich selbst ist gestört.
  3. 3.
    [V48:105] Die Erfahrung der Interaktionspartner voneinanderkann unzutreffend sein, d.h., die Wahrnehmung des anderen, das Bild, das A sich von B macht, kann z.B. diffus oder stereotyp sein, was wiederum die Selbstdarstellung A’s gegenüber B beeinträchtigen kann(z.B. A denkt über B:
    er ist nur faul
    ; B denkt über A:
    er kann mich nicht leiden
    .)
  4. |B 15|
  5. 4.
    [V48:106] Schließlich kann in einer pädagogischen Situation zweifelhaft sein, welche Werte gelten sollen, ob beide Interaktionspartner noch eine hinreichend gemeinsame Vorstellung vom
    rechten
    oder
    guten
    Leben haben. Pädagogische Interaktionsprobleme, die damit Zusammenhängen, tauchen vor allem im Jugendalter auf, zumal dann, wenn der Jugendliche versucht, seine Identitätsprobleme im Rahmen von Wertorientierungen zu lösen, die von denen seiner Eltern oder der Erwachsenengeneration im ganzen abweichen.

Exkurs

[V48:109] Bei Habermas heißt es
(vgl. Kurs
Einführung in die Anthropologie der Erziehung
, Kurseinheit 2, S. 49)
, die Anthropologie – und wir ergänzen: die Pädagogik – müsse sich
grundsätzlich ihren Begriff vom Menschen erläutern lassen durch den Begriff der Gesellschaft, in dem er entsteht.
Welche Konsequenzen ergeben sich durch diese Aufforderung für das erziehungswissenschaftliche Nachdenken? Interaktion ist eine durch die Geschichte der Gesellschaft erzeugte KategorieEinen
Begriff der Gesellschaft
können wir hier natürlich nicht entfalten. Aber wir können versuchen, einige seiner möglichen Komponenten hervorzuheben, um den gesellschaftlichen Gehalt des Ausdrucks
Interaktionsstörung
zu akzentuieren und auf pädagogische Sachverhalte zu beziehen.
[V48:110] In der ersten Kurseinheit haben wir versucht zu verdeutlichen, daß nicht nur der Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis geschichtlich ist, sondern auch das erkennende Organ. Der Begriff
Interaktionsstörung
ist Teil eines solchen erkennenden Organs; inwiefern ist er
geschichtlich
? Stellen wir uns das Hauswesen eines Handwerkers im 17. Jahrhundert in einer protestantischen Stadt vor. Sowohl der Begriff
Interaktion
wie der der
Interaktionsstörung
in unserem Sinne wäre dort unverständlich geblieben. Es gab vielleicht
Störungen
im Gewerbe, Zunftstreitigkeiten, Zoll-Belastungen, Furcht vor kriegerischen Unruhen, auch erschien dem Hausvater (Meister) wohl bisweilen die Jugend als
ungebärdig
, vielleicht gar als
zuchtlos
, besonders im Hinblick auf seine Gesellen. Er wäre aber wohl kaum auf die Idee gekommen, Konflikte zwischen Erwachsenen und Unerwachsenen als eine Funktion von Beziehungsproblemen zu deuten. Diese Beziehungsprobleme werden für die Erziehungsaufgabe erst wichtig, wenn soziale Institutionen entstehen, in denen auf der Basis von Interaktionen Lernprozesse für die Heranwachsenden organisiert werden: die von der Produktion getrennte Kleinfamilie, die allgemeinbildende Schule. In diesen Einrichtungen hängt nun nämlich tatsächlich Wesentliches von der Gestalt der interpersonellen Beziehungen ab; und also erscheint die Kategorie
Interaktionsstörung
auch sinnvoll und bedeutsam. Daß heute Begriffe wie
Interaktion
,
Interaktionsstörung
,
Kommunikation
,
interpersonelles |B 16|Handeln
usw. mehr und mehr in das Zentrum pädagogisch-praktischer Probleme (Familieninteraktion, Lehrer-Schüler-Beziehung, Beratung, Therapie für einzelne und Gruppen, Gruppendynamik usw.) und erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen rücken, hängt also offenbar mit der Struktur unseres Erziehungssystems und seiner Lokalisierung im Gesellschaftssystem zusammen. Wenn wir uns die Aufgabe stellen, über
Interaktionsstörung
nachzudenken und diesen Begriff näher zu bestimmen, dann erläutern wir damit zugleich den Stand unserer
historischen Vernunft
, unseren historischen Standort, unser historisch erzeugtes Bewußtsein von der Eigenart unseres Erkenntnisgegenstandes.
[V48:111] Zurück nun also zum Begriff
Interaktionsstörung
.
[V48:112] Auch eine
Pädagogik der Kritischen Theorie
bzw. eine
Kritische Erziehungswissenschaft
kann des bereits erfahrungswissenschaftlich angesammelten Wissens über ihre Gegenstände nicht entraten. So wissen wir beispielsweise
  • [V48:113] aus der Kommunikationsforschung, daß Mittel und Inhalte der Interaktion diese bestimmen, also auch für Störungen als ursächlich angenommen werden können;
  • [V48:114] aus der therapeutisch orientierten Famitien- und Interaktionsforschung, daß die Beziehungsdefinitionen in interpersonellen Situationen nicht nur die wechselseitigen Erfahrungen der Interaktionspartner, sondern auch deren Selbstbild bestimmen;
  • [V48:115] aus der kognitivistischen Psychologie, daß Form und Verlauf von pädagogischen Interaktionen eine kognitive Struktur haben, gleichsam ein intellektuelles Reservoir mobilisieren, das die Interaktion beeinflußt und in zeitlich aufeinander folgenden Entwicklungsschritten gebildet wird.
[V48:116] Wir verfügen also über einige Kenntnisse, die uns gestatten,
Störung
zu beschreiben und ihre Quellen ausfindig zu machen. Dabei soll von
Störung
immer dann die Rede sein, wenn Verständlichkeit nicht hergestellt, Wahrhaftigkeit erschwert, ein negatives Selbstbild erzeugt, die Frage nach der
richtigen
(d.h. der moralisch zulässigen) Interaktion und dem
richtigen
Leben verwehrt wird und zwar im Sinne |B 17|dessen, was wir in der zweiten Studieneinheit (3. Kapitel) als
Diskurs
beschrieben haben.
[V48:117] In seinem Buch
Theorien zum Erziehungsprozeß
hat 1972 Klaus Mollenhauer einen ersten Versuch unternommen, daraus für die Erziehungswissenschaft eine Konsequenz zu ziehen:
[V48:118]
Unternehmen wir nun den vielleicht etwas riskanten Versuch, die referierten Ansätze zur Bestimmung gestörter Kommunikation zu integrieren. Wir hatten den Diskurs als die letzte Legitimationsbasis für Lernzielentscheidungen und -begründungen bestimmt. Die Rechtfertigung dafür hatten wir daran gesehen, daß in jedem Erziehungsakt der Erzieher seinen Status des Erwachsenen als eines auf der Basis begründeter Handlungsorientierung agierenden Subjektes unterstellt. Diese Unterstellung ist zwar als eine Triebkraft pädagogischer Kommunikation anzusehen, aber eben nur als eine. Der historische Regelfall nämlich erfüllt in seiner faktischen Gestalt nicht den in der Unterstellung postulierten Begriff von Kommunikation, sondern bleibt hinter ihm zurück, wofür empirische Bedingungen als ursächlich angenommen werden müssen, die ihren Inbegriff im historisch sozialen Kontext der Erziehungssituation haben. Lernzielprobleme haben es also mit dieser Differenz zu tun. Die referierten Ansätze machen Vorschläge, in welchen Dimensionen Störung ermittelt werden muß und also jene Differenz aufgeklärt werden kann. Es sind dies die folgenden Dimensionen:
  • [V48:119]
    die kognitive Struktur,
  • [V48:120]
    die Beziehungsdefinitionen,
  • [V48:121]
    die Inhalte von Kommunikationen,
  • [V48:122]
    die symbolischen Kommunikationsmittel.
[V48:123]
Jeder Erziehungsakt kann nach diesen Dimensionen analysiert werden. Es sind Dimensionen, d.h., sie können zwar unabhängig voneinander betrachtet wer den, sie treten aber nicht unabhängig voneinander auf: Jede Beziehung, jede Thematisierung eines Inhaltes, jeder Komplex von Symbolen hat eine kognitive Struktur; jede kognitive Struktur konkretisiert sich innerhalb von Beziehungen, angesichts von Inhalten; Inhalte werden bedeutsam im Rahmen von Beziehungsdefinitionen und identifiziert in symbolischen Mitteln usw. Damit haben wir zugleich einen Vorschlag für die Bestimmung des Gegenstandes der Erziehungswissenschaft, d.h. der Bestimmung des pädagogischen Feldes in denjenigen Dimensionen gemacht, die der pädagogischen Intervention zugänglich sind. Das gilt freilich nur, wenn kein Zweifel daran besteht, daß die Natur der pädagogischen Intervention ein kommunikatives Handeln ist, dessen Gegenstand auch nur in dem liegen kann, was den Kommunikationspartnern verfügbar ist. Daß darüber hinaus in jeder pädagogischen Situation Faktoren wirksam sind, die die faktische Gestalt der Kommunikation in unterschiedlicher Stärke bestimmen, unterliegt keinem Zweifel. Diese Faktoren können jedoch für das |B 18|pädagogische Handeln nur mittelbar zum Gegenstand werden, und zwar über die Änderung von kognitiven Strukturen, Beziehungsdefinitionen, Kommunikationsinhalten und Kommunikationsmitteln – d.h. über die zu bildende Handlungsfähigkeit der von jenen Faktoren betroffenen Subjekte.
(S. 80/81)
.
[V48:124] In diesem Text bleibt jedoch noch wenig präzisiert, was mit
Handlungsfähigkeit
einerseits und
Aufklärung
andererseits gemeint ist: Kinder kommen ja nicht mit der Fähigkeit und Bereitschaft zum
Diskurs
zur Welt; damit sie sich am
Diskurs
beteiligen, damit sie – mit anderen Worten – sich zu sich selbst wie zu anderen und den Bedingungen ihrer Existenz
aufgeklärt
verhalten können, müssen sie
gelernt
haben: auf diesen Sachverhalt verweist der Ausdruck
Handlungsfähigkeit
. Störungen der Interaktion also können auf zwei Ebenen auftreten:
  • [V48:125] sie können sich darin zeigen, daß es einem oder mehreren Interaktionspartnern an
    Handlungsfähigkeit
    mangelt (z.B.: das Kind kann sich noch nicht hinreichend verständlich machen; der Erwachsene hat Hemmungen, seine Gefühle dem Kind gegenüber zur Darstellung zu bringen),
  • [V48:126] sie können sich darin zeigen, daß sie, obschon sie über die erforderliche Handlungsfähigkeit verfügen, keine Distanz zur Situation einnehmen, also die eingebrachten Geltungsansprüche nicht problematisieren (z.B.: die 14-jährie Tochter möchte abends länger von zu Hause fortbleiben, die Eltern aber wünschenm daß sie um 20.00 Uhr daheim ist; es bleibt indessen bei einem
    Machtkampf
    , ohne daß Gründer erörtert werden).
[V48:127] Zu diesem zweiten Problem heißt es in dem oben zitierten Text weiter:
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[V48:128]
Die Möglichkeit, eingespielte Definitionen, Normen, Kommunikationsregeln, die Bedingungen ihrer Stabilität oder Veränderbarkeit problematisieren und also metakommunikativ zum Inhalt machen, über Frage und neue Begründung neuen Konsensus erzielen und das Handeln daran umorientieren zu können, ist zwar die gleichsam letzte Probe aufs Exempel, die höchste mögliche Stufe der Anwendung kommunikativer Schemata und ihrer kognitiven Implikationen? aber weder ist dies der historische Regelfall, noch auch ist es dem Typus nach das, was quantitativ den Erziehungs- und Bildungsalltag ausmacht. Dieser Alltag strukturiert sich viel eher auf einer Ebene kommunikativer Prozesse, in denen es um einfachen und nicht um metakommunikativen Umgang geht; und das prinzipiell immer für alle Partner der pädagogischen Kommunikation: Erwartungen wahrnehmen und interpretieren, Regeln erlernen und einhalten, Probleme identifizieren und lösen, Beziehungen definieren, Sprache verstehen, Situationen strukturieren, Handlungen planen usw. Kurz: Eine relative Sicherheit in der Kommunikation muß voraus gesetzt werden, wenn Diskurs als reales Ereignis wahrscheinlich sein soll. Diese Ebene der Kommunikation nennen wir Interaktion.
(S. 81/82)
[V48:129] Das bedeutet u.a., daß uns sehr daran gelegen sein muß, diejenigen Bedingungen ausfindig zu machen, die – im Sinne des gesellschaftlichen Kontextes – auf die pädagogischen Interaktionen einwirken und ihre Form (also auch ihre
Störungen
) bestimmen.
|B 20|

1.3 Die sozialen Kontexte der pädagogischen Interaktion

[V48:130] Adorno hat die heuristische Hypothese geäußert, daß noch im kleinsten sozialen (und also auch pädagogischen) Detail sich die Spuren des gesellschaftlichen Ganzen finden lassen müßten. Wenn wir annehmen, daß diese Hypothese für den Erkenntnisgang auch der Erziehungswissenschaft nützlich ist, dann wäre zu überlegen, welche Konsequenzen sich aus ihr für die Analyse pädagogischer Interaktionen ziehen lassen.
[V48:131] Da
Individuum
und
Gesellschaft
sich nicht unvermittelt gegenüberstehen, da vielmehr
  • [V48:132] einerseits jedes Individuum immer schon Gesellschaft gleichsam
    in sich trägt
    , als eine Art
    Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse
    (Marx) beschrieben werden kann,
  • [V48:133] andererseits es im Laufe seiner Biographie diesen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mit einem Schlage und im Ganzen ausgesetzt ist, sondern immer nur stückweise, in Form einzelner Erwartungen, sozialer Institutionen, vorgefundener Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs usw. –
[V48:134] deshalb ist es naheliegend, jene Verhältnisse im Hinblick auf ihre Bedeutsamkeit für Interaktion und Bildungsprozeß zu spezifizieren. Betrachten wir dabei den Verlauf der Biographie des heranwachsenden Kindes, dann lassen sich folgende Unterscheidungen treffen:
  1. 1.
    [V48:135]
    Das Kind lebt
    zunächst
    im sozialen Kontext von Situationen . Es ist Erwachsenen ausgesetzt; in der Interaktion mit ihnen erwirbt es die Kenntnis der Bedeutung von Gesten, erwirbt es Sprache und Denken, Motive und Einstellungen, lernt es, Wünsche zu äußern und zu unterdrücken. Innerhalb dieses Rahmens kann die Tätigkeit des Erziehers als
    Strukturieren von Situationen
    begriffen werden; alle interpersonellen Situationen haben eine
    Intentionalität
    , d.h., die Interaktionspartner verfolgen Absichten, die nicht notwendig übereinstimmen. |B 21|Die pädagogische Situation unterscheidet sich indessen dadurch von anderen, daß der Erzieher (wegen seiner Verpflichtung, sein Handeln im Sinne der idealen Interaktionssituation, die wir
    Diskurs
    nennen, zu legitimieren) gehalten ist, sich nicht nur mit den Intentionen des Kindes, sondern auch mit seinen eigenen auseinanderzusetzen.
    Sie hat es nämlich in einer besonderen, von anderen Situationen zu unterscheidenden Weise mit der intentionalen Komponente zu tun. Wir wollen diese Komponente die Meta-Intentionalität der pädagogischen Situation nennen. Für jede menschliche Kommunikation – also auch für die pädagogische – muß unterstellt werden, daß die Partner der Situation eigene Intentionen haben und diese in ihren kommunikativen Akten zum Ausdruck bringen. Ferner muß unterstellt werden, daß das Postulat gilt, daß die Intentionen des anderen in der jeweils eigenen Interaktionsstrategie reflektiert, also nicht nur berücksichtigt, sondern als ernsthaft akzeptiert werden. Das gilt auf der naiven Ebene, ohne Berücksichtigung eines etwa kalkuliert geplanten Situations-Arrangements durch einen der Partner. Aber gerade dies ist für pädagogische Situationen charakteristisch: daß einer der Partner, derjenige nämlich, der sich in der Rolle des Pädagogen definiert, für sich in Anspruch nimmt, Situationen zu strukturieren, und zwar so, daß seine Chance der Einflußnahme in der Situation größer ist als die der anderen Partner. Er nimmt sogar – noch weitergehend – für sich in Anspruch, daß ihm selbst, wenn nicht ein Monopol, so doch ein entschiedenes Übergewicht institutionell gesichert wird, um Situationen überhaupt vorweg und nicht erst in der Situation selbst zu strukturieren.
    (Mollenhauer 1972, S. 120/121)
    .
  2. 2.
    [V48:136]
    Nun sind aber die verschiedenen Komponenten der pädagogischen Situation, die subjektive Lebenswelt, nicht in gleicher Weise für die Interaktionspartner verfügbar. Einen sprachlichen Ausdruck können sie bei Nicht-Verstehen vielleicht noch ändern, eine bestimmte Handlung willentlich unterlassen. Andere Teile der Situation dagegen sind
    resistenter
    und zudem häufig unbewußt: ein bestimmter Sprachstil, Phantasien und Ängste, Einstellungen, Erwartungen, für selbstverständlich gehaltene Normen des Handelns usw. Diese Teile der Situation sind gleichsam abgespalten von dem, was dem reflektierenden Bewußtsein der Interaktionspartner jederzeit zur Verfügung steht; sie verweisen damit auf einen die Situation übergreifenden sozialen Kon|B 22|text: den Kontext lebensgeschichtlich wirksamer sozio-ökonomischer und institutioneller Bedingungen. Durch ihn werden subjektive Erfahrungen nicht nur präformiert, sondern auch gestützt und auf Dauer gestellt. Sie erzeugen gleichsam die im Alltagshandeln in der Regel unreflektierte
    Startmasse
    , mit der die Interaktionspartner sich in die pädagogische Situation hineinbegeben. Sie geben der pädagogischen Situation gesellschaftlich Form und Inhalt, ihre Analyse hilft deshalb aufzuklären, wo die Bedingungen gestörter pädagogischer Interaktionen zu suchen sind. Aus diesem Grunde überlassen auch die Vertreter der
    Kritischen Erziehungswissenschaft
    solche Aufklärung nicht dem Soziologen, sondern verstehen sie als einen Kernbestand ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit:
    • die Analyse pädagogischer Institution und der von diesen abhängigen Berufsrollen,
    • die Analyse der Instanzen sozialer Kontrolle (Jugendamt, Erziehungsheim),
    • die Ermittlung der Wirkungen des sozialen Status (Schichtspezifische Sozialisation) auf den Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern usw.
  3. 3.
    [V48:137]
    Von diesen beiden Kontexten, dem der Situation und dem Gesellschaftstypische Grundmuster des pädagogischen Verkehrsder sozio-ökonomischen und institutionellen Bedingungen, läßt sich ein dritter, noch
    allgemeinerer
    unterscheiden: er betrifft die in einer Gesellschaft/Kultur geltenden bzw. herrschenden Grundmuster für den pädagogischen Umgang der Generationen miteinander. Zu den ersten beiden Kontexten gibt es bereits eine Fülle empirischer Materialien; diese dritte Stufe der Organisiertheit pädagogischer Interaktionen ist indessen noch wenig wissenschaftlich ausgearbeitet. Das Programm solcher Ausarbeitung hat Mollenhauer zu skizzieren versucht (im Anschluß vor allem an Veröffentlichungen P. Bourdieus, und zwar: Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1970 und: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M. 1976):
    |B 23|
    Bourdieu hat die analytische Hypothese geäußert, daß der Begriff des
    Habitus
    geeignet sei, Regelmäßigkeiten des pädagogisch-interpersonalen Handelns zu studieren, die weder sich aus den fundamentalen Bedingungen von Interaktionen überhaupt, noch aus den historisch besonderen Bedingungen dieser oder jener Einrichtungen erklären lassen, sondern nur noch aus den Reproduktionsinteressen der je historisch besonderen Gesellschaft. Er hat damit eine dritte Ebene der Organisiertheit von Interaktionen angesprochen, auf der so etwas wie der Algorithmus eines Erziehungssystems formulierbar sein müßte (Bourdieu 1970, S. 125 ff.) Der Ausdruck
    Habitus
    symbolisiert für Bourdieu den Versuch,
    im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken
    (Bourdieu 1970, S. 132), er verbindet den Einzelnen – wir können sagen: jede einzelne pädagogische Interaktion –
    mit der Kollektivität seines Zeitalters
    , weist den
    anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel
    (ebd.).
    Es handelt sich dabei um
    eine Art generativer Grammatik der Kultur
    . Und:
    Obwohl sich Bourdieu an keiner Stelle auf den marxistischen Begriff der
    Verkehrsformen
    bezieht, scheint mir die Ähnlichkeit in mindestens einer Hinsicht doch unverkennbar. Auf unseren Gegenstand bezogen, möchte ich so formulieren: in beiden Fällen ... richtet sich das Interesse darauf, zu ermitteln, ob es einen für Gesellschaftsformationen je spezifischen Satz von Regeln des interpersonellen Handelns gibt, die sowohl die Muster scheinbar individuell besonderer Interaktion, wie auch die ... Muster institutioneller Interaktion generieren.
    (Mollenhauer 1977, S. 51 f.)
    Dieser von Bourdieu eingeführte Begriff (er hat ihn allerdings den kunstgeschichtlichen Analysen Panofskys entnommen) hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Begriff
    Sozialcharakter
    , von dem in der zweiten Kurseinheit im Rahmen von
    Autorität und Familie
    die Rede war. Uns scheint dies eine gute Weiterentwicklung wissenschaftlicher Begriffsbildung zu sein, denn sie erweitert die zunächst vorwiegend sozialpsychologischen Konnotationen des Ausdrucks
    Sozialcharakter
    in Richtung auf die nichtpsychologischen Regeln des Zusammenlebens und erlaubt überdies einen Anschluß an andere, für pädagogische Problemstellungen wichtige historische Untersuchungen (z.B. B.Groethuysen: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 2 Bde., Halle 1927 und 1930; N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2. Bde., Basel 1939; Ph. Aries: Geschichte der Kindheit, München 1975). Die Hypothese, die solche Untersuchungen leitet, läßt sich – freilich noch sehr allgemein |B 24|und wenig spezifiziert – so formulieren: Jede Gesellschaftsformation bzw. kulturell-epochale Einheit bring einen pädagogischen Habitus hervor, der sich in wenigen Grundregeln für den Umgang der Generationen miteinander beschreiben läßt und einerseits durch die kulturellen Traditionen, andererseits durch die Anforderungen des vorherrschenden ökonomischen Systems gestützt wird; dieser Habitus generiert seinerseits die Ziele des pädagogischen Handelns, die Formen der Institutionalisierung und die Formen der Interaktion einschließlich der verwendeten Interaktionsmittel; er
    definiert
    mithin das, was innerhalb einer Kultur/Gesellschaft als
    pädagogische Interaktion
    gilt.

2 Der Versuch einer
Kritischen Didaktik

2.0 Zum Terminus
Didaktik

[V48:138] Didaktik ist ein nicht sehr scharf umgrenzter Begriff. Seine Reichweite variiert. In der Regel umfaßt er Fragen im Bereich der Ziele und Inhalte, der Methoden und Medien des Lehrens und Lernens. Beinahe synonym mit dem Begriff Didaktik ist der des Curriculums. Er hat heute z.T. den der Didaktik verdrängt. Der Begriff Curriculum ist in seiner heutigen Verwendung aus dem angloamerikanischen Sprachgebrauch übernommen und seit 1967 durch Robinsohn in der BRD in die Diskussion eingeführt worden. Wenn es einen Unterschied gibt zwischen dem Begriff Didaktik und dem Begriff Curriculum, dann ist es einer des Akzentes. Vielleicht kann man sagen, daß mit der Einführung des Curriculumbegriffs ein bestimmter Aspekt betont wird, unter dem die bisher unter dem Stichwort Didaktik behandelten Fragen gesehen werden, der Aspekt der mit wissenschaftlichen Instrumenten durchgeführten oder unterstützten Planung und Kontrolle von Lehr- und Lernprozessen. (s. W. Klafki: Curriculum – Didaktik, in: Wörterbuch der Erziehung, hrsg. von Chr. Wulf, München 1974, S. 117 ff.).
|B 25|
[V48:139] Beide Termini verweisen auf die konstruktive Dimension der pädagogischen Tätigkeit. Insofern Erziehung einen Vorgriff auf die Zukunft, mindestens auf die näheste Zukunft des je konkreten Kindes, auf das, was es heute und morgen lernen kann, enthält, verlangt sie Planung und Konstruktion. Im folgenden soll die besondere Position der
Kritischen Didaktik
wie sie vor allem von Blankertz und Lenzen vertreten wird, dargestellt werden, und zwar durch eine Reihe von Abgrenzungen.

2.1 Kritische Didaktik – 1. Abgrenzung

[V48:140] Die Aufgabe der Planung und Konstruktion pädagogischer Angebote und Maßnahmen wäre einfach zu lösen, wenn man sich dabei verlassen könnte auf die überlieferten Regeln und Anweisungen für die Gestaltung des Unterrichts. Die kritische Didaktik hat das Vertrauen in diese tradierten und
bewährten
Regeln und Anweisungen verloren. Sie setzt sich ausdrücklich ab von jenen Erfahrungen, die erst zu einem
Schatz
verklärt und dann zur verbindlichen Norm erhoben werden. Dazu zählt Blankertz:
[V48:141]
alle isolierten, ihrer Voraussetzungen und Begründungen beraubten Vorschriften über Unterrichtsinhalte, Lernschritte und methodische Mittel. Die Kompendien-Literatur zur Unterrichtsvorbereitung, aber auch viele
Handreichungen
für den Unterricht in einzelnen Schulfächern, zumeist mit dem Titel
Fachmethodik
, mitunter auch als
Fachdidaktik
angeboten, sind voller solcher Sätze. Innerhalb der Situation, aus der sie einmal gewonnen wurden, mochten sie wenigstens teilweise berechtigt sein, aber von ihrem Erfahrungsfeld abgelöst als normative Handlungsanweisung vorgetragen, sind sie sinnlos. So lesen wir hinsichtlich der Unterrichtsinhalte beispielsweise, daß das Thema
Feuerwehr
nicht vor dem 4. Schuljahr behandelt werden dürfe, daß lebende Autoren im Deutschunterricht nicht oder nur sparsam zu benutzen seien; auf der gleichen Ebene liegt auch, wenn aus der empirisch experimentellen Tatsachenfeststellung, daß mit Hilfe des programmierten Unterrichts zweijährige Kinder erfolgreich im Lesen und Schreibmaschine schreiben unterwiesen werden können, normativ gefolgert wird, nun müsse auch so verfahren werden. Ähnliche Beispiele finden wir für Lernschritte, wenn etwa dem fremdsprachlichen Unterricht die Folge vorgeschrieben wird: Vokabel abfragen – Übersetzen – Extemporieren. Der verbreitetste Tummelplatz normativer Sätze aber ist das Feld der Unterrichtsmethoden, ... Hier |B 26|wollen wir nur auf jene trivialen Forderungen verweisen, die als Ausläufer der normativen Methodenlehre sich zwar nur selten in die Literatur verirren, dafür umso mehr die jungen Lehrer während der praktisch pädagogischen Ausbildung plagen, so etwa, wenn verlangt wird, daß das Unterrichtsthema immer von einem Schüler genannt werden müsse (durch geschicktes Arrangement während des
Einstiegs
) oder daß der Lehrer immer schräg zur Klasse zu stehen – habe (weil er dann alles sehe). Der Dogmatismus solcher Normen ist leicht durchschaubar.
(Blankertz, Theorien und Modelle der Didaktik, 2. Aufl., München 1969, S. 18f.)
[V48:142] Aber nicht nur die
kritische
, sondern alle Positionen der gegenwärtigen Didaktik und Curriculumtheorie, soweit sie Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, haben das Vertrauen in die überlieferten pädagogischen
Erfahrungsschätze
verloren. Deshalb ist es nötig, noch eine weitere Abgrenzung vorzunehmen.

2.2 Kritische Didaktik – 2. Abgrenzung

[V48:143] Die
kritische Didaktik
grenzt sich auch ab von einer Variante der gegenwärtigen Curriculumentwicklung, die man als technologisch charakterisieren könnte. Diese Variante der Curriculumentwicklung ist daran interessiert, die Effektivität der bisherigen Lernmethoden zu erhöhen. Sie konzentriert sich auf die Technik der Steuerung von Lernprozessen. Die Lerngegenstände sollen durch Zerlegung in einzelne aufeinanderfolgende Lernschritte so präsentiert werden, daß das Lernziel sicher und auf dem energiesparendsten Weg erreicht wird. Diese Form der wissenschaftlichen Didaktik begnügt sich damit, die Mittel und Methoden bereitzustellen, damit ein vorgegebenes Lernziel optimal realisiert werden kann. Die Entscheidung aber über die Lehr- und Lernziele selbst und über die Auswahl der Lerngegenstände wird als unwissenschaftlich ausgeklammert und in den Bereich der Weltanschauung verwiesen.
|B 27|
[V48:144] Diese Ausklammerung der Entscheidung über die Lernziele aus dem wissenschaftlichen Diskurs hat die kritische Didaktik nicht mitgemacht. Die wissenschaftliche Begründung nicht nur der Methoden und Verfahren, sondern auch der Zielvorstellungen, war aber auch die erklärte Absicht des gesamten übrigen Teils der curricularen Erneuerungsbewegung in den Jahren der Bildungsreform 1967–73. Deshalb ist es nötig, um die Position der
kritischen Didaktik
zu profilieren, noch eine weitere Abgrenzung vorzunehmen.

2.3 Kritische Didaktik – 3. Abgrenzung

[V48:145] Gegenüber jenem Teil der Curriculumrevision, der sich im Anschluß an das Modell von Robinsohn sowohl der Verfahren und Methoden als auch der Inhalte und Ziele des Lernens und Lehrens annahm, gewinnt die
kritische Didaktik
allmählich über mehrere Stufen ihr eigenes Profil. Die
kritische Didaktik
zeichnet sich aus:
  1. 1.
    [V48:146]
    Durch die Reflexion der gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, in denen es zur Curriculumrevision und dem sie bestimmenden Begriff der Chancengleichheit kommt.
    Nach ihrer Analyse taucht der Begriff der Chancengleichheit auf in einem historischen Augenblick, in dem es im volkswirtschaftlichen Interesse notwendig werden könnte, die durch Bildungsbarrieren bisher an ihrer Entfaltung gehinderten
    Begabungsreserven
    auszuschöpfen.
    Da Lernprozesse in hohem Maße beeinflußbar sind, legte die Theorie des technischen Fortschritts die Möglichkeit nahe, Investitionen im Bildungssektor könnten entscheidend sein, um das volkswirtschaftliche Wachstum zu optimieren. In dem Maße, in dem dahingehende Fragestellungen von der öffentlichen Diskussion aufgegriffen wurden, konzentrierte sich auch das Interesse der Erziehungswissenschaft auf Bildungsplanung und Curriculum-Forschung.
    (Blankertz (Hrsg.) : Curriculumforschung – strategien, strukturierung, konstruktion, Essen 1971, S. 7)
  2. |B 28|
  3. 2.
    [V48:147]
    Durch die Kritik an der Praxisferne der Curriculumentwicklung.
    Die
    Kritische Didaktik
    grenzt sich ab von einem Modell, das Curriculumentwicklung und -implementation zwei zeitlich klar voneinander geschiedenen Phasen und Instanzen zuwies und die Mehrzahl der Lehrer in der Implementationsphase nur als Empfänger und Ausführende betrachtet.
    Eine Auffassung, derzufolge Theoretiker, in unserem Falle also Erziehungswissenschaftler, forschen und dann ihre gesicherten Ergebnisse dem Praktiker, in unserem Falle dem Lehrer, zur Anwendung, allenfalls zur Erprobung zu übergeben hätten, wird von uns abgelehnt. Eine solche Arbeitsteilung müßte den Lehrer zum Vollzugsorgan degradieren, ihn politisch und fachlich entmündigen, während sie den Erziehungswissenschaftler zum bloßen Theoretiker ohne Verantwortung für die praktischen Folgen seines Tuns machte. Demgegenüber gehen wir davon aus, daß nur eine wechselseitige Kommunikation von Erziehungswissenschaftlern und Lehrern eine gemeinsame theoretische Sprache zu erzeugen vermag, in der kritisch auf Unterricht, die ihn leitenden Prinzipien, Normen und Mittel, sowie auf die jeweils getroffenen unterrichtlichen Entscheidungen und den erforderlichen Konsens mit den Lernenden reflektiert werden kann.
    (Blankertz, Die fachdidaktisch orientierte Curriculumforschung und die Entwicklung von Strukturgittern, in: ders., fachdidaktische Curriculumforschung, Essen 1971, S. 16)
    Die Kritik an der Dichotomie von Theoretikern und Praktikern in der Curriculumentwicklung hat zum Gegenkonzept der
    schulnahen Curriculumentwicklung
    und der
    offenen Curricula
    geführt.
  4. 3.
    [V48:148]
    Durch Kritik an der Deduktion von Lerninhalten aus obersten Lernzielen.
    Das Robinsohnsche Modell der Curriculumentwicklung ging aus von der Möglichkeit einer direkten und eindeutigen Zuordnung von gewünschten Qualifikationen und Lerninhalten. Aus obersten allgemeinen Lernzielen sollen Teillernziele und Lerninhalte bis hinunter zu einzelnen Erziehungsmaßnahmen abgeleitet werden, so daß eine geschlossene Deduktionskette entsteht, die angibt, wie |B 29|die Wirklichkeit des Unterrichts aussehen soll. Aber die lückenlose Deduktion erwies sich als Schein. Es zeigte sich bei jedem konkreten Versuch, daß die Deduktion nicht funktioniert. Gleichgültig wie die obersten Lernziele formuliert oder zustande gekommen waren, die Ableitung didaktischer Arrangements daraus ist nie restlos gelungen:
    • Innerhalb eines obersten Lernzieles konnten verschiedene, ja geradezu gegensätzlich didaktische Konzeptionen realisiert werden.
    • Einander entgegengesetzte und konkurrierende Lernziele allgemeinster Art konnten sich in ähnlichen, vielleicht gleichen didaktischen Konzepten realisieren.
[V48:149] Den direkten Ableitungszusammenhang von Allgemeinen Lernzielen und Lernarrangement hat die Münsteraner Gruppe um Blankertz vielleicht zuerst in Zweifel gezogen. Sie problematisierte die
Deduktionshypothese
. Statt durch Ableitung aus obersten Lernzielen sollten die inhaltliche Konkretisierung eines Lerngeschehens durch ein
Strukturgitter
ermöglicht werden. Darunter verstanden sie
regulative Kriterien
(Blankertz, Fachdidaktische Curriculumforschung, S. 12)
, durch die nach Maßgabe der pädagogischen Absicht die gesellschaftliche Realität in didaktische Elemente übersetzt werden konnte.
[V48:150]
Es handelt sich um Kriterienkomplexe, mit deren Hilfe vorgegebene inhaltlich bestimmte Zumutungen zu Lerngegenständen, zu Unterrichtsinhalten strukturiert und qualifiziert werden, weithin auch vorliegende komplexe Unterrichtsinhalte (Unterricht, Lehrbücher, Richtlinien usw.) beurteilt und mit Bestimmtheit kritisiert werden können. Strukturgitter leisten also das, was früher ein einziges, in seinen Aspekten schwer durchschaubares Auswahl- und Konstitutionskriterium, nämlich
Bildung
leisten sollte. Ihm gegenüber haben Strukturgitter jedoch Vorzüge: Einerseits sind sie auf den jeweiligen Unterrichtsbereich hin differenziert und implizieren die jeweilige wissenschaftsdidaktische Fachstruktur, andererseits legen sie ihre normativen Voraussetzungen ausdrücklich offen, während sich im Bildungsbegriff bis in die heutige Zeit unausgewiesene Ideologien konservieren konnten. Didaktische Strukturgitter sind also weder Lerninhalte noch Lernziele, sondern Kriterien für deren Beurteilung in analytischer und konstruktiver Absicht.
(Blankertz a.a.O., S. 20)
|B 30|

2.4 Kritische Didaktik – 4. Abgrenzung

[V48:151] In Blankertz Modell der Curriculumkonstruktion durch
Strukturgitter
bleibt das lernende Subjekt in auffälliger Weise unberücksichtigt. In seinem Arbeitslehrecurriculum kommen die Lernenden nicht vor als Beteiligte an der Planung ihres eigenen Lernprozesses. Erst Lenzen hat mit seiner Fassung einer kritischen Didaktik auch noch diesen
unkritischen
Rest in Blankertz’ Theorie beseitigt. Lenzen stellt dann auch an den Anfang seiner Erörterungen die Reflexion auf den kindlichen Lernvorgang. Lenzen geht aus von einer Unterscheidung, die sich schon in anderen theoretischen Zusammenhängen, in den verschiedenen Richtungen des Strukturalismus und in ihrem Gefolge in den Theorien von Chomsky und Habermas als sehr nützlich erwiesen hat, die Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstrukturen. Oberflächenstrukturen nennt Lenzen die gegenständlichen und sozialen Gegebenheiten der menschlichen Umwelt. Tiefenstruktur nennt er die im weitesten Sinne kognitive Organisation des Menschen. Das Verhältnis zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur ist für ihn ein Verhältnis wechselseitiger Determination. Lenzen beschreibt es als einen Transformationsprozeß in beide Richtungen, von Tiefenstrukturen in Oberflächenstrukturen und umgekehrt. Die Annahme einer universalen Tiefenstruktur, die selber nicht mehr determiniert ist, also a priori existiert, muß ihm deshalb als eine
Verkürzung
erscheinen. Er sieht in ihr das Ergebnis einer ahistorischen Verfahrensweise.
[V48:152]
Dem historischen Charakter der sozialen Verhältnisse wird man nur gerecht, wenn man nicht allein davon ausgeht, daß die Oberflächenstrukturen subjektive Hervorbringungen auf der Basis (universaler) Tiefenstrukturen, sondern, daß diese Tiefenstrukturen selbst noch Resultate der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Entwicklung sind.
(Lenzen, D.: Didaktik und Kommunikation, Frankfurt/M. 1973, S. 21/22)
|B 31|
[V48:153] Die Transformation von Tiefenstrukturen in Oberflächenstrukturen nennt Lenzen
Handeln
. Das menschliche Individuum handelt, indem es Tiefenstrukturen in Oberflächenstrukturen transformiert. Dadurch wird Realität erzeugt und verändert. Handeln ist der Name für einen Prozeß der Konstruktion und Rekonstruktion äußerer Wirklichkeit. Die umgekehrte Transformation von Oberflächenstrukturen in Tiefenstrukturen nennt Lenzen
Lernen
. Das menschliche Individuum lernt, indem es Oberflächenstrukturen in Tiefenstrukturen transformiert. Dadurch werden kognitive Strukturen erzeugt und verändert. Lernen ist dann der Name für einen Prozeß der Konstruktion und Rekonstruktion innerer Wirklichkeit.
[V48:154] Es ist nicht schwer, in diesen Formulierungen den Erkenntnisbegriff wiederzufinden, den wir schon in der ersten Studieneinheit als ein Charakteristikum der Kritischen Theorie dargestellt haben. Schon für die Vertreter der frühen Kritischen Theorie, also vor allem Horkheimer, bestand Erkenntnis nicht nur in einem Vorgang der Konstruktion von Wirklichkeit nach
Maßgabe der Kategorien des denkenden Subjekts
(vgl. 1. Studieneinheit S. 61), seiner Tiefenstruktur, und auch nicht bloß in der Abbildung der Vorgefundenen, sinnlich wahrnehmbaren Welt, seiner Oberflächenstruktur, sondern in ihrer wechselseitigen Vermittlung. Die Veränderung der Oberflächenstruktur und die Veränderung der Tiefenstruktur waren für Horkheimer Momente eines einzigen Geschehens. Im Erkenntnisprozeß verändert das Subjekt die Wirklichkeit genauso wie sich selbst. Es konstituiert sich, indem es sich die soziale und gegenständliche Realität, die es vorfindet, produktiv aneignet. An diesem Erkenntnisbegriff der Kritischen Theorie knüpft Lenzen an, auch wenn er sich nicht ausdrücklich darauf beruft. Seine Überlegungen zum Verhältnis von Oberflächenstrukturen und Tiefenstrukturen bringen eigentlich nur eine andere sprachliche Fassung dessen, was man auch bei Horkheimer über den Erkenntnisvorgang schon lesen konnte.
|B 32|
[V48:155] Die Übereinstimmungen der Konzeption von Lenzen mit der Kritischen Theorie gehen aber noch weiter. Die Oberflächenstruktur, also die soziale und gegenständliche Wirklichkeit, der sich das Subjekt gegenübersieht, ist nämlich nicht nur determiniert durch seine
transformative Aktivität
, sondern auch durch den gesamten historischen und gesellschaftlichen Prozeß. Die Oberflächenstrukturen sind nicht nur das Ergebnis der generierenden Tätigkeit eines Subjekts, sondern der aller Gesellschaftsmitglieder, samt deren Verfahren. Diese Erkenntnis, die Lenzen eher beiläufig ausspricht, hatte schon Horkheimer in eine sprachliche Fassung gebracht, die wir bereits in der zweiten Kurseinheit zitierten:
[V48:156]
Die Tatsachen, welche uns die Sinne zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert. Durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.
(Horkheimer, M.: Kritische Theorie. Frankfurt 1968, S. 148)
[V48:157] Geschichtlich ist der Charakter des wahrnehmenden Organs, oder in der Terminologie von Lenzen, der Tiefenstruktur, weil sie selber das Ergebnis einer Transformation aus der Oberflächenstruktur ist. Geschichtlich ist der Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes, der Oberflächenstruktur, weil er zusätzlich zu der wahrnehmenden Aktivität des einzelnen Subjekts, durch die er konstituiert wird, schon konstituiert ist durch die Aktivität aller anderen. Die Umwelt, der das lernende Subjekt sich gegenübersieht und die es als handelndes hervorbringt, ist unabhängig von ihm immer schon, wie Lenzen es ausdrückt,
fremdstrukturiert
(Dieter Lenzen, a.a.O. S. 76)
. Das gilt in besonderem Maße für die Umwelt, die man Unterricht nennt und der Lenzen vor allem seine Aufmerksamkeit widmet. Der Unterricht ist
fremdkonstituiert
sowohl durch die gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt, unter denen er stattfindet, als auch auf
mikrodidaktischer Ebene
durch die besondere Tätigkeit des Lehrers. Der Lehrer schafft erst, wenn auch nicht allein, sondern nur als letzter in einer langen Kette, die Umwelt, die das lernende Subjekt dann in seine Tiefenstruktur übersetzt. Bei der Einrichtung eines Lernfeldes |B 33|nimmt der Lehrer zweierlei Transformationen vor: Er transformiert
  • [V48:158] die Oberflächenstrukturen der gesellschaftlichen Realität und
  • [V48:159] die von den Schülern selbst hervorgebrachten Oberflächenstrukturen, ihre Unterrichtsbeiträge,
[V48:160] in Unterrichtsstrukturen, und zwar auf dem Umweg über seine eigene kognitive Struktur. Der Lehrer analysiert die gesellschaftliche Wirklichkeit, und er versteht die Äußerungen der Schüler und zieht daraus bestimmte Konsequenzen für seine weiteren Unterrichtshandlungen. Indem Lenzen den Lehrer betrachtet als einen, der nicht nur die Oberflächenstruktur der gesellschaftlichen Realität in Unterrichtsstrukturen transformiert, sondern auch noch die Schüleräußerungen, lenkt er den Blick über den die Lernprozesse steuernden Lehrer hinweg auf den Schüler, der im Unterrichtsgeschehen
selber handelt und – handelnd – lernt.
(Dieter Lenzen, a.a.O. S. 131)
. Lenzen hat vielleicht unter allen Vertretern einer
kritischen Didaktik
am konsequentesten und nachdrücklichsten die konstitutive Rolle der Schüleraktivität für das Unterrichtsgeschehen herausgestellt. Unmißverständlich, wenn auch ein bißchen widersprüchlich, formuliert er:
[V48:161]
Unterricht ist nicht ... ein Generat eindimensionaler Lehrertransformation, sondern zum gleichen Teil auch das Resultat von Schülerhandlungen (und das u.U. sogar in erheblich höherem Maße).
(Lenzen, D.: a.a.O. S. 132)
[V48:162] Wenn an der Entstehung des Unterrichts der Lehrer wie auch der Schüler zu wie auch immer mehr oder weniger gleichen Teilen beteiligt sind, dann liegt es nahe, das unterrichtliche Geschehen als ein kommunikatives Geschehen zu begreifen.
[V48:163] Der aktive Beitrag der Schüler an diesem kommunikativen Gesehen kann bisweilen Formen annehmen, die es schwer machen, ihn überhaupt zu erkennen. Ein alltägliches Bei|B 34|spiel, das aus nur drei kommunikativen Einheiten besteht, soll das veranschaulichen.
[V48:164] Der Lehrer steht vor der Klasse. Sie ist imBeispiel 4. Schuljahr. Vorausgegangen ist eine Exkursion zum Güterbahnhof.
[V48:165] Lehrer:
Als wir in der vergangenen Woche am Güterbahnhof waren, haben wir allerlei gesehen. Wir wollen nun darüber nachdenken, was wir gesehen haben.

Klasse: schweigt
Lehrer:
Frank, erzähl du einmal!
[V48:166a] Der Verlauf dieser kurzen Unterrichtssequenz scheint auf den ersten Blick ganz und gar ausschließlich durch den Lehrer bestimmt. Seine Aufforderung an die Klasse über die gemeinsame Exkursion nachzudenken, ist das Ergebnis seiner Transformation aus der Oberflächenstruktur
Besuch im Güterbahnhof
zu einem Bestandteil des Unterrichts. Die Lehreraufforderung wird von den Schülern wörtlich verstanden, d.h. in ihre Tiefenstruktur übersetzt und befolgt. Die Schüler schweigen und denken nach, wie es der Lehrer will. Sie nehmen keinen Einfluß auf das Geschehen. Selbst der Zeitpunkt, an dem sie mit dem Nachdenken aufhören sollen, wird vom Lehrer festgelegt. Er entscheidet darüber, wer von ihnen mit dem Erzählen beginnt.
[V48:166b] Auf den zweiten, vielleicht etwas genaueren Blick, nimmt man aber auch noch etwas anderes wahr. Der Ablauf der Szene bestimmt jetzt nicht mehr nur der Lehrer, sondern ihn bestimmen auch die Schüler, und zwar zu einem nicht unbeträchtlichen Teil. Sie verstehen die Äußerung:
Wir wollen nun darüber nachdenken ...
nicht wörtlich, sondern so wie sie gemeint war, als Aufforderung nämlich zum Erzählen. In ihrer Reaktion geben die Schüler dem Lehrer zu erkennen, daß sie mit seiner indirekten Ausdrucksweise nicht zufrieden sind. Durch ihr beharrliches Schweigen zwingen sie ihn das Wort
nachdenken
durch
erzählen
zu ersetzen, die Unterstellung
Wir wollen ...
zu vermeiden und eine bestimmte Person anzusprechen.
|B 35|
[V48:166c] Die Schüler belehren den Lehrer darüber, wie man das, was man meint, auch adäquat zum Ausdruck bringt, (vgl. zu dieser Szene Dieter Lenzen, a.a.O. S. 135 .)
[V48:167] Mit der Erkenntnis, daß der Unterricht konstituiert wird durch die aufeinander bezogenen Aktivitäten der Lehrer und Schüler, ist freilich noch nicht viel gewonnen. Die Frage, nach welchen Kriterien der Lehrer seine Transformationen vornehmen soll, damit eine pädagogisch gerechtfertigte und nicht irgend eine beliebige Kommunikation zustande kommt, bleibt offen. Ein solches Kriterium hätte prinzipiell alle Transformationen von Oberflächenstrukturen in solche der Lernumwelt auf allen Niveaus von der Curriculumplanung bis zur konkreten Lehreraktivität anzuleiten. Es müßte die Auswahl der Inhalte sowohl wie die Art und Weise ihrer Präsentation als Lernumwelt festlegen. Lenzen bezeichnet ein solches Kriterium im Anschluß an den Sprachgebrauch der Münsteraner Gruppe um Blankertz als
didaktisches Strukturgitter
. Bei seinem Versuch, ein solches
didaktisches Strukturgitter
zu konstruieren und die Konstruktion zu begründen. wird erneut die Nähe seiner Überlegungen zur
Kritischen Theorie
deutlich. Das von ihm konstruierte didaktische Kriterium erhebt nämlich den Anspruch,
[V48:168]
für die zu erziehende Generation und damit für die Zukunft einer Gesellschaft Partei zu nehmen im Sinne der Realisierung des guten Lebens.
(Lenzen, D.: a.a.O. S. 124)
[V48:169] Das
didaktische Strukturgitter
ist orientiert am
emanzipatorischen Interesse des Lerners
(Dieter Lenzen, a.a.O. S. 78)
: Es soll eine Lernumwelt schaffen helfen, die es dem Lernenden erlaubt, jene kognitiven Strukturen aufzubauen, die er braucht, um als mündiges Subjekt handeln und sich äußern zu können. Man kann auch sagen: das
didaktische Strukturgitter
soll nach Maßgabe der antizipierten kognitiven Struktur eines mündigen Subjekts die Transformation von Oberflächenstrukturen in Unterrichtsstrukturen ermöglichen. An der antizipierten kognitiven Struktur eines mündigen Subjekts unterscheidet Lenzen im Anschluß u. a. an |B 36|Habermas die moralische, operative und kommunikative Kompetenz. Alle drei idealen Kompetenzen können nur erworben werden in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität. An dieser muß sich die Konstruktion eines
didaktischen Strukturgitters
genauso orientieren wie an den antizipierten Kompetenzen eines mündigen Subjekts. Lenzen gliedert dann auch die soziale Realität, wiederum im Anschluß an Habermas, nach den drei Medien, durch die sich diesem zufolge das gesellschaftliche Leben konstituiert: Arbeit, Sprache, Herrschaft. Diese drei Medien und die drei antizipierten idealen Kompetenzen bilden die Eckpfeiler des
didaktischen Strukturgitters
. Lenzen differenziert diese Kategorien noch weiter bis hinunter zum konkreten Vorschlag eines
didaktischen Strukturgitters
für den Unterricht in der Primärsprache. Ob ihm dies wirklich gelungen ist, wollen wir jetzt nicht weiter verfolgen. Es genügt uns, die Verbindung seiner Überlegungen zur Kritischen Theorie angedeutet zu haben.
|B 37|

3 Methodologie einer kritischen Erziehungswissenschaft

[V48:170] Bereits in den ersten beiden Studienbriefen haben wir uns mit Fragen befaßt, die im weitesten Sinn der Methodologie zuzurechnen sind: Waren es zunächst erkenntnistheoretische Postulate, die wir im Anschluß an Max Horkheimers sozialphilosophische Studien dargestellt haben (I.3.2), so waren es dann die Komponenten konkreter Forschungsarbeit, die wir am Beispiel der von Jürgen Habermas u.a. durchgeführten Untersuchung
Student und Politik
zu erarbeiten suchten. Dabei stellten wir fest, daß entsprechend den erkenntnistheoretischen Postulaten der Kritischen Theorie die philosophische Reflexion der Begriffe, die geschichtliche Bestimmung des Gegenstandes und die empirische Kontrolle als Momente kritischer sozialwissenschaftlicher Forschung ineinandergreifen.
[V48:171] In dieser Studieneinheit stellen wir die Frage von der Pädagogik her: Gibt es eine spezifisch erziehungswissenschaftliche Methodologie, die in der Wahl und Begründung ihrer methodologischen Regeln dem emanzipatorischen Anspruch der Kritischen Theorie nachkommt? Oder, anders ausgedrückt: gibt es eine Methodologie, die es erlaubt, Erziehungswissenschaft als kritische Sozialwissenschaft zu konzipieren und zugleich der Besonderheit von Erziehungsprozessen und -verhältnissen als dem Mittelpunkt ihrer Forschung Rechnung zu tragen?
[V48:172] Da die Erziehungswissenschaftler, die der Pädagogik der Kritischen Theorie zugerechnet werden, sich vor allem auf die neueren erkenntnistheoretischen und methodologischen Überlegungen von Habermas stützen, beginnen wir unsere Darstellung mit diesen.
|B 38|

3.1 Die Interessengebundenheit wissenschaftlicher Theorie (Habermas)

[V48:186] Bei der Erläuterung der erkenntniskritischen Position Horkheimers (in der zweiten Kurseinheit) wiesen wir schon darauf hin, daß dort der Erkenntnisprozeß so verstanden wird, daß er immer in irgendeiner Weise an gesellschaftliche Interessen gebunden sei. Dieser Gedanke nun wurde von J. Habermas aufgegriffen und in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Frankfurt im Jahre 1965 (Erkenntnis und Interesse, in: J. Habermas, Technik und Wissenschaft als
Ideologie
, Frankfurt/M. 1968, S. 146–168) genauer entfaltet:
[V48:187] Habermas beginnt mit einer kurzen Skizze einiger Positionen der abendländischen Philosophie. Er hebt dabei insbesondere die These der klassischen griechischen Philosophie (vor allem Platon) hervor, daß Theorie praktisch bedeutsam dadurch sei, daß der Philosoph, überhaupt jeder an Erkenntnis interessierte Mensch,
die unsterbliche Ordnung anschaut
, die Ordnung des Kosmos also, und dabei nicht umhin könne,
sich selber dem Maß des Kosmos anzugleichen, ihn in sich nachzubilden
(S. 147)
. Nachdem nun aber, in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft, die Gewißheit dieses Zusammenhanges verloren ging, sei die Vorstellung aufgekommen, Theorie habe mit Praxis, mit den alltäglichen Orientierungen des menschlichen Lebens, nichts gemeinsam (S. 150). Die Frage, die sich Habermas stellt und die schon (eine Generation früher) Horkheimer beschäftigt hatte, ist nun, ob es sich wirklich so verhält. Er diskutiert deshalb die Position eines Philosophen, der sich mit diesem Problem intensiv auseinandergesetzt hatte und – ähnlich wie die griechische Philosophie des Platon – zu der Meinung gelangte, gerade durch die Konzentration des Erkennenden auf nur theoretische Einsichten, eine Kontemplation,
die ihn aus dem Netz der Lebensinteressen befreit
, könne die Theorie
eine handlungsorientierende Bildung
erzeugen
(S. 151)
. Dieser Philosoph ist E. Husserl (1859–1938), der Begründer der
Phänomenologie
. Habermas meint nun, daß dieses Vertrauen auf die
therapeutische Kraft
der reinen Theorie zwar respektabel, nicht aber begründbar sei
(S. 152)
. Müssen wir uns also zufrieden geben mit der (Unentscheidbarkeit der Frage, in welcher Weise und ob überhaupt die Theorie (wissenschaftliche Erkenntis, Philosophie) mit der alltäglichen Lebenspraxis der Menschen verbunden ist? Oder stehen Theorie und Praxis, Erkenntnis und Interesse nicht doch in einem unauflösbaren Zusammenhang?
|B 39|
[V48:188] Habermas wirft damit eine Frage auf, die nicht nur wissenschaftstheoretisch, sondern auch unmittelbar pädagogisch bedeutsam ist. Das zeigt sich in dem Bezug auf den für die griechische Philosophie wichtigen Zusammenhang von Theorie und Bildung des Menschen (Paideia) und in dem prinzipiell zustimmenden Hinweis auf Husserls Hoffnung, durch die
universale wissenschaftliche Vernunft
könne die Menschheit
zu einem von Grund aus neuen Menschentum
gebildet werden
(S. 151 f.)
. Damit nun diese Hoffnung nicht nur behauptet, sondern auch begründet werden kann, müsse geprüft werden, wie denn die Erkenntnistätigkeit des Menschen mit dem Handlungssinn, der der Praxis innewohnt, verbunden sei, ob – nicht nur für die Lebensformen der griechischen Polis, sondern auch für die moderne Zivilisation – so etwas wie ein
erkenntnisleitendes Interesse
ermittelt werden kann.
[V48:189] Die Frage wird nun von Habermas nicht für jede Art von Er kenntnis, für jede Art von Wissenschaft und Philosophie beantwortet, sondern nur für einige, freilich in der modernen Wissenschaft besonders wichtige Konzeptionen wissenschaftlicher Forschung erläutert:
Für drei Kategorien von Forschungsprozessen läßt sich ein spezifischer Zusammenhang von logisch-methodischen Regeln und erkenntnisleitenden Interessen nachweisen
(S. 155)
, nämlich
  1. 1.
    [V48:190] für erfahrungswissenschaftliche Theorien und Verfahren (
    empirisch-analytische Wissenschaften
    ),
  2. 2.
    [V48:191] für solche Theorien und wissenschaftlichen Verfahren, die sich mit dem Sinn menschlicher Handlungen, insbesondere in den verschiedenen Kulturäußerungen in Geschichte und Gegenwart befassen (
    historisch-hermeneutische Wissenschaften
    ), und
  3. 3.
    [V48:192] für solche Theorien und Verfahren, die sich auf das soziale Handeln richten und prüfen,
    wann die theoretischen Aussagen invariante Gesetzmäßigkeiten des sozialen Handelns überhaupt und wann sie ideologisch festgefrorene, im Prinzip aber veränderliche Abhängigkeitsverhältnisse erfassen
    (S: 158)
    (
    systematische Handlungswissenschaften
    ).
|B 40|
[V48:193] Diesen drei Typen oder Klassen von Wissenschaften lassen sich nun je besondere
erkenntnisleitende Interessen
zuordnen, die nicht nur in der Wissenschaft eine Rolle spielen, sondern die bereits im Alltagshandeln der Menschen enthalten sind. Diese Interessen seien – wie Habermas sagt –
transzendental notwendig
(S. 162)
, d.h., es handelt sich um Gesichtspunkte, die vor jeder besonderen Erfahrung mit der Eigentümlichkeit der Gattung Mensch gesetzt sind:
  1. 1.
    [V48:194] Der Mensch muß sein Leben durch Arbeit erhalten, muß also über Natur verfügen können; dazu ist eine Art von Wissen erforderlich, das es gestattet, auf Grund von Kenntnis der Gesetze natürlicher Abläufe Prognosen zu formulieren und Werkzeuge (Techniken) herzustellen. Das darin enthaltene Interesse nennt Habermas das technische Erkenntnisinteresse.
  2. 2.
    [V48:195] Der zweite Wissenstypus entsteht dadurch, daß Menschen ihr Leben nicht nur
    materiell
    sichern; sie brauchen
    eine Orientierung des Handelns unter gemeinsamen Traditionen
    (S. 162)
    , eine Kultur, und das geschieht im Medium der Sprache. Das darin enthaltene Interesse nennt Habermas das praktische Erkenntnisinteresse.
  3. 3.
    [V48:196] Schließlich wird das gesellschaftliche Leben der Menschen immer auch durch Formen der Herrschaft zusammengehalten; das menschliche Individuum muß deshalb sein Bewußtsein als Einzelnes, seine Ich-Identität zu den Normen der Gruppe in Beziehung setzen und – wenigstens der Möglichkeit nach – sich von diesen Normen,
    aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten
    (S. 162)
    lösen können. Das darin enthaltene Interesse nennt Habermas das emanzipatorische Erkenntnisinteresse.
|B 41|
[V48:197] Für die Erziehungswissenschaft ist dieser Gedankengang aus zwei Gründen interessant:
  1. 1.
    [V48:198]
    Er verknüpft den Begriff der Bildung des Menschen mit den Problemen wissenschaftlicher Methode, wirft also die Frage auf, wie der Zusammenhang zwischen den Erkenntnisweisen des Menschen und seiner Lebenspraxis zu denken sei. Diese Frage nun war nicht nur für die griechisch-antike
    Paideia
    von zentraler Bedeutung, sondern auch für jene Autoren, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Grundzüge einer Theorie der Bildung entwarfen und auf Sinn und Methode akademischer Studien bezogen; das waren beispielsweise und vor allem J.G. Fichte, F.W.J. Schelling und F.D. Schleiermacher.
    (Auch heute noch sind diese Schriften nicht nur lesenswert aus historischem Interesse; der historische Abstand ist so groß nicht, daß wir nicht Fragestellungen in ihnen entdecken könnten, die immer noch aktuell sind. Das gilt besonders für Schellings
    Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums
    , Fichtes
    Deduzierter Plan einer in Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt
    , Schleiermachers
    Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn
    und Steffens
    Über die Idee der Universitäten
    . Wir möchten Ihnen die Lektüre dieser Schriften sehr anraten. Besseres ist seitdem über den Zusammenhang von Bildung und Wissenschaft nicht geschrieben worden; Sie sollten das irgendwann einmal lesen, beispielsweise in der Ausgabe: Die Idee der deutschen Universität, hrsg. von E. Anrich, 1956; vgl. dazu auch H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, Reinbek 1963)
  2. 2.
    [V48:199]
    Die Erziehungswissenschaft will die Theorie pädagogischer Handlungen sein. Damit ist sie mit einer Schwierigkeit konfrontiert, die in dem Text von J. Habermas zur Sprache gebracht wird. Welches methodische Fundament soll sie sich suchen? Ist sie die Theorie einer Technik, deshalb dem technologischen Interesse zuzurechnen und nach Art der empirisch-analytischen Wissenschaften zu konstruieren? Ist sie die Theorie sinnvermittelnden Handelns und also den historisch-hermeneutischen Wissenschaften zuzurechnen? Oder ist ihr Gegenstand die Ausbildung einer herrschaftskritischen Ich-Identität, mithin eine Disziplin innerhalb der kriti|B 42|schen Handlungswissenschaften, denen ein emanzipatorisches Interesse innewohnt?
    Die Antwort ist nicht so leicht zu geben, wie es bei raschem Blick auf diese Unterscheidungen scheinen könnte, denn sicher kann man in der Tätigkeit von Eltern, Erziehern und Lehrern alle drei Momente wiederfinden, ohne sogleich sagen zu können, daß dieser Befund nicht rechtens sei.
    Obwohl diese Frage seit Erscheinen der oben referierten Vorlesung von J. Habermas in der Erziehungswissenschaft mit besonderer Heftigkeit diskutiert wurde, sollte man nicht unterschlagen, daß ihre Erörterung eine längere Tradition hat. Falls Sie an dieser Stelle Ihre Kenntnisse vertiefen möchten, ist die Schrift von W. Flitner: Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart, Heidelberg 1957, zu empfehlen. Dort finden Sie auch Hinweise auf den weiteren Kontext von Positionen und Kontroversen in der Vergangenheit.

3.2 Erkenntnisinteresse in der Erziehungswissenschaft: Versuch der Integration von Empirie, Hermeneutik und Ideologiekritik (Klafki)

[V48:200] Anknüpfend an diese Konzeption fundamentaler erkenntnisleitender Interessen entwickelt Wolfgang Klafki sein Programm einer kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft.
[V48:201] Klafki steht hier exemplarisch für die Vertreter einer Theorie der kritischen Pädagogik. Vergleiche als einen ähnlichen Ansatz, der ebenfalls von der Habermas’schen Erkenntnistheorie ausgeht, Wolfgang Lempert, Bildungsforschung und Emanzipation, in: Leistungsprinzip und Emanzipation, S. 510 ff.
[V48:202] Klafki wählt bei seiner Darstellung den Weg eines Durchgangs durch die neuere Theoriegeschichte der Pädagogik, in der er diese Interessen in einseitiger Beschränktheit repräsentiert sieht. So verpflichtete sich die geisteswissenschaftliche Pädagogik dem Ziel, durch Aufklärung über die historischen Entstehungsbedingungen und Lösungsmöglichkeiten von anstehenden pädagogischen Problemen zu einer re|B 43|flektierten erzieherischen Praxis anzuleiten. Formuliert als ein an individueller Emanzipation, nämlich dem Anspruch des Kindes auf Selbstentfaltung orientiertes Interesse, verkürzte es sich im methodischen Vollzug jedoch auf ein
praktisches
Interesse. Geisteswissenschaftliche Pädagogik beschränkte sich weitgehend auf die historisch-hermeneutische Ermittlung der Selbstdeutungen von pädagogischer Theorie und Praxis und verlor dabei die Überprüfung der objektiven Bedingungen und Möglichkeiten von emanzipatorischer Erziehung aus den Augen.
[V48:203]
Es ist die methodische Naivität der geisteswissenschaftlichen Pädagogik im Hinblick auf die Erfassung der jeweils gegenwärtigen Erziehungswirklichkeit, also all der Vorgänge, Institutionen, Faktoren, die den tatsächlichen Ablauf von erzieherischen oder erzieherisch bedeutsamen Prozessen in der jeweiligen Gegenwart ausmachen und bestimmen...
(Klafki, Aspekte kritisch konstruktiver Erziehungswissenschaft, S. 30)
[V48:204] Im Unterschied dazu geht es der erfahrungswissenschaftlichen Pädagogik gerade um die empirische Ermittlung von pädagogischen Sachverhalten, einschließlich der darin eingehenden soziologischen und psychologischen Faktoren, mit dem Ziel einer rationalen Planung von optimalen Lernsituationen. Soweit sie sich dabei allerdings auf den empirischen Nachweis von Gesetzmäßigkeiten beschränkt, ohne die Frage nach der prinzipiellen Veränderbarkeit von Determinationsverhältnissen des Erziehungsgeschehens zu stellen, schließt sie Selbstbestimmung als Begründung für ihre Verfahren aus. Erkenntnisstreben mündet dann in ein
technisches
Erkenntnisinteresse.
[V48:205]
Wenn Erziehungswissenschaft bestimmte Erkenntnisse über gesetzmäßige oder mindestens gesetzartige Zusammenhänge, etwa zwischen der Anwendung bestimmter Übungsmethoden und dem Erfolg beim Behalten oder über den Zusammenhang zwischen bestimmten Organisationsformen des Unterrichts und den sozialen Beziehungen der Schüler, gewonnen hat, so scheint es möglich, in theoretischem Vorentwurf Anwendungssysteme, Technologien des Lehrens oder der Unterrichtsorganisation zu entwickeln und sie in der Praxis als pädagogische Techniken zum Einsatz zu bringen.
(Klafki, a. a. O., S. 37)
|B 44|
[V48:206] Klafki formuliert seine Kritik – in Übereinstimmung mit den Theoremen der kritischen Theorie – aus der Erkenntnis, daß soziales und also auch erzieherisches Handeln und Denken durch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt und ideologisch verzerrt ist, was
[V48:207]
eine aufweisbare, von Interessen bestimmte Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Situation und der in ihr gegebenen Handlungsmöglichkeiten zur Folge
habe.
(Klafki, a.a.O., S. 51)
[V48:208] Demgegenüber macht er folgendes geltend:
[V48:209]
Die konsequente Reflexion auf die Möglichkeit, dem einzelnen wirklich zur Selbstbestimmung, zur Emanzipation, zum Recht auf individuelles Glück zu verhelfen, führt kritische Theorie zu der Einsicht, daß diese Möglichkeit nur in einer entsprechend strukturierten Gesellschaft gegeben ist. Erziehungswissenschaft im Sinn kritischer Theorie muß daher notwendigerweise zur permanenten Gesellschaftskritik werden oder sich mit Gesellschaftskritik verbünden, die an den genannten Prinzipien orientiert ist.
(Klafki, a. a. O., S. 51)
[V48:210] Die Unzulänglichkeiten der geistes- und der erfahrungswissenschaftlichen Pädagogik in der gesellschaftskritischen Dimension sieht Klafki nicht in einer prinzipiellen Unangemessenheit ihrer Methoden gegenüber ihrem Gegenstandsbereich, sondern in der Vereinseitigung ihres methodischen Vorgehens und der Verengung ihrer Fragestellungen.
[V48:211]
Ideologiekritische Dimension von ErziehungswissenschaftPrinzipiell kann die Hermeneutik die ideologiekritische Perspektive durchaus in sich aufnehmen, und sie muß es heute tun...
(Klafki, a. a. O., S. 42)
[V48:212] So entwickelt er das Konzept einer kritischen Erziehungswissenschaft, in der – bestimmt von dem
emanzipatorischen
Interesse an Mündigkeit und Selbstbestimmtheit – Hermeneutik und Empirie aus ihrer Einseitigkeit herausgehoben sind und unter ideologiekritischer Fragestellung arbeitsteilig ineinandergreifen:
|B 45|
[V48:213] Die sinnverstehende Auslegung von gesellschaftlich-geschichtlichen Bedingungen und Theoremen der Erziehung mündet dann ein in empirisch zu überprüfende Fragestellungen; empirisch gewonnene Ergebnisse gewinnen ihren Stellenwert wiederum nur in der hermeneutischen Ermittlung ihrer Bedeutung im Bezugsrahmen gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse. Auf dieser Grundlage erst ist der hypothetische Entwurf und die Planung kritisch-verändernder Erziehungspraxis möglich, die wiederum der empirischen Kontrolle unterworfen sein muß, usw.
[V48:214]
Allgemein ergibt sich also: Die für die Erziehungswissenschaft relativ neuen erfahrungswissenschaftlichen Methoden und die von ihr bereits länger praktizierten historisch-hermeneutischen Methoden schließen einander nicht etwa aus, sondern sind wechselweise aufeinander bezogen. Man kann das Verhältnis als einen ständigen dynamischen Rückkoppelungsprozeß beschreiben: von hermeneutischer Entwicklung der Fragestellungen und Hypothesen zur hermeneutischen Interpretation der so gewonnenen Ergebnisse und zur Herleitung neuer Hypothesen für neue empirische Untersuchungen usf.
(Klafki, a. a. O., S. 36/7)

Aufgabe 3

[V48:215] Stellen Sie sich ein Forschungsvorhaben vor, in dem die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft von Schülern untersucht werden soll. Welche Überlegungen sind in die Untersuchung miteinzubeziehen?
[V48:221] Versuchen Sie dabei insbesondere sich vorzustellen, wie das
technische
, das
praktische
und das
emanzipatorische
Erkenntnisinteresse zur Geltung gebracht werden könnten. Vielleicht haben Sie bereits Ähnlichkeiten mit dem Methoden-Kapitel der zweiten Kurseinheit entdeckt. Es ist nützlich, dort noch einmal nachzulesen.
|B 46|

3.3 Handlungsforschung

3.3.1 Handlungsforschung als kritische Methode

[V48:222] Das Verhältnis von Pädagogik und Kritischer Theorie ist prinzipiell problematisch. Während die Kritische Theorie – zumindest in ihrer ursprünglichen Fassung – sich auf den
besseren Zustand
, den sie will, wesentlich in Form der Kritik am Bestehenden bezieht, gehört es bisher zum Selbstverständnis der Pädagogik als Handlungswissenschaft , daß sie entweder selbst positive Ziele und Mittel der erzieherischen Praxis formuliert oder zumindest das begriffliche und methodische Instrumentarium dafür bereitstellt.
[V48:224] Das deutet sich schon in dem von Klafki gewählten Ausdruck
kritisch-konstruktiv
an. Nicht nur unter dem Eindruck der Kritischen Theorie, sondern auch durch die Hoffnungen, die sich um 1970 (Tätigkeit des Deutschen Bildungsrates, rasche Vermehrung der finanziellen und organisatorischen Ressourcen für die Bildungs- und Erziehungsforschung) im Hinblick auf eine Beteiligung der Wissenschaft an Reformen einstellten, wurde die methodologische Diskussion neu belebt. Der alte Zweifel, ob auch für die Erziehungswissenschaft das Experiment der Königsweg der Forschung sein könne, bekam neue Nahrung; denn nun konnten ja Experimente einem nur
technologischen
Erkenntnisinteresse zugeschlagen werden. Andererseits war unabweislich, daß die Bildungsreform empirisch gewonnenes Wissen benötigte. Aber wie sollte dies gewonnen werden, und zwar so, daß auch dem
praktischen
und dem
emanzipatorischen
Erkenntnisinteresse genüge getan wird?
[V48:225] In dieser Situation wurde – im Rückgriff auf Vorschläge, die schon während des 2. Weltkrieges K. Lewin in den USA gemacht hatte (Die Lösung sozialer Konflikte, Bad Nahueim 1975) – ein Forschungskonzept attraktiv, das Praxisrelevanz und kritische Intentionen zu verbinden versprach: das Konzept der Handlungsforschung oder Aktionsforschung bzw. action research), das empirische Forschung als eingreifende Praxis entwirft.
[V48:226] Dem Handlungsforschungskonzept liegen, soweit wir sehen, drei Motive zugrunde: ein im engeren Sinne methodologisches, ein ethisches und ein politisches:
|B 47|
  1. 1.
    [V48:227] Methodologisches Motiv
    Erziehungswissenschaftliche Forschung hat es aufgrund der Eigenart ihres Gegenstandes zumeist mit
    Sinnhaftem
    – mit Handlungen und Haltungen, mit sozialen Erfahrungen und Beziehungen etc. – zu tun. Sie zielt daher auf Daten, die allein über das Verstehen von Sinn, und zwar von subjektiv gemeintem wie von gesellschaftlich objektiviertem Sinn, zugänglich sind. Der Modus der Erfahrung (Empirie) ist also nicht so sehr die Beobachtung (wie in den Naturwissenschaften), sondern in erster Linie Verständigung über symbolisierte Gehalte (kommunikative Erfahrung). Deshalb muß Forschung als Kommunikationsprozeß zwischen Forschenden und ihren
    Objekten
    methodologisch konstruiert werden.
  2. 2.
    [V48:228] Ethisches Motiv
    Pädagogische Forschung hat ihr Objekt u. a. in sprach-, lern- und reflexionsfähigen Subjekten. Ungerechtfertigt erscheinen deshalb Forschungsverfahren, die im Interesse systematischer Bedingungsvariation diese Tatsache vernachlässigen und die Veränderung von Menschen mit deren Manipulation gleichsetzen. Dagegen wird von der Handlungsforschung postuliert, daß alle am Forschungsprozeß Beteiligten – nicht nur die Forscher, sondern auch ihre
    Objekte
    – diesen als Lern- und Aufklärungschance wahrnehmen können.
  3. 3.
    [V48:229] Politisches Motiv
    Wenn Kommunikation Unabdingbar (Motiv 1) und die Eröffnung von Lernchancen geboten ist (Motiv 2), dann liegt es zumindest nahe, den Forschungsprozeß selbst – und nicht nur die Verwendung seiner Ergebnisse – als
    emanzipatorische Praxis
    aufzufassen und theoretisch wie organisatorisch in den Kontext politischer und sozialer Veränderungsstrategien zu rücken.
[V48:230] Handlungsforschung, besonders Handlungsforschung in kritischer Absicht, hat noch keine lange Tradition. (Wie wir in den beiden ersten Studienbriefen gesehen haben, hat sie in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule so gut wie keine Rolle gespielt). Es gibt darum noch keinen anerkannten Kanon methodologischer Regeln, der z.B. der Methodologie des Experiments äquivalent wäre. Wir müssen uns hier darauf beschränken, einige Orientierungslinien zu ziehen. |B 48|Voll verständlich wird Handlungsforschung erst, wenn sie zusammen mit der vorherrschenden empirisch-analytischen Methodologie und Forschungspraxis gesehen wird, zu deren Ergänzung oder gegen die sie entworfen wurde. Ebenso müssen wir auf die Darstellung von beispiel haften Handlungsforschungsprojekten verzichten. Im folgenden stützen wir uns zunächst auf Beiträge von Wolfgang Klafki, sodann auf die Handlungsforschungskonzeption des Wiesbadener Autorenkollektivs Heinze/Müller/ Stickelmann/Zinneker. Andere Ansätze und Darstellungen, etwa die von Haag et al . (1972) und Moser (1975), müssen unberücksichtigt bleiben.

3.3.2 Handlungsforschung als innovatorische Problemlösung

[V48:231] Auf der Grundlage eigener Erfahrung in einem Marburger Grundschulprojekt hat Klafki mehrfach zum Konzept und zu den Problemen der Handlungsforschung Stellung genommen. (Vgl. die Beiträge in Klafki 1976, S. 57-137). Er charakterisiert dort Handlungsforschung folgendermaßen:
  1. (1)
    [V48:232]
    Handlungsforschung ist in ihrem Erkenntnisinteresse Charakteristik der Handlungsforschungund damit ihren Fragestellungen von Anfang an auf gesellschaftliche bzw. auf pädagogische Praxis bezogen, sie will der Lösung gesellschaftlicher bzw. praktisch-pädagogischer Probleme dienen.
  2. (2)
    [V48:233]
    Handlungsforschung vollzieht sich in direktem Zusammenhang mit den jeweiligen praktischen Lösungsversuchen, denen sie dienen will; sie greift als Forschung unmittelbar – und nicht erst nach vollzogenem Forschungsprozeß, als sog.
    Anwendung
    der Forschungsergebnisse – in die Praxis mit ein, und sie muß sich daher für Rückwirkungen aus dieser von ihr selbst mitbeeinflußten Praxis auf die Fragestellungen und Forschungsmethoden im Forschungsprozeß selbst – und nicht erst in der abschließenden Auswertungsphase im Hinblick auf zukünftige Forschung – offenhalten.
  3. (3)
    [V48:234]
    Handlungsforschung hebt in irgendeinem Grade bewußt und gezielt die Scheidung zwischen Forschern auf der einen und Praktikern in dem betreffenden Aktionsfeld ... auf der anderen Seite auf zugunsten eines möglichst direkten Zusammenwirkens von Forschern und Praktikern im Handlungs- und Forschungsprozeß.
    (Klafki 1976, S. 60)
[V48:235] Wie das Zitat zeigt, sucht Handlungsforschung zwei Momentedes Theorie-Praxis-Verhältnisses zu verändern:
|B 49|
  1. 1.
    [V48:236] Zunächst wird die Arbeitsteilung zwischen Wissenschaftlern und Praktikern; bzw. zwischen Theorie/Forschung einerseits und gesellschaftlicher Praxis andererseits durch die Forschungspraxis selber in Frage gestellt. Dies hat mit Sicherheit den pragmatischen Sinn größerer
    Praxisnähe
    der Forschung (denn eher als die feldfremden Wissenschaftler können die Praktiker angeben, wie sich die pädagogischen Probleme für sie unter den besonderen Bedingungen ihrer Handlungssituation stellen). Praxisnähe allein macht die Forschung allerdings bestenfalls verwertbar, aber noch nicht kritisch. Mit dem Gedanken der Aufhebung der Arbeitsteilung als Moment kritischer Forschung muß sich deshalb eine weitere Intention verwinden: nämlich die der Emanzipation der pädagogischen Praxis aus einem autoritären Verhältnis unmündiger Hörigkeit gegenüber der
    über ihr
    stehenden Wissenschaft. Kritische Handlungsforschung soll darum als über ihre Ziele, Verfahren, Voraussetzungen und Möglichkeiten – organisiert werden.
  2. 2.
    [V48:237]
    Implizit ist damit ein weiteres Moment des Theorie-Praxis-Verhältnisses, nämlich das zugrunde liegende Erkenntnisinteresse, problematisiert. Denn wie kritische Erziehungswissenschaft überhaupt, sucht auch die Handlungsforschung eine auf ein technisches Erkenntnisinteresse reduzierte Konzeption von Erziehung und Erziehungswissenschaft zu überwinden. Sie versucht das dadurch, daß sie die Sinnverständigung, die sozialwissenschaftlicher Erkenntnis als kommunikativer Erfahrung ebenso zugrunde liegt wie der Erziehung als einem kommunikativ vermittelten Bildungsprozeß, systematisch zur Geltung zu bringen sich bemüht. Das bedeutet, daß Forscher und Praktiker sich gemeinsam verständigen
    • über die Handlungsziele im Praxis-Feld (z.B. ob die Verminderung des um Leistungen konkurrierenden Verhaltens von Schülern zugunsten stärker kooperierenden Unterrichtsverhaltens anzustreben sei),
    • |B 50|
    • über die Forschungsziele und ihre Stellung zu den Handlungszielen (z.B. welche Hypothesen dem Handlungsziel dienlich und welche Veränderungen der Praxis daraufhin möglich und zweckmäßig sein könnten),
    • über die Wahl der Forschungsmittel, der Arrangements und einzelnen Forschungstechniken (z.B. ob auf Vergleichsgruppen verzichtet werden könne, standardisierte Beobachtungs- oder Testverfahren nützlich seien, gruppendynamische Verfahren Verwendung finden könnten),
    • über die Auswirkungen, die die einzelnen Forschungsschritte auf das Praxisfeld haben (z.B. Kontroversen im Lehrerkollegium, Verunsicherung von Eltern, Leistungsabfall bei Schülern, Fortbildungsinteressen der Lehrer usw.)
[V48:246] Dies führt, wie Klafki sehr wohl sieht, zu einer methodologischen Komplizierung des Forschungsprozesses. Denn die Auswirkung der im Forschungsprozeß gewonnenen Erkenntnisse auf die Beteiligten (Theoretiker wie Praktiker) sind selbst noch dessen Gegenstand:
[V48:247]
Mit dem Ansatz der Handlungsforschung wird das Verhältnis von Theorie und Praxis, das die Erziehungswissenschaft seit eh und je als eine ihrer Kernfragen beschäftigte, in einer neuartigen Weise aufgeworfen: weil nämlich einesteils der Vollzug der Forschung – die Forschungspraxis – hier, mindestens z.T., als ein Moment der zu erforschenden pädagogischen Praxis auftritt und weil zum anderen die zu erforschende Praxis von Anfang an als eine zu verändernde, und zwar eine unter dem Einfluß der Forschungspraxis zu verändernde betrachtet wird. Handlungsforschung ist also Innovationsforschung, bei der die Forschung in den Innovationsprozeß mit einbezogen wird.
(Klafki, a.a.O., S. 61)
[V48:248] Es wird, um beim letzten Beispiel zu bleiben, nicht nur untersucht, wie ein verändertes Unterrichtsverfahren von Lehrern das Verhalten von Schülern im Hinblick auf Konkurrenz und Kooperation verändert – dies ließe sich im Rahmen des herkömmlichen Feldexperiments ermitteln. Die Handlungsforschung möchte sich an der Veränderung des ganzen Hand|B 51|lungsfeldes beteiligen und bezieht deshalb zwei Reflexionsdimensionen in die Untersuchung ein: zum einen die der Problemformulierung und -bearbeitung, woran alle,
Forscher
und
Erforschte
, zu beteiligen sind; zum anderen die kontinuierliche Verarbeitung der im Projektverlauf gemachten Erfahrungen durch alle Beteiligten, woraus sowohl Kritik der Projektpraxis wie innovatorische Entwürfe resultieren können, die direkt auf die Forschungs-Erziehungs-Praxis zurückwirken.
[V48:250] Wir verstehen die Intention Klafkis so, daß er die Logik einer Forschungspraxis allererst herausfinden (rekonstruieren) möchte, die aus emanzipativ-innovatorischem Engagement traditionelle Forschungsregeln außer Kraft gesetzt hat, ohne schon über eine hinreichend begründete methodologische normative Alternative zu verfügen. Keinesfalls sieht Klafki sich veranlaßt, die empirisch-analytische Methodologie zugunsten der Handlungsforschung als alleiniger Methode erziehungswissenschaftlicher Forschung zu verwerfen (Klafki 1976, S. 62 f.). Man kann deshalb die große Bedeutung, die das Konzept der Handlungsforschung im Rahmen der Kritischen Erziehungswissenschaft gewonnen hat, auch so verstehen, daß mit ihm keine völlig neue Forschungsstrategie entworfen wird. Vielmehr ist sie ein Weg, die von Habermas skizzierten Erkenntnisinteressen (das technische, praktische und emanzipatorische) nicht arbeitsteilig über verschiedene Wissenschaften und Forschungsvorhaben zu verteilen, sondern in einem Forschungsprojekt zusammenzubinden.
|B 52|

3.3.3 Kritik der
kritischen
Handlungsforschung

[V48:279] In der Diskussion zur Handlungsforschung gibt es manche Übertreibungen, die den methodischen Sinn dieses Konzepts überstrapazieren. Problematisch erscheinen vor allem die folgenden Meinungen von Erziehungswissenschaftlern, die versuchen, das Handlungsforschungskonzept radikal zu interpretieren und im strengen Sinne des Wortes als methodologische
Alternative
, die sich aus dem Ansatz der Kritischen Erziehungswissenschaft ergebe, vorzuschlagen.
  1. 1.
    [V48:280]
    Zunächst wird der methodologische
    Gegner
    , die Stilisierungen
    positivistische Sozialforschung
    , so stilisiert, wie es Horkheimer einst mit der
    Traditionellen Theorie
    tat – damals allerdings und in polemischer Absicht zu Recht, weil es galt, überhaupt erst einmal das Problem einer
    kritischen
    Wissenschaft zu skizzieren –:
    Positivistische Sozialforschung zielt auf raum- und zeitunabhängige Gesetzesaussagen über Soziales ab und unterstellt damit eine subjektunabhängige Verfestigung sozialer Struktur. Ihr logisches Handlungskorrelat ist die Technokratie, das heißt die zweckrationale Steuerung des Handelns von Menschen aufgrund der Einsichtnahme in die ermittelten Sozialgesetzlichkeiten.
    (Heinze et al., S. 21)
    Diese Form der Behauptung enthält zwar in dieser allgemeinen Form etwas Zutreffendes, trifft aber die Erziehungs- und Bildungsforschung nur in (quantitativ) unbedeutenden Teilen. Vor allem aber nimmt sie nicht zur Kenntnis, was – über Horkheimer hinaus – inzwischen über verschiedene Erkenntnisinteressen und ihr Verhältnis zueinander gedacht worden ist.
  2. 2.
    [V48:281]
    Gelegentlich scheint es, als würden Vertreter der Handlungsforschung nicht nur bestimmte Forschungstraditionen, sondern Forschung überhaupt verwerfen, und zwar zugunsten eines aufgeklärten Gesprächs zwischen Forschern und Praktikern.
    Es
    gilt, die positional, situativ und personal vermittelten Differenzen in der Verdinglichung des Bewußtseins von Untersuchenden und Untersuchten durch gezielte Konfrontation zur wechselseitigen Auslösung von Lernprozessen – diese verstanden als Entdinglichung des Alltagsbewußtseins und -handelns – zu verwenden.
    (S. 36)
    Eine derartige
    Entdinglichung
    – also offenbar doch das, was Habermas als Ideologiekritik dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse und dessen theoretischen und methodischen Prozeduren zugerechnet hat – soll u.a. dadurch herbeigeführt werden, daß die Forscher nicht nur
    die Sinndeutung, die die Praktiker einer sozialen Lebenswelt geben
    (Heinze u.a., S. 42)
    in den Forschungsprozeß als ein Moment unter anderen aufnehmen, sondern sich gleichsamvon den universalistischen Orientierungen der Wissenschafts- gemeinschaft zu verabschieden.
    Dafür tauschen sie einiges von der lokaleren, an das Handeln im konkreten Praxisfeld gebundenen Gesinnung ihrer neuen sozialen Bezugsgruppe ein.
    a. a. O., (S. 69)
    Eine solche Maxime, wenn sie mehr beinhalten soll als den Hinweis darauf, daß die Handlungsforschung auch den Dialog mit den Praktikern will, ist in der Konsequenz eine Preisgabe von begrifflich angestrengter Theorie überhaupt und hat mit der
    Kritischen Theorie
    nichts mehr zu tun. Unmittelbares Betreiben von praktischer Veränderung eines Feldes, aufklärende Unterhaltungen und Übernahme von
    Gesinnungen
    muß von theoretisch relevanter Erhebung von Daten streng unterschieden werden. Deshalb warnte Habermas schon bei Beginn dieser methodischen Entwicklung:
    Die modischen Forderungen nach einem Typus von action research, der Erhebung mit politischer Aufklärung verbinden soll, übersehen den auch für Sozialwissenschaften geltenden Umstand, daß eine unkontrollierte Veränderung des Feldes mit der gleichzeitigen Erhebung von Daten im Feld unvereinbar ist.
    (J. HABERMAS: Theorie und Praxis. Einleitung zur Neuausgabe 1971, S. 18)
  3. 3.
    [V48:282]
    Die empfohlene Abkehr vom wissenschaftlichen Universalismus enthält noch eine weitere, für erziehungswissenschaftliche Methodologie fundamentale Komponente:
    Kriterien wie Gültigkeit, Kontrolle, Generalisierungsfähigkeit, Prognostizierbarkeit von forschungsleitenden Hypothesen und Aussagesystemenwerden hinfällig bzw.|B 54|müssen reformiert werden
    (Heinze u.a., S. 57)
    ; oder an die Stelle der Forderung nach Objektivität der Forschungsprozeduren, nach Genauigkeit der Operationen bei der Datenerhebung (Reliabilität), nach Übereinstimmung der Forschungsoperationen mit dem Gemeinten (Validität) soll beispielsweise
    Stimmigkeit
    (Vereinbarkeit von Zielen und Methoden der Forschungsarbeit) oder
    Transparenz
    (Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses für alle Beteiligten) treten (H. Moser, Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften, München 1975, S. 117 ff.).
    Derartige Empfehlungen sind nicht nur nachlässig. Sie geben in der Tendenz die Kriterien für zuverlässige Informationen preis. Auch im Alltagsleben gilt, daß eine Information um so zuverlässiger ist, je mehr Einigkeit im Hinblick auf den Gegenstand besteht, über den informiert werden soll (Validität); je mehr die Wahrnehmungen, Beobachtungen, Erfahrungen, auf die die Gesprächspartner sich berufen, von anderen nachvollzogen werden können (Objektivität) und je genauer die Beobachtungen usw. sind (Reliabilität). Wir sehen nicht, welche Gründe geltend gemacht werden könnten, diese Anforderungen fallen zu lassen.
[V48:283] Auch die Handlungsforschung, sofern sie Forschung sein will, ist nur möglich, wenn sie sich auf Theorien stützt, deren Zuverlässigkeit prüfbar sein muß und die während eines Forschungsprojektes nicht beliebig aufgegeben werden dürfen. Hier ist besondere Strenge gerade im Interesse der kritischen Erziehungswissenschaft zu fordern. Die teils komplizierten Theorien über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeitsstruktur, Interaktion und Sozialisation, Lernen und Handeln, Geschichte und gesellschaftlicher Formierung von Bildungsprozessen usw. können nur aufrechterhalten bzw. modifiziert werden, wenn die Hinweise auf
emanzipatorisches Interesse
nicht zur Ausrede für begriffliche und methodische Nachlässigkeit geraten. Nur dann wird die Handlungsforschung ein respektables Instrument der Erziehungswissenschaft sein können.
Aufgabe 4
  1. 1.
    [V48:284] Lesen Sie den Text von Wolfgang Klafki:
    Schulnahe Curriculumentwicklung in Form von Handlungsforschung
    (In Klafki 1976, S. 117-137)
  2. 2.
    [V48:285] Erläutern Sie die spezifische Aufgabe, die der Handlungsforschung bei der Entwicklung schulnaher Curricula zugeordnet wird!
  3. 3.
    [V48:286] Charakterisieren Sie die Rolle des Lehrers unter dem Gesichtspunkt der Qualifikationen, die ihm abgefordert werden! Überlegen Sie, ob die Qualifikationen, die Sie durch Ihr gegenwärtiges Studium voraussichtlich erwerben, diesen Ansprüchen genügen!
  4. 4.
    [V48:287] Charakterisieren Sie das Konzept des
    schulnahen Curriculums
    , wie es von Klafki vorgestellt wird! Beurteilen Sie es anhand der vier Abgrenzungskriterien einer
    kritischen Didaktik
    .